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[art_1] Spanien: Telde behext Sie
Gartenstadt im Nordosten Gran Canarias
 
Nach einer Woche hatte ich genug von Strand, goldgelben Dünen, Hoteltürmen, Neonglühen, deutschen Supermärkten und Rentner-Invasionen. Daher schlug ich gestern Abend an der Hotelbar meiner Licor 43 naschenden Begleiterin Cayetana vor, doch morgen zur Abwechslung mal ein bisschen Zeit in Kultur zu investieren. Sie verdrehte zwar die Augen (ihr eigener Aktionsbereich lag eher auf den Tanzflächen der Diskotheken von Playa del Inglés). Aber sie wusste, ich würde keine Ruhe geben. Also einigten wir uns auf einen Kompromiss: statt der großen Kultur-Tour zur Inselhauptstadt Las Palmas im äußersten Norden (Busfahrt ca. 2 Stunden) würde ich mich mit einem kleinen Ausflug in die alte Stadt Telde begnügen, damit sie pünktlich vor Sonnenuntergang zur Happy Hour wieder am Pool sein könnte. Außerdem müssten wir dann nicht so früh aufstehen, weil die Fahrt nur halb so lang dauern würde.

Telde Garten-Gasse [zoom]
Telde Garten-Gasse [zoom]

Also nahmen wir an einem sonnigen Sonntag um 10.40 Uhr den Bus Nr. 36 von Playa del Inglés nach Telde. Diese Stadt im Nordosten von Gran Canaria liegt 5 Kilometer von der Küste entfernt auf halbem Weg zwischen Strand und dem Gebirgsmassiv des Inselzentrums. Im Gegensatz zu Las Palmas wirkt sie trotz der mehr als 100.000-Einwohner überhaupt nicht großstädtisch, sondern präsentiert sich wie ein grünes, etwas groß geratenes Dorf. Am südlichen Ortseingang grüßt die Statue eines Guanchen, die daran erinnert, dass sich hier schon vor der spanischen Eroberung eine der wichtigsten Siedlungen der kanarischen Ureinwohner befand. Die Guanchen-Statue blickt auf ein weitläufiges Gartengelände mit Palmen, Frangipani und Kakteen.

Guanche [zoom]
San Juan Bautista [zoom]

Ein Kranz von Finca-Gebäuden und Feldern umgibt Telde im Süden und Westen. Die Stadt besteht aus drei historischen Vierteln, die durch tiefe Täler voneinander getrennt sind: im Norden das aristokratische Barrio San Juan Bautista, benannt nach der wichtigsten Kirche des Ortes, das volkstümliche Barrio San Francisco und das geschäftige und etwas modernere Barrio San Gregorio. Anders als Las Palmas oder Santa Cruz wurde Telde nie von englischen Piraten zerstört; daher ist die historische Bausubstanz gut erhalten. Schon 1351 wurde Telde als erste spanische Siedlung auf den Kanaren offiziell zum Bischofssitz ernannt – aber es sollte noch mehr als ein Jahrhundert dauern, bis die Okkupation durch die spanische Krone definitiv abgeschlossen und Telde wirklich zu einer europäischen Stadt auf dieser afrikanischen Insel wurde. Erst 1490 begann eine größere Gruppe spanischer Invasoren hier zu siedeln und die üblichen staatlichen und kirchlichen Institutionen zu etablieren. Wenig später entstand der Ortskern um die Kirche San Juan Bautista, die den wichtigsten sakralen Kunstschatz von Gran Canaria besitzt.

Garten-Gasse [zoom]
San Gegorio [zoom]

Als Cayetana und ich aus dem Bus steigen, wissen wir nicht, in welchem der drei Stadtviertel wir gelandet sind. Ich steuere direkt auf die nächste Kirche zu. Es ist aber nicht wie erhofft San Juan, sondern die klassizistische Kirche San Gregorio, die allerdings keine bedeutenden Kunstwerke zu bieten hat. Dafür spenden auf dem schönen Platz vor der Kirche vier große Ficus-Bäume willkommenen Schatten. Wir fliehen vor der grellen Mittagssonne und beobachten das äußerst entspannte sonntägliche Treiben auf dem Kirchplatz. Dabei entdeckt Cayetana ein originelles "Schuhputzer-Denkmal" aus Bronze – eine Hommage an einen viel zu wenig gewürdigten Berufsstand. Dann dränge ich zum Aufbruch, da ich fürchte, dass das wichtigste Monument der Stadt, die Kirche San Juan Bautista, nach der Mittagsmesse ihre Pforten schließt... und wir müssen sie erstmal finden. Die Wegbeschreibungen, die uns einheimische Passanten liefern, sind durchaus widersprüchlich und alles andere als präzise ("einfach hier den Hügel runter, dann links wieder hoch, bis man nur noch Bäume sieht, und dann nochmal rechts hoch..."). Endlich entdecken wir neben dem Stadtpark die zwei Türme der Johannes dem Täufer gewidmeten Kirche.

San Juan Bautista [zoom]
San Juan Bautista [zoom]

Typisch für die Sakralgebäude Gran Canarias ist die Kombination aus dunklem und weiß verputztem Vulkangestein. Die markanten Glockentürme wurden im 18. Jahrhundert dem alten Kirchenbau angefügt. In einer Nische über dem Hauptportal  blickt eine ursprünglich farbig bemalte steinerne Statue von Johannes dem Täufer, der ein drolliges Lamm auf der linken Hand trägt, auf den eintretenden Besucher. Der Innenraum ist dreischiffig und wir sind überrascht von der dicht gedrängten Menschenmenge (normalerweise sind Sonntagsmessen in spanischen Kirchen nicht gut besucht). Der Grund für den Besucheransturm: es gibt ein halbes Dutzend Taufen, so dass wir uns etwas gedulden müssen, bis wir das wichtigste Kunstwerk der Insel, den vergoldeten, von flämischen Bildhauern um 1525 geschaffenen spätgotischen Hauptaltar näher betrachten können.

Vorplatz San Juan Bautista [zoom]
San Juan Bautista/Altar [zoom]

Besonders schön sind die detailreichen, filigran gearbeiteten Reliefs im Zentrum des Altars, die Statue des Kirchenpatrons Juan Bautista links und die beiden kecken Englein, die unten rechts und links unter dem Kreuz sitzen. Im linken Kirchenschiff befindet sich in einem gläsernen Sarkophag ein weiteres wichtiges Kunstwerk aus dem 16. Jahrhundert: eine liegende Christusskulptur, die von mexikanischen Indios aus einem außergewöhnlichen Material, nämlich Maisfasern, angefertigt wurde. Die Tatsache, dass die beiden bedeutendsten Kunstwerke dieser Kirche nicht aus Spanien, sondern aus Flandern und Mexico stammen, dokumentiert auch, wie weit verzweigt das spanische Weltreich im 16. Jahrhundert war.

Zurück im Sonntagstrubel vor der Kirche bewundern wir den mächtigen Ficus und rot blühende Tulpenbäume auf dem Platz. Schon meldet sich der Hunger und Cayetana meint mit unschlagbarer Logik: "wenn schon Kirche, dann auch Kuchen!" (offenbar sind diese beiden K für sie untrennbar verbunden). Wir müssen auch nur ein paar Schritte die Straße bergauf gehen, als wir zum Café  "Opera" kommen. Es gibt zwar keine Oper in Telde (das wäre etwas viel verlangt), aber die Schokoladentorte und der Mandelkuchen dieser Konditorei sind sehr empfehlenswert.

Gärten/Aquädukt San Francisco [zoom]
Gärten/Aquädukt San Francisco [zoom]

Danach führt uns ein idealer Spaziergang durch die Gärten nahe dem Viertel San Juan, entlang einer originellen Sehenswürdigkeit. Die traditionellen Aquädukte von Telde, wie der Aquädukt von San Francisco, sind zwischen 250 und 300 Jahren alt und erfüllen heute auch dekorative Funktion. Strahlendweiß getüncht und mit ihren alten Laternen versehen, präsentieren sich diese historischen Wasserleitungen als romantische Relikte aus einer Zeit, als Tourismus hier noch unbekannt war und die Insel von der Landwirtschaft lebte. Nach der spanischen Eroberung wurde in der sehr fruchtbaren Landschaft um Telde im 16. Und 17. Jahrhundert vor allem Zuckerrohr und Wein für den Export angebaut, später wurden auch Kartoffeln populär, allerdings mehr für den Eigenbedarf. Insbesondere für die schwere Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen wurden maurische und schwarzafrikanische Sklaven "importiert" – ein weitgehend verdrängtes Kapitel der Inselgeschichte. Heute gibt es noch kleine Flächen, die dem Zuckerrohr-Anbau dienen, aber nicht mehr hier, sondern rund um Arucas im äußersten Norden. Im frühen 19. Jahrhundert wurden Zuckerrohr und Wein in der landwirtschaftlichen Gunst abgelöst von Bananen und Tomaten, die bis heute zwei Hauptprodukte der kanarischen Agrarwirtschaft geblieben sind.

Gärten/Aquädukt San Francisco [zoom]
Gärten/Aquädukt San Francisco [zoom]

Beim abschließenden Streifzug durch die schönen Gassen der Viertel San Francisco, San Juan und durch den Stadtpark können wir uns davon überzeugen, dass Telde nicht nur alte Kultur zu bieten hat. Es gibt vor allem im Park San Juan einige avantgardistische Skulpturen und in den Gassen daneben Beispiele moderner Architektur, die man hier nicht erwarten würde, wie ein Haus, dessen Fassade nur aus einer halb verspiegelten Wand besteht. Aber charakteristisch bleiben die alten, oft steilen Gassen, deren niedrige Häuschen sich hintereinander an den Berghängen stapeln. Und die Gärten mit alten Aquädukten mitten im Stadtzentrum.

Garten-Gasse [zoom]
Garten-Gasse [zoom]

Garten-Gasse [zoom]
Garten-Gasse [zoom]

Als wir vor der Rückfahrt in den Süden in der "Gruta de San Juan" noch einen Wein trinken und die im Tourismus-Büro gesammelten Broschüren durchblättern, muss ich lachen. In der offiziellen deutschsprachigen Version des Stadtprospekts lautet die Überschrift: "Entdecken Sie Telde – Telde behext Sie". Eine nicht ganz glückliche Übersetzung. Passender müsste es heißen: Telde bezaubert Dich.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps:
Tourismus-Büro
C. León y Castillo N° 2 (Barrio San Juan)
turismo@ayuntamientodetelde.org
www.telde.es

Pastelería (Konditorei)
OPERA
C. León y Castillo N° 4

Anfahrt:
Buslinien Nr. 36 oder Nr. 90 von Maspalomas / Playa del Inglés



Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

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