ed 02/2015 : caiman.de

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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Siebenundzwanzigste Etappe: Galizien – Begegnungen mit einer Duschkönigin und einer Berufspilgerin
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


peru: Fiesta de la Virgen de la Candelaria
JUTTA ULMER / MICHAEL WOLFSTEINER
[art. 2]
panama: Zu Besuch auf der Forschungsinsel Barro Colorado
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 3]
spanien: Mallorca im Winter (Bildergalerie Teil 1)
Cala Figuera und Parc Natural Mondragó
DIRK KLAIBER
[art. 4]
erlesen: Graciela Paraskevaídis und Coriún Aharonián
Eine Hommage an zwei lateinamerikanische Ausnahme-Komponisten und Musikwissenschaftler
TORSTEN EßER
[kol. 1]
helden brasiliens: Help, I need sambare
O Bloco do Sargento Pimenta é -> Beatles + Ritmo Brasileiro
THOMAS MILZ
[kol. 2]
pancho: Farbenschmaus
CAMILA UZQUIANO
[kol. 3]
lauschrausch: Nicht nur andine... Musik aus Peru
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappen [27] [26] [25] [24] [23] [22] [21] [20] [19] [18] [17] [16] [15] [14] [13] [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Siebenundzwanzigstes Etappe: Galizien - Begegnungen mit einer Duschkönigin und einer Berufspilgerin
 
27. Juni 2013. Nach den heftigen Bergetappen der letzten Tage lassen wir es heute ruhig angehen und beginnen den Pilgertag ausnahmsweise mal sehr spät. Erst kurz nach acht Uhr brechen wir auf und lassen Triacastela hinter uns. Der Weg führt uns vor allem durch dunkle Wälder und obwohl es seit Tagen in Galizien nicht geregnet hat (eine Seltenheit in einer der regenreichsten Regionen Europas) sind die Waldwege sehr matschig, das Rutschrisiko entsprechend hoch. Wir müssen unser Marschtempo also drosseln, um nicht der Länge nach in diesem schwarzbraunen Morast zu landen. Die Konsistenz und der Geruch dieses Schlamms sind so beschaffen, dass man sich ihm nicht unnötig nähern will, denn er ist vermischt mit Jauche und großen Mengen an Kuhfladen. Bald folgt ein unerfreulich steiler Aufstieg durch finsteren Wald zum Dörfchen San Xil und die gestrigen Worte Cayetanas klingen mir in den Ohren: "…garantiert geht es nach der nächsten Kurve schon wieder steil bergauf!"

Als wir ins Dorf einbiegen, beklagt sich meine heute wieder etwas quengelige Begleiterin aber nicht über den steilen Waldweg, sondern über ein anderes Phänomen, das den Camino durch Galizien prägt: "Ständig muss ich nach unten gucken, um nicht in diesen Teppich aus Kuhmist zu treten – wie soll ich da noch auf die Schönheit der Landschaft achten?" Tatsächlich haben an fast jedem galizischen Dorfeingang Blumengärten und rankende Heckenrosen kaum eine Chance gegen den penetrant melancholischen Duft der allgegenwärtigen Kuhabsonderungen, der über allem wabert. An vielen Stellen präsentiert sich der Camino hier wie ein Mosaik aus frischen, dunklen Kuhfladen gesprenkelt auf längst getrocknetem, hellem Kuhdung.

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Irgendwo zwischen den Weilern Montán und Pintín stürmt plötzlich eine Invasion den stillen Wald. Ein Dutzend spanischer Schulklassen verfolgt uns. Man merkt den Teenagern an, dass sie nicht schon seit Wochen, sondern wahrscheinlich erst seit heute morgen unterwegs sind (viele spanische Jugendgruppen gehen nur den galizischen Teil des Camino). Entsprechend ausgeruht laufen sie lärmend an uns vorbei. Cayetana ist genervt über die Ruhestörung und beschuldigt die Jugendlichen, die nur etwa sieben Jahre jünger sind als sie selbst, der fehlenden Ernsthaftigkeit. Ich fühle mich berufen, die Nachwuchs-Pilger in Schutz zu nehmen: "Immerhin tragen sie auch dazu bei, dass diese Tradition nicht stirbt… und selbst wenn für sie das Ganze im Moment nur eine spaßige Schnitzeljagd durch den Wald ist, irgendwas wird schon hängen bleiben vom Camino-Gefühl."

In diesem Moment gesellt sich Juan, ein schwarzgelockter Neunzehnjähriger mit Camino-T-Shirt (gelber Pfeil auf blauem Grund) zu uns und entpuppt sich als Leiter einer Jugendgruppe aus Madrid, an der wir gerade vorbei gehen. Neugierig fragt er nach unserer Motivation, diesen Weg zu gehen. Von sich selbst erzählt er, dass er das Gefühl habe, in der falschen Zeit zu leben. Viel lieber hätte er im Mittelalter als Tempelritter die Pilger beschützt. Er schwärmt von ihren Rüstungen. Und über Santiago sagt er: "Eine magische Stadt ganz aus Granit – in der Sonne schimmert sie golden, aber sie ist sogar bei Regen schön, und es regnet da ziemlich oft… dann glänzt sie wie dunkles Kupfer." Erstaunt blicken wir Juan an, denn so viel Poesie hätten wir einem Teenie im Jahr 2013 nie zugetraut.

Nachdem wir gemeinsam den steilen Hügel des Städtchens Sarria erklommen haben, trennen sich unsere Wege schon wieder, denn hier muss Juan seine Gruppe in der Klosterherberge einquartieren. Cayetana blickt ihm hinterher und murmelt: "Klarer Fall von Mittelalter-Syndrom. Der singt wahrscheinlich auch wie ein Troubadour für seine Angebetete…" Lächelnd frage ich mich, ob ihr das insgeheim gefallen würde.

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Hinter Sarria überqueren wir eine schöne Waldbrücke und marschieren ein paar Kilometer durch dichten Wald, bevor wir wieder durch typisch galizische Dörfchen mit Granitmauern, Eichenalleen und Kornspeichern wandern. Sehr früh, noch vor Anbruch der Siesta, erreichen wir unsere heutige Bilderbuch-Herberge, die "Casa de Carmen" in Barbadelo.

Während wir im kleinen Schlafsaal den Inhalt unserer Rucksäcke sortieren und auf dem Bett sitzend darauf warten, dass eine der Duschkabinen frei wird, hören wir plötzlich neben dem Geräusch eines potenten Wasserstrahls den entzückten, schrillen Ausruf einer Frauenstimme: "Oh, what a great shower!" Und nur eine Minute später, noch eine Spur lauter und hysterischer: "Oh my God, what a great shower!" Wir blicken uns amüsiert an und Cayetana kichert: "Hat die Alte etwa keine Dusche zu Hause?"

Beim abendlichen Pilgermenü sitzen wir direkt neben der Dame aus den mittleren USA, deren Stimme selbst im Plauderton schnell zu kreischigen Tönen tendiert und mühelos alle Konversationen im Speisesaal übertönt. Cayetana nennt sie heimlich "Our Lady of the Showers". Neben ihr sitzt – bewegungslos wie ein Stein der Geduld – ihr Mann, der während des ganzen Abendessens kaum einen längeren Satz von sich gibt. Ganz anders seine schlechtere Hälfte, die uns zutextet, als gäbe es kein Morgen mehr und als wären wir die Jury für ein Casting von "Desperate Housewifes". Dabei wollen wir nur unser Abendessen löffeln. In einem unbeobachteten Moment deutet Cayetana auf den Mann und flüstert: "Wie kann der es bloß Jahre lang mit dieser Kreisch-Tussy aushalten?" Es bleibt sein Geheimnis. Kaum ein Detail (seien es die Muscheln in der Suppe, die drei schlafenden Hunde des Herbergsbesitzers oder die zarten Kalbs-Frikadellen) das sie nicht mit hysterischen Ausrufen wie "great!", "lovely!" oder "delicious!" kommentiert. Endlich sind wir beim Kuchen angelangt und auch dieses Abendessen hat ein Ende. Wir danken Gott, dass die Shower-Lady im anderen Schlafsaal nächtigt.

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28. Juni 2013 um 7 Uhr. Fast jeder frühe Morgen in Galizien ist verhüllt von Nebelschleiern, die langsam waldige Hügel, Alleen aus bizarr gewachsenen Eichen und kleine Dörfer frei geben. Kurz nach Sonnenaufgang stehen wir vor dem Kilometerstein 100, der mit zahlreichen Inschriften übersät ist und von jedem fotografiert wird. Ab hier sind noch exakt hundert Kilometer bis Santiago zu bewältigen. Mittags liegt der (abgesehen vom Ziel) letzte kulturelle Höhepunkt des Camino vor uns: Portomarín.

Wir überqueren die Brücke und steigen die steile Treppe empor, die uns ins Zentrum von Portomarín bringt – hierhin wurde der Ort vor fünf Jahrzehnten verlegt. Vorher lag das Städtchen mehr als hundert Meter tiefer, wo sich jetzt der Wasserspiegel der Talsperre ausdehnt. Die romanische Kirche San Nicolás wurde Stein für Stein durchnummeriert und mit dem originalen Material hier auf dem Hügel wieder aufgebaut. "Was ist das denn für`n komischer Kasten?", entfährt es Cayetana. Die strikt rechteckige Form dieser zinnenbekrönten Wehrkirche ist in der Tat gewöhnungsbedürftig. Beim Gang rund um diesen Tempel versuche ich Cayetana zu überzeugen, dass San Nicolás der letzte bedeutende Kirchenbau vor Santiago ist. Gemeinsam betrachten wir die berühmte Verkündigungsszene aus dem 12. Jahrhundert mit dem Erzengel Gabriel und der Jungfrau Maria ("…nicht grad die Schönste", wie Cayetana bemerkt) über dem linken Seitenportal. Kurios: Maria hebt abwehrend die Hände, als der Engel auf sie zeigt – so als wäre sie nicht sehr begeistert von der Idee, uns und der Welt den Erlöser gebären zu müssen.

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Als wir gegenüber der Kirche beim Mittagessen sitzen, schlendert ein alter Mann vorbei, dem offenbar langweilig ist. Jedenfalls bleibt er plötzlich auf seinen Stock gestützt vor uns stehen, blickt auf unsere Rucksäcke und fragt uns, warum wir nicht einfach hier bleiben in seinem schönen Portomarín. Dann rühmt er mit blumigen Worten die Vorzüge des Ortes: es gäbe sieben (!) schöne Pilgerherbergen, gute Restaurants (wie wir ja gerade schmecken würden), den Fluss Miño, und wie wir vor uns sehen könnten, auch eine ganz besondere Kirche, deren Portal wie der Portico de la Gloria der Kathedrale von Santiago ja auch von Meister Mateo geschaffen wurde (letzteres stimmt wahrscheinlich nicht). Also eigentlich bräuchten wir gar nicht mehr nach Santiago, weil Portomarín uns schon alles bieten würde, selbst über den totalen Sündenablass könnten wir mit dem Pfarrer des Ortes sicher verhandeln…

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Wir lehnen dankend ab und schultern nach dem Lammbraten wieder unsere Rucksäcke. Denn heute beginnt unser Endspurt – wir haben uns vorgenommen, nun so schnell wie möglich anzukommen. Nur noch 95 Kilometer! Kilometersteine und Wegkreuze häufen sich. Viele Wegkreuze wurden von den Pilgern zu Devotionalien-Schreinen umfunktioniert, oder profaner formuliert, zu Pinnwänden, die überquellen von persönlichen Botschaften (Nachrichten und Grüße an Nachfolgende, Briefe, Fotos). So präsentiert die Facebook-Generation hier oft sehr private Ideen und Impressionen einer breiten internationalen Öffentlichkeit. Das kann manchmal ergreifend sein (wie ein Gedicht einer Mutter gewidmet ihrem verstorbenen Kind, geschrieben genau hier), aber auch kitschig wie Selfies vor dem Kilometerstein-100. Stets erhaben präsentiert sich das Ambiente in Galizien: Alleen aus knorrigen Eichen, die uns wie Kirchensäulen erscheinen, schöne Kühe, friedliche Friedhöfe.

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Da wir unterwegs getrödelt und viele Pausen eingelegt haben, erreichen wir unser Tagesziel Ventas de Narón erst am frühen Abend. Beim Abendessen finden wir einen Platz in der Herberge neben einer jungen Frau, die uns schon unterwegs wegen ihrer hellroten Haare und ihres sehr strammen Tempos aufgefallen war. Sie stellt sich vor als "Maggie, Atheistin aus Schottland". Wie fast jedes Camino-Gespräch wird auch dieses eingeleitet mit der Frage, wo man seinen Weg begonnen hat. Sie irritiert uns mit der Antwort: "Dieses Mal wieder in Roncesvalles." Es stellt sich heraus, dass Maggie jeden Jakobsweg in Spanien schon mehrfach gewandert ist: den Camino Francés (natürlich mit beiden Anfangs-Varianten), den Küstenweg und den Vía de la Plata. Die erstaunte Bemerkung Cayetanas, sie müsse ja viel Zeit haben, qvuittiert die rothaarige Schottin mit einem ironischen Lächeln: "Alle Zeit der Welt!" Sie erklärt uns, dass sie all ihren Besitz verkauft habe, Beruf und bürgerliches Leben komplett hinter sich gelassen habe und zur "Berufspilgerin" geworden sei. Vom Frühling bis Herbst pilgert sie und übernachtet in den billigen Herbergen, im Winter kommt sie bei Freunden irgendwo in Spanien unter. Deshalb ist sie schockierend fit und kann 1001 Camino-Anekdoten zum Besten geben.

Zu meiner Überraschung hört Cayetana den Camino-Abenteuern der schottischen Pilger-Vagabundin fasziniert zu. Im Gegensatz zu gestern ist das heutige Abendessen wie im Flug vergangen, garniert mit spannenden Geschichten der pilgernden Atheistin Maggie, die manch einer allerdings als Schmarotzerin bezeichnen würde. Warum? Weil sie "echten" Pilgern den Platz wegnimmt und Angebote annimmt, die eigentlich nur zur einmaligen Nutzung durch Suchende des Sternenwegs gedacht sind und nicht für den ständigen Lebensunterhalt eines Menschen, der offen zugibt, hier gar nichts zu suchen oder zu erhoffen, sondern nur in einer möglichst sonnigen Region Europas möglichst billig durchs Leben kommen will. Dieser Gedanke beschäftigt mich, während Maggie und Cayetana ein fröhliches Dessert-Wettessen veranstalten.

Obwohl sie satt ist bis zum Platzen, löffelt Cayetana die letzten Gramm Sahnequark mit Honig, lässt den Blick zufrieden über die in der Abendsonne liegenden Kuhweiden gleiten und resümiert: "Die Kühe sehen so glücklich aus, kein Wunder, dass der Quark hier fast wie Buttercreme schmeckt..." Maggie und ich lachen zustimmend.

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Nach dem Abendessen können wir endlich duschen (es gibt nur zwei Duschen und die waren zuvor ständig besetzt). Als wir uns wenig später in Handtücher eingewickelt gegenüber stehen, haben wir spontan denselben Gedanken. Cayetana prustet, dann kreischen wir beide gleichzeitig zum Erschrecken aller anderen: "Oh, what a great shower!"

Text und Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Etappe von Triacastela über San Xil/Calvor nach Barbadelo: 23 Kilometer
Etappe von Barbadelo nach Ventas de Narón: 32 Kilometer

http://www.turgalicia.es/portada?langId=de_DE

Unterkunft und Verpflegung:
Übernachtung in Barbadelo: Private Pilgerherberge "Casa de Carmen", in einem isolierten, wunderbar gelegenen Bauernhaus Tel. 982-532294 Waschmaschine, Getränkeautomaten, großer Garten (auch Platz für Zelte). Freundliche Aufnahme, neue, großzügige Duschkabinen, Dreibettzimmer. Schöne Pilgerkapelle mit vielen von Pilgern geschenkten Heiligenbildchen und Botschaften. Gutes Restaurant (s.u.) Übernachtung 10 Euro.

Verpflegung in Barbadelo:  Bar/Restaurant "Casa de Carmen": Pilgermenü (3 Gänge inkl. Wein), 10-12 Euro (z.B. Galizischer Suppeneintopf: Caldo Gallego, Fischfrikadellen, Schokoladen-Käsetorte). Sehr empfehlenswert, sehr freundliche Bedienung und das Essen köstlich und großzügig.

Übernachtung in Ventas de Narón: Private Pilgerherberge "Casa Molar", in einem großen (noch aktiven) Bauernhof Tel. 696-794507 Waschmaschine/Trockner, Terrasse. Freundliche Aufnahme, Zimmer etwas eng. Gutes Restaurant (s.u.) Übernachtung 10 Euro.

Verpflegung in Ventas de Narón: Bar/Restaurant "Casa Molar": Pilgermenü (3 Gänge inkl. Wein), 10-12 Euro, freundliche Bedienung und günstiger Wein.

Verpflegung in Portomarín: Restaurant "Mesón de Rodríguez", Tel. 982-545252, am Hauptplatz rechts gegenüber der Kirche (empfehlenswert: Pulpo und Lammbraten), Bedienung nicht mega-freundlich, Essen aber gut.

Kirchen:
Sarria: Kirche El Salvador: frühgotische Kirche aus dem 13. Jahrhundert mit interessantem Seitenportal, liegt im Ortszentrum direkt am Camino.

Portomarín: Kirche "San Nicolás": Kuriose, kastenförmige romanische Wehrkirche aus dem 12. Jahrhundert. Wegen des Talsperrenbaus vor einem halben Jahrhundert wurde die Kirche im Tal abgebaut und hier auf dem Hügel exakt wieder aufgebaut. Interessantes Verkündigungsrelief über dem linken Seitenportal. Letzter wirklich bedeutender Kirchenbau vor Santiago.

[druckversion ed 02/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Peru: Fiesta de la Virgen de la Candelaria

Jedes Jahr in der ersten Februarhälfte steht Puno Kopf. Dann wird in der peruanischen Hafenstadt am Titicacasee die aufsehenerregende Fiesta de la Virgen de la Candelaria gefeiert. Das Fest findet zu Ehren der Schutzpatronin Punos statt, wobei der höchste Festtag der 2. Februar, also Mariä Lichtmess, ist. Auf der Plaza de Armas wird ein riesiger Open-Air-Gottesdienst zelebriert und durch die geschmückten Straßen ziehen würdevolle Prozessionen. Außerdem zünden in der Candelaria-Kirche Bäuerinnen, Verkäufer, Kindermädchen und Banker unzählige Kerzen an. Sie bitten die Heilige Jungfrau um Unterstützung, denn sie soll bei der Partnersuche, unerfülltem Kinderwunsch, Geldsorgen und gesundheitlichen Problemen Wunder vollbringen.

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Für Partyhasen und Schaulustige ist während des zweiwöchigen Spektakels nicht Mariä Lichtmess am wichtigsten, sondern der zweite Sonntag im Februar. Dann wird ein Tanzwettbewerb veranstaltet, an dem 150 andine Gruppen mit über 40.000 Tänzern und 5.000 Musikern um die beste Präsentation konkurrieren. Neben der Choreographie gehen in die Bewertung auch Musik und Kostümierung ein, wobei letztere unbeschreiblich ist!

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Männer mit grotesken Satansmasken und in aufwändigen Affengewändern tanzen die Diablada, einen teuflischen Tanz, der den Kampf zwischen Gut und Böse symbolisiert. Kurz darauf machen neureiche Cholas mit Ratschen einen Höllenlärm. Sie drehen sich im Kreis, so dass ihre mehrlagigen Faltenröcke scheinbar schwerelos durch die Luft schwingen.

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Blaugekleidete Jünglinge mit glockenbesetzten Stiefeln lassen sich steppend von den Zuschauern feiern. Ihre bezaubernden Begleiterinnen stehen ihnen in nichts nach. Sie zeigen reizvoll Slip und nackte Haut. Weniger sexy ist der Tanz der Lama-Hirtinnen, die Llamadera, den Aymara-Indígenas in handgewebter Tracht aufführen. Den Reiz des Sicuris-Tanzes dagegen macht wundervolle Andenmusik aus, die Panflötenspieler ihren bis zu 1,50 Meter langen Instrumenten entlocken.

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Die offizielle Darbietung der 150 Volkstanz-Vorführungen findet geordnet im Stadion statt und dauert annähernd zehn Stunden. Wilder geht es zeitgleich auf Punos Straßen zu, wo sich die Teilnehmer des Tanzwettbewerbs nach getaner Pflicht tummeln. Vom Stadion pilgern sie zunächst auf direktem Weg zur Candelaria-Statue, um der Jungfrau ihre Ehrerbietung zu erweisen. Und dann gibt es kein Halten mehr! Tänzer und Musiker ziehen lachend durch die Stadt. Unmengen Bier werden getrunken, Feuerwerkskörper gezündet und Zuschauer zum Mitmachen animiert. Puno verwandelt sich in einen bunten Hexenkessel voller Lebensfreude. Gefeiert wird mehrere Tage und, trotz der klirrenden nächtlichen Kälte auf 3800 Meter Höhe, rund um die Uhr.

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Alle Sorgen scheinen vergessen, die Grenzen zwischen Arm und Reich, Mann und Frau, Jung und Alt verwischen. Bei genauer Betrachtung gibt es diese Egalität natürlich nicht. Schon die Festteilnahme ist von den finanziellen Möglichkeiten eines jeden Einzelnen abhängig. Denn die spektakulären Kostüme, kunstvollen Masken und Aufenthaltskosten in Puno sind teuer. Manch einer spart das ganze Jahr oder macht gar Schulden, um einer Tanzgruppe angehören zu können. Andere möchten sich von der Masse abheben. Sie bekleiden auf dem Fest gegen Zahlung einer beträchtlichen Summe ehrwürdige Ämter oder tragen besonders kostspielige Kostüme, um Ansehen und Macht zu steigern.

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In Puno hat die Verehrung der Jungfrau von Candelaria ihren Ursprung in den 1780er Jahren. Der Legende nach wollten indigene Truppen unter der Führung von Tupaq Amaru II Puno von den Spaniern zurückerobern. Die spanischstämmigen Bewohner trugen aber in einer Lichterprozession eine Marienfigur, nämlich die Statue der Jungfrau von Candelaria, durch die Stadt. Die brennenden Kerzen sollen das Indio-Heer so sehr erschreckt haben, dass es sich zurückzog. Mit dieser sagenhaften Geschichte trieben die weißen Herrscher rebellische Gedanken aus den Köpfen der Ureinwohner. Die hatten ihre hoch verehrte Göttin Pachamama mit der Jungfrau Maria gleichgesetzt, die ihnen von den katholischen Missionaren aufgezwungenen worden war. Die Mutter Gottes war zu jener Zeit die populärste Heilige im andinen Katholizismus und hatte nun, so die herrschende Propaganda, mit ihrer „leuchtenden Rettung“ Punos den indigenen Aufstand für falsch und die koloniale Ordnung für richtig erklärt. Die Virgen de la Candelaria wurde zur Jungfrau der Indígenas deklariert, die seither alljährlich zu Mariä Lichtmess Prozessionen veranstalten.

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Die Aufnahme der Dampfschifffahrt auf dem Titicacasee Anfang des 20. Jahrhunderts belebte den Handel in der Region. Immer mehr Menschen zogen nach Puno und die Candelaria-Feierlichkeiten erhielten neuen Aufschwung. Händler, Arbeiter und Handwerker beteiligten sich an den Prozessionen, die von Jahr zu Jahr aufwändiger wurden. Kostümgruppen stellten den Kampf des Erzengels Michael gegen den Teufel dar, wobei die Furcht einflößenden Satane bei den Zuschauern schnell besser ankamen als die Heiligen. So erhielt das Spektakel immer mehr den Charakter eines karnevalistischen Umzugs. Heute ist die Fiesta de la Virgen de la Candelaria das farbenprächtigste Fest in Peru. 2014 wurde es von der UNESCO zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärt.

Text + Fotos: Dr. Jutta Ulmer + Dr. Michael Wolfsteiner

Weitere Informationen zu den Autoren und ihrem Projekt findet ihr unter:
www.lobOlmo.de & www.facebook.com/lobOlmo

[druckversion ed 02/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]





[art_3] Panama: Zu Besuch auf der Forschungsinsel Barro Colorado
 
Mitten im Panamakanal liegt Barro Colorado. Vermutlich gibt es auf der ganzen Welt kein Stück Urwald, das besser erforscht ist als diese künstliche Insel. Denn auf Barro Colorado bietet das weltweit bekannte Smithsonian Forschungsinstitut  Wissenschaftlern aus der ganzen Welt all das, was sie brauchen, um in Ruhe das Wachstum von Pilzen, die Fortpflanzung von Vögeln oder die Nahrungsaufnahme von Fischen zu studieren. Auch deutsche Forscher kommen hier her.

Der Rucksack, in dem Thomas Hiller seine Ausrüstung in der Dämmerung zu einem guten Fledermausfangplatz trägt, ist mit 15 Kilo ganz schön schwer, aber das macht nichts. Der junge Biologe hat es nicht weit und der Pfad durch den sonst dichten Urwald ist gut ausgebaut. Das ist nur einer der vielen Vorteile der Forschungsinsel Barro Colorado, kurz BIC und der Doktorand der Uni Ulm ist von Forschungsreisen nach Afrika ganz anderes gewohnt. "Man muss meistens einen Dryshipper mitnehmen, ein Gefäß, in dem flüssiger Stickstoff transportiert werden kann, um die Proben kühl zu halten, was sehr umständlich ist. Das kann man sich hier auf BCI sparen, da der Minus-80-Grad-Kühlschrank in greifbarer Nähe ist", erklärt er.

Trotz des guten Weges ist der 28-jährige Biologe in der tropischen Schwüle Panamas nach kürzester Zeit nass geschwitzt. Über seinem Kopftuch trägt er eine Stirnlampe und an den Füßen Gummistiefel gegen die Schlangen. Auf der Forschungsinsel muss er sich nur auf seinen Exkursionen in den Wald mit solchen Widrigkeiten herum schlagen. "In Ghana waren wir mit Hängematte und Auto unterwegs und mussten mittags und abends selber kochen, mit einem Gaskocher irgendwo im Feld und eben in der Hängematte übernachten und hoffen, dass es nicht regnet. Hier gibt es zwei warme Mahlzeiten am Tag, man bekommt Frühstück, hat Betten mit Ventilator im Zimmer. Es ist einfach traumhaft", schwärmt Hiller.

Über einem kleinen Bachlauf stellt der junge Mann sein Fangnetz auf. Die Fledermäuse fliegen hier in der Dämmerung besonders gerne entlang. Für seine Doktorarbeit untersucht er, wie Viren zwischen verschiedenen Arten übertragen werden. Dazu muss er Fledermäuse einfangen und ihnen Kot-, Blut- und Gewebeproben entnehmen, die zunächst tiefgekühlt und dann später in Deutschland ausgewertet werden. Um auf Barro Colorado Fledermäuse fangen zu dürfen, musste der Forscher einen ausführliche Projektbeschreibung einreichen und ausreichend Erfahrung auf seinem Fachgebiet nachweisen. "Und dass die Arbeit mit den Tieren ihnen keinen Schaden zufügt. Das ist einer der wichtigsten Punkte gewesen. Dass es zwar invasives Arbeiten ist, wenn man die Tiere fängt, sie allerdings an Ort und Stelle wieder frei lässt, ohne bleibenden Schaden zu verursachen."

Darüber, welche Forschungsprojekte auf Barro Colorado durchgeführt werden dürfen, entscheidet Oris Acevedo. Die Biologin leitet seit 21 Jahren die Station des Smithsonian Tropical Research Institutes und hat im Laufe der Zeit Wissenschaftler aus über 60 Ländern beherbergt. "Was BCI so besonders macht, ist die Masse an Informationen, die es über diesen Wald gibt. Wir sprechen von über 4.000 Studien, die hier gemacht wurden. Dieser Wald ist viel besser erforscht als jeder andere." Ein guter Teil der hier gesammelten Daten steht den Wissenschaftlern vor Ort zur Verfügung, so dass die Forscher auf Arbeiten ihrer Vorgänger aufbauen können. Und das sind Daten aus über 90 Jahren Forschungsarbeit.

Die Insel war bis 1908 eine Bergspitze. Für den Panamakanal wurde ein ganzes Tal geflutet, dabei entstanden im Gatunstausee eine ganze Reihe Inseln – die größte davon ist Barro Colorado. "Als der Kanal gebaut wurde, sah der damalige Gouverneur  die Notwendigkeit für zukünftige Generationen, einen Platz zum Forschen zu schaffen. Er schlug vor, diese Insel zu einem geschützten Gebiet zu erklären und sie der Forschung zu widmen", erzählt Oris Acevedo.

Bis auf die Unterkünfte für die Wissenschaftler, einige Labore, Verwaltungsbüros und den Speisesaal ist die 15 Quadratkilometer große Insel vollständig Natur belassen. Und obwohl es sich um eine relativ kleine Fläche handelt, findet sich hier eine unglaubliche Artenvielfalt. "Wir haben mehr als 1000 verschieden Insektenarten, fünf Affenarten, zwei Faultierarten, Tapire,  mehr als 350 Vogelarten. Hinzu kommen Wildkatzen, Fledermäuse, Nagetiere und natürlich unzählige Pflanzen – auf der Forschungsinsel wurden alleine 300 Baumsorten gezählt", berichtet die Leiterin.

Die Infrastruktur der Insel in Schuss zu halten, ist eine aufwendige Angelegenheit. Wenn die Gebäude und Wege nicht ständig gepflegt werden, verfallen sie in der tropischen Hitze schnell. Das alles ist teuer. "Ein Student bezahlt hier pro Tag 47 Dollar. Dafür erhält er Unterkunft und Verpflegung, darf die Labore, sein Büro und die Boote benutzen. 47 Dollar sind ein hoch subventionierter Preis. Aber wir sind kein Unternehmen, wir sind eine Forschungseinrichtung. Unsere Mission ist die Wissenschaft", so Oris Acevedo weiter.

Die Gelder für den Betrieb der Forschungsinsel kommen hauptsächlich aus den USA, von privaten Spendern, von Unternehmern und vom Staat. Für einen Doktoranden wie Thomas Hiller, der für zwei Jahre auf Barro Colorado forscht, sind umgerechnet 35 Euro pro Tag immer noch zu viel. Sein Aufenthalt wird aus Mitteln seiner Universität in Ulm finanziert.

Ein Bach gurgelt, der Fledermausforscher kontrolliert sein Netz. Ein Tier hat sich darin verfangen. "Das erste, was man machen muss, ist schauen, von welcher Seite die Fledermaus ins Netz geflogen ist. Das ist notwendig, um die Fledermaus schnell und behutsam befreien zu können" Thomas Hiller passt auf, dass er dabei nicht gebissen wird. Die Fledermaus zappelt und zetert, sie kommt in einen Stoffbeutel, was sie zu beruhigen scheint. Der Doktorand macht sich an den Aufstieg zu einem kleinen Häuschen, in dem ein Generator summt. Dieser versorgt die Messgeräte eines  Langzeitexperimentes der Uni Potsdam mit Strom. Überall auf der Insel stößt man auf Experimente, in denen teils über Jahrzehnte Pflanzenwachstum oder Regenmengen aufgezeichnet werden. Hiller erklärt: "Es gibt hier wissenschaftliche Angestellte, die ausschließlich für die Messungen angestellt sind. Aus diesem Grund ist es möglich, dass Projekte über mehrere Jahre laufen können."

Jetzt aber zurück zu der kleinen Fledermaus. "Es handelt sich bei unserem Exemplar um ein Hatibeus Literatus. Der wiegt mit Beutel 94 Gramm. Jetzt nehme ich die Fledermaus aus dem Beutel heraus. Vorsichtig, dass sie nicht abhaut. Hier ist sie, ein Weibchen. Der leere Beutel wiegt 23 Gramm." Thomas Hiller vermisst die Flügelspannweite, bestimmt das Alter und diktiert alles seiner Feldassistentin Elena Krimmer. Die Studentin macht auf BCI ein Praktikum und wurde zugleich als wissenschaftliche Hilfskraft der Uni Ulm nach Panama entsendet. "Für mich war das die Chance, was ganz anderes zu machen. Mal in die Tropen zu kommen, mit Säugetieren zu arbeiten. Das hat mich sehr gereizt", erzählt sie.

Zu Elenas Aufgaben gehört auch die Eingabe der erhobenen Daten in den Computer und das Nähen der Stoffbeutel. Die meiste Zeit geht allerdings für das Flicken der Netze drauf. "Wenn die Fledermäuse gefangen werden, sind sie ein bisschen aggressiv und beißen halt, was das Zeug hält. Da diese Netze nicht ganz billig sind, versuchen wir, sie so gut wie möglich zu flicken, was natürlich ein bisschen einer Sisyphusarbeit gleicht."

Um Verbrauchsmaterialien wie Netze oder Gefäße muss sich jeder Forscher selber kümmern, und wer immer den Fledermausforscher aus Deutschland besucht, bringt eine Tasche voll davon mit.

Für Thomas Hiller ist die Insel Barro Colorado nicht nur wegen der guten Infrastruktur ein idealer Forschungsplatz, sondern auch, weil er hier junge Wissenschaftler aus aller Welt und unterschiedlichsten Fachrichtungen kennen lernen und sich mit ihnen austauschen kann. "Wenn man dann abends zusammen sitzt, kommt man im Gespräch über die Arbeit oder Erlebnisse im Wald auf die tollsten Möglichkeiten für Kooperationen. Man findet immer wieder überraschende Überschneidungen, fachübergreifende Möglichkeiten." Schon so manch großes internationales Forschungsprojekt hat auf Barro Colorado seinen Anfang genommen. Thomas Hiller hat erst letzte Woche festgestellt, dass er und eine panamesisches Kollegin ein ähnliches Thema in ihrer Masterarbeit behandelt haben und so haben die beiden haben beschlossen, auf diesem Gebiet gemeinsam weiter zu forschen.

"Vor allem für junge Leute ist das Ganze hier eine Supermöglichkeit, Kontakte zu anderen Forschern, zu anderen Instituten zu knüpfen und dadurch Forschungsgemeinschaften für die Zukunft aufzubauen", sagt Hiller, während er von "seiner" Fledermaus 123 Kot-, Gewebe und Blutproben und eine Zecke einsammelt.

377 Tiere fehlen ihm noch, aber er hat ja auch noch ein Jahr Zeit auf der Forschungsinsel um sie fangen und zu untersuchen. Für die Auswertung der Daten und das Schreiben der Arbeit hat er noch mal ein Jahr eingeplant.

Dieses Fledermausweibchen jedenfalls hat ihren Dienst für die Wissenschaft geleistet. "So, dann lassen wir dich mal wieder frei?" Für Thomas Hiller dagegen geht es mit der Forschung erst noch richtig los.

Text: Katharina Nickoleit

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

[druckversion ed 02/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: panama]





[art_4] Spanien: Mallorca im Winter (Bildergalerie Teil 1)
Cala Figuera und Parc Natural Mondragó
 
"Das macht 30 Euro!" Ich schaue auf meine Handvoll Artikel und bitte die Rechnung zu prüfen. Die Verkäuferin ruft ihre Chefin zu Hilfe. Gemeinsam erörtern sie, dass sich die Positionen Fleisch, Wein, Waschmittel und Toilettenartikel nicht unter meinem Einkauf befinden.

Das Faszinierende an der Szene war die vertraute, gemütliche, stressfreie und vor allem herzliche Atmosphäre im ganzen Laden. Kein böses Wort zwischen Chefin und Kassiererin, kein Kunde, der nervös auf die Uhr geschaut hätte, kein feindseliger Blick gegen mich oder die Angestellte.

Wenn ich mir im Vergleich dazu die genervten Menschen in der Schlange im Kinderparadies-Supermarkt Prenzlauer Berg ansehe, wenn meine Tochter mir helfen möchte und das Einpacken der Lebensmittel sich um Sekunden verzögert, seufze ich wehmütig gen Süden. – Soviel zum Gesellschafts-Thema "Entschleunigtes Leben im Supermarkt".

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Und so kam es zu meinem Erst-Besuch Mallorcas
Fünf bis sieben Tage auf und davon in den Weihnachtsferien für Kurzentschlossene ab Berlin ist eine echte Herausforderung. In der Nähe (Ostsee) und in der Ferne (Kanaren) gab es nichts mehr im Angebot, was auch nur annähernd bezahlbar gewesen wäre. Blieben nur die Klassiker: Türkei und Mallorca. Die Wahl fiel schnell auf die Insel der Deutschen im Mittelmeer.

Die Suche nach Flügen allein entpuppte sich als kostenintensiver als die Kombination Flug und Unterkunft. Also Pauschal. Mit dem Reiseführer in der Hand rasten wir über die Landkarte und fanden zwei Alternativen, eine in Colònia de Sant Jordi, die andere in Cala Figuera.

Wir landeten in Colònia de Sant Jordi und fuhren täglich nach Cala Figuera bzw. in den Nationalpark Mondragó.

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Und warum diese Galerie?
Die Fotos sind entstanden, weil uns die Reise einfach super gut gefallen hat. Spannender ist aber bestimmt das Kunstprojekt, das sich nach Absprache mit den beiden Supermärkten ergeben hat:

Die Verkäuferin aus dem Supermarkt in Colònia hat zugesagt, eine der Kassen im Prenzlauer Berg-Supermarkt zu übernehmen. Ein großes Schild wird die Kasse dann ausweisen als "Kasse des entschleunigten Lebens im Supermarkt".

In diesem Sinne ein paar chillige Momente mit den entspannten Bildern einer verschlafenen Insel...

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Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 02/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[kol_1] Erlesen: Graciela Paraskevaídis und Coriún Aharonián
Eine Hommage an zwei lateinamerikanische Ausnahme-Komponisten und Musikwissenschaftler
 
Das Werk von Graciela Paraskevaídis und Coriún Aharonián lernte ich näher kennen, als ich im Jahr 2004 für den Sender WDR3 eine sechsteilige Serie über elektroakustische/Neue Musik in Lateinamerika produzierte, die derart gestaltet war, dass – soweit bei diesem Sujet möglich – auch "Laien" sie verstehen konnten. Das ist bei diesem spanischsprachigen Buch (Sonidos y hombres libres - Música nueva de América Latina en los siglos XX y XXI) nicht das Ziel, der Band zu Ehren der beiden in Uruguay lebenden Komponisten zu ihrem 73. Geburtstag (2013) richtet sich an den kleinen Kreis von Experten und Liebhabern der Neuen Musik.

Sonidos y hombres libres
Música nueva de América Latina en los siglos XX y XXI

Hanns-Werner Heister/ Ulrike Mühlschlegel (Eds.)
Vervuert, Frankfurt a.M./ Madrid, 2014

Paraskevaídis und Aharonián spielen bei der Entwicklung der Neuen Musik in Lateinamerika eine wichtige Rolle, bei deren Verbreitung auf dem Kontinent sowie bei der Verbindung von Musik mit Gesellschaft und Politik. Sie sind Vertreter einer lateinamerikanischen Identität, die vorkolonialer Zeit entspringt, aber schlagen gleichzeitig Brücken zwischen den Kontinenten und den Generationen von Komponisten (Solomonoff, S. 17). Schon zu Vor-Internet-Zeiten als die Komponisten Lateinamerikas gar nicht bzw. schlecht vernetzt waren und sich gegenseitig bzw. ihre Werke auf Festivals in Europa/USA kennen lernen oder wissenschaftliche Institutionen wie die Fonothek des IAI in Berlin dazu nutzen mussten, bemühten sich Paraskevaídis und Aharonián seit 1971 mit ihren "Cursos Latinoamericanos de Música Contemporánea" (CLAMC) um einen Austausch. Diese Ereignisse werden in der Einleitung und einigen Texten erwähnt, aber das Buch enthält - leider - keine (Kurz)Biographien der beiden Komponisten. Stattdessen befassen sich Freunde und Wegbegleiter der beiden mit deren Werk bzw. anderen Fragen und Phänomenen der Neuen Musik: Natalia Solomonoff analysiert Vokalstücke von Paraskevaídis, der Kolumbianer Daniel Áñez ihre Pianokompositionen, die er anlässlich ihres 70. Geburtstags gemeinsam mit ihr aufführte. Osvaldo Budón beschäftigt sich mit ihrer Komposition "Magma" und zeigt deren Verbindung zu Varèse, Wolfgang Rüdiger analysiert "Sendas" und Omar Corrado schließlich ihre Werke zu Texten des Italieners Cesare Pavese.

Der Brasilianer Chico Mello betont in seinem Artikel den wichtigsten Aspekt im Schaffen von Coriún Aharonián: die Konstruktion einer lateinamerikanischen Identität für die Komponisten des Kontinents, die "ernste" bzw. Neue Musik komponieren, die ja zunächst aus Europa, dann auch aus den USA, importiert wurde. Darin sehe Aharonián einen Akt des Widerstandes. Dessen These: Die Neue Musik Lateinamerikas soll die Vielfältigkeit des Kontinents widerspiegeln, sie soll "Mestizo" sein. Coriún Aharonián selbst zeigt das in seinen Kompositionen, in denen oft eine Gleichheit herrscht, zwischen den Elementen der europäischen Kunstmusik und der uruguayischen Folklore.

Weitere Texte handeln vom Komponisten Jorge Edgard Molina aus Santa Fé, der in den 90er Jahren mit Paraskevaídis und Aharonián Bekanntschaft machte, von Klangwelten an der Grenze von Guayana und Surinam, vom Raum-Zeit-Konzept in der asiatischen Musik, von tonaler Terminologie. Der Chilene Juan Pablo González behandelt in einem aufschlussreichen Artikel die Musikerziehung und –ausbildung in Lateinamerika und die Möglichkeiten, sich dabei vom europäischen Vorbild/Modell zu lösen, was er für zwingend hält, um die eigenen Wurzeln freizulegen. Auch sollten deshalb die Popularmusik und ihre Erforschung akademisch weiter aufgewertet werden. Wolfgang Martin Stroh steuert einen interessanten Artikel (auf Spanisch) über das Konzept "world music" bei, der im zweiten Abschnitt von lateinamerikanischer Musik in Deutschland handelt, wobei dieser mit Einschränkungen meiner Meinung nach leider zu oberflächlich gerät und seine Unterteilung der lateinamerikanischen Musik in Deutschland in fünf Typen Lücken aufweist.

Der dritte Teil des Buches enthält Glückwünsche von Freunden und Texte über persönliche Begegnungen mit Graciela Paraskevaídis und Coriún Aharonián. Ein für den Nichteingeweihten streckenweise interessantes Buch, dessen Titel ein wenig irreführend ist, da zur Geschichte der Neuen Musik in Lateinamerika im 20. und 21. Jahrhundert einfach zu wenig gesagt wird. Trotzdem lesenswert!

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 02/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





[kol_2] Helden Brasiliens: Help, I need sambare
O Bloco do Sargento Pimenta é -> Beatles + Ritmo Brasileiro

Sargento Pimenta war die Sensation der letzten beiden Straßencarnavals Rio de Janeiros. Auch dieses Jahr wird die Band wieder die Massen anziehen. Die im Jahr 2010 gegründete Sargento Pimenta verwandelt Beatles-Klassiker in typisch brasilianische Carnavals-Rhythmen.
 
Dieses Jahr wird der 50. Jahrestag der Veröffentlichung des Albums "Help" geehrt. Passend dazu lautet das Motto: "Help, I need sambare."
 
Wir trafen Mateus Xavier, den musikalischen Leiter Sargento Pimentas.



Caimán: Beatles und Samba passt das zusammen?
Xavier: Die Beatles passen nicht nur zu Samba. Anders als die anderen Bands haben wir von Anfang an darauf geachtet, nicht nur Samba oder Marchinhas zu spielen, wie es sonst hier getan wird. Die brasilianische Kultur ist reich an unterschiedlichen Rhythmen. Wir haben Rhythmen ausgesucht, die im Carnaval von Rio, Bahia, Recife und auch im Norden gespielt werden, also Rhythmen aus den verschiedensten Regionen des Landes.
 
Caimán: Welche Beatles-Lieder interpretiert ihr in welchen Rhythmen?
Xavier: "Sgt. Peppers", nach dem wir uns ja benannt haben, spielen wir als Maracatu, einem Rhythmus aus Recife. "Help" kommt als Samba-Reggae daher, aus Bahia. "I have just seen a face" folgt dem Rhythmus des Boi-Festivals in Maranhão. "Ticket to ride" spielen wir als Batidão, eine Variation des Funk Carioca. Diesen Rhythmus im Carnaval zu spielen ist vollkommen ungewöhnlich, aber es ist ein typischer Rhythmus der Parties hier in Rio. "I want to hold your hand", "From me to you" und "Nowhere man" sind unsere drei Sambas.
 
Caimán: Wie reagierte das Publikum denn bei eurem ersten Carnaval-Auftritt 2011?
Xavier: Besser als wir es erwartet hatten. Wir rechneten mit 500 Leuten, vor allem mit unseren Freunden. Dann waren plötzlich 5.000 da. Ich stand mit dem Rücken zum Publikum, denn ich musste ja dirigieren. Als wir anfingen, dachten wir, dass niemand mitsingen würde, da es sich ja um ein englisches Lied handelt. Plötzlich hörte ich das Publikum und sah, wie unsere Perkussion-Leute grinsten. Das werde ich niemals vergessen.
 
Caimán: Wie viele Zuschauer erwartet Ihr denn dieses Jahr?
Xavier: Mindestens 100.000. Letztes Jahr waren es 125.000. Das ist ne Menge...
 
Caimán: Gab es Kritik der traditionellen Carnavals-Gruppen, die ja nur brasilianische Lieder spielen? Schließlich spielt ihr englische Lieder mitten im traditionellen brasilianischen Carnaval.
Xavier: Viel Kritik. Die Leute der anderen Gruppen fragen stets, warum wir die brasilianische Musik nicht wertschätzten. Manche meinen sogar, dass wir brasilianischen Komponisten ihren Platz wegnehmen. Dem stimme ich nicht zu. Wir spielen ja verschiedenste brasilianische Rhythmen, doch viele wissen das scheinbar nicht. Trotz der englischen Lieder basiert unser Programm auf typisch brasilianischen Carnavals-Traditionen.

Zudem ziehen wir ein Publikum an, dass oft den Samba nicht mag und eigentlich nicht am Carnaval teilnehmen würde. Die kommen, weil sie die Beatles mögen und lernen dann auch andere Gruppen kennen. Wir sind sozusagen eine Art Türöffner für Leute, die eigentlich den Carnaval nicht mögen.


Caimán: Zum Schluss die wichtigste Frage: Wen magst Du lieber, Paul McCartney oder John Lennon?
Xavier: Ich tendiere leicht zu John Lennon.

Text und Interview: Thomas Milz

Auf youtube findest du u.a. folgende Videos:
• All my loving
• Here comes the sun

[druckversion ed 02/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]






[kol_3] Pancho: Farbenschmaus
 
Mittelamerika, Mexiko, Yucatán, Karibikküste, kleines Dorf, Marktplatz. Die Farben springen mich an: Orange, Grün, Gelb, Rot, Rosa; ein wildes Farbenmeer. Hier sieht man die Frucht-Kollegen in ihrer nativen Umgebung. Heute Morgen noch beim Frühstück habe ich gedacht, wie lecker sie hier alle schmecken, unglaublich! Zwar wird jeder Europäer sagen, dass er sie täglich in einem gut sortierten Supermarkt sehen und sogar kaufen kann, aber es ist nicht das gleiche, sie schmecken anders. Hier passen sie hin, hier reifen sie auf natürliche Art und Weise und werden zu Leckereien verarbeitet oder im Original verspeist.

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Es erzeugt in mir ein Glücksgefühl, sie einfach so daliegen zu sehen: ohne Preisetikett, Papiereinbettung oder Schutzfolie. Kiloweise werden sie verkauft, so wie es sich gehört und zu vernünftigen Preisen. Glaubt nicht, sie wären nichts besonderes, sie schmecken alle einzigartig. Sie lachen mich an und ich fange sie ein.

Text + Fotos: Camila Uzquiano

Links:
pepperworld.com
Das Schärfste aus der Welt der Chili Peppers

fruitlife.de
Obstportal mit ausführlicher Früchteliste

wikipedia.org
Wissenswertes über die Ananas

[druckversion ed 02/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: pancho]





[kol_4] Lauschrausch: Nicht nur andine... Musik aus Peru
 
Nach peruanischer Musik gefragt, wird der Durchschnittsdeutsche an die bunt gekleideten Männer mit Panflöten etc. in der Fußgängerzone denken, die "El cóndor pasa" spielen, manchmal auch internationales Liedgut – "Somewhere over the rainbow" – im andinischen Stil. Krzysztof Wiernicki beginnt seine auf vier CDs verteilte, kurze Geschichte der Musik Perus auch mit diesem Lied und o.g. Musikern. Er erklärt den Ursprung des Liedes, das als Finale einer Zarzuela aus acht Teilen diente, und erst durch Simon & Garfunkel international bekannt gemacht wurde, 1970. Ihre englischsprachige Version (mit neuem Text) wurde zu einer der meistverkauften Platten der Welt in jenem Jahr, allerdings "vergaßen" sie den originalen Urheber des Liedes zu nennen, den Komponisten Daniel Alomía Robles.

Die vier CDs mit vielen Musikbeispielen räumen ansonsten aber mit dem Klischee auf, dass aus Peru nur Panflötenspieler kommen. Sie folgen – zunächst – der Unterteilung Perus in die drei geographischen Großräume sierra (CD Nr. 1), costa (Nr. 2) und selva (Nr. 3, nur der Anfang), die jeweils andere Musikstile hervorgebracht haben. Auf der 3. und 4. CD finden sich dann auch die Entwicklung der peruanischen Kunstmusik und – eingeschränkt – die verschiedenen modernen Stile des 20. Jahrhunderts.

Krzysztof Wiernicki (Hg.)
Nicht nur andine... Musik aus Peru
onomato Verlag 2012

In der sierra lebt der größte Teil der indigenen Bevölkerung Perus (45%), und dort haben sich viele Musikarten und Tänze aus vorspanischer Zeit erhalten. So stellt uns Wiernicki den Yaravi-Gesang vor; auch das von den Inka stammende Inti Raymi-Fest (Sommerfest in Cuzco) und der Tijera-Tanz werden ausführlich beschrieben. Er erklärt, dass das heute in der indigenen Musik so typische kleine Zupfinstrument – das charango – erst spät in diese Musik integriert wurde, und dass heute die beliebteste Musik (und Tanz) in den Anden der Huayño ist: eine Mestizo-Musik mit indigenen und spanischen Anteilen, die von über 40 Radiostationen ausschließlich gespielt wird.

Der Huayño wurde im urbanen Umfeld in den 1960ern zur chicha und von Gruppen wie "El Polen" mit cumbia und Rock kombiniert. Heute erlebt diese Musik ein Revival, auch dank der Arbeit einiger Hobby-Musikologen (siehe caiman 1/ 2014 und 12/ 2014). Die schwarzen Sklaven in Peru behielten wenig von ihren Mythen und Traditionen, da sie zuvor häufig schon in anderen Häfen (Panama) vermischt worden waren. So blieben von einem Stamm immer nur wenige zusammen. Sie mussten miteinander auskommen, dabei halfen das Rhythmusgefühl und die gemeinsamen Instrumente. Ihre Nachfahren (rund 3% der Bevölkerung) leben heute vor allem an der Küste (costa). Die Sklaven erfanden die cajón, ein heute international beliebtes Perkussionsinstrument. Warum, dazu präsentiert Wiernicki einige Theorien, von denen mir diejenige am glaubwürdigsten erscheint, die besagt, dass die Spanier den Sklaven irgendwann Musik und Tanz verboten, vor allem das Spiel der tambores, da die Kirche heidnisches Tun vermutete und der Vize-König rebellische Kommunikation. Die Sklaven bastelten dann aus Holzkisten als Ersatz die cajón.

Desweiteren werden die Tänze an der Küste erklärt und die Entstehung der sehr ausdifferenzierten, peruanischen Form des Walzers (von der momentan in Berlin lebenden Musikwissenschaftlerin Virginia Yep) sowie der música criolla. Die letzten beiden Kapitel der CD widmen sich den in Peru als "Nationalsängerinnen" verehrten Lucia Reyes und Chabuca Granda, die mit "La flor de la canela" das international berühmteste peruanische Lied schrieb.

Auf der dritten CD führt uns die Reise durch die peruanische Musikgeschichte zunächst ins Amazonasgebiet (selva), wo viele indigene Stämme leben, darunter die Asháninka, die der Musikethnologe Abraham Padilla besuchte. Aus seinen Erfahrungen komponierte er eine Symphonie mit indigenen Stimmen/Gesängen (2009), aus der ein Ausschnitt zu hören ist. Nach einem längeren Diskurs zur Geschichte der Kolonialisierung widmet sich Wiernicki den Jesuiten, die für die Musikgeschichte Lateinamerikas wichtig waren, weil sie den Indigenen europäische Instrumente/Musik nahe gebracht haben, und u.a. Clavichorde und Orgeln importierten bzw. bauten. Seit dem Jahr 1612 hatte die Kathedrale von Lima einen (spanischen) Kapellmeister, was dem Musikleben einen Schub gab, verstärkt durch politische Entscheidungen: so ordnete im Jahr 1614 der Erzbischof an, sämtliche indigenen Instrumente zu verbrennen, was dazu führte, dass die erste religiöse Polyphonie auf Quechua entstand. Es folgte die erste peruanische Oper (1680). Mit der Unabhängigkeit von Spanien nahm die Bedeutung der Kirche in der Musik ab, villancitos waren nun das beliebteste Genre, die Oper stand ganz unter italienischem Einfluss. So war es mit Claudio Rebagliati auch ein Italiener, der 1863 nach Lima kam, die neue Version der Nationalhymne schrieb, Generationen von Komponisten ausbildete und die Musik aus Europa (Schubert, Haydn, Händel etc.) im Land bekannt machte.

Nach dem verlorenen Krieg gegen Chile stellte sich in den 1880er Jahren ökonomischer Wohlstand ein. Mit ihm steigerte sich das Bedürfnis nach Musik, dem die Komponisten Rechnung trugen. Inspiriert durch die politischen Ereignisse hielt auch in Peru eine nationale Strömung Einzug in die Kunstmusik, wie wir auf der vierten CD hören. Ein weiterer wichtiger Impuls für die klassische Musik in Peru war die Ankunft von vor den Nazis flüchtenden Künstlern aus Europa: so stellte der Wiener Theo Buchwald ein Nationalorchester zusammen, Rudolf Holzmann aus Breslau erforschte die Folkloremusik und Andrés Sas (Belgier) integrierte eben diese in seine Kompositionen. Sie beeinflussten Peruaner wie César Bolaños, der nach Studien in den USA und Argentinien, elektroakustische Musik komponierte und die Erforschung der Folklore vorantrieb. Und hier, in der Moderne, setzt auch der einzige Kritikpunkt dieser lehrreichen und tollen Produktion ein: Stile wie Jazz und Rock werden sehr kurz angeschnitten, mit Einschränkungen, mit wenig repräsentativen Exponenten und ohne die verschiedenen Ausformungen zu betrachten. DJ-Kultur, Popsänger, Punk, Elektronik, und die modernen Mischformen der Folklore finden leider keinen Platz mehr.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 02/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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