caiman.de 02/2010

[art_8] Brasilien: Stimmen aus der Gegenwelt
10. Weltsozialforum in Porto Alegre
 
Marina Silva, Umweltaktivistin und Präsidentschaftskanidatin der Grünen (Partido Verde): "Die sozialistischen Erfahrungen haben zu den selben Resultaten geführt wie das perverse kapitalistische Modell."

Eröffnugsmarsch [zoom]
Weltsozialforum [zoom]

Luiz Inacio Lula da Silva, erkälteter Präsident Brasiliens: "Europa hat im letzten Jahr einen Verlust von 7 Millionen Arbeitsplätzen hinnehmen müssen. Die Menschen in den USA haben im letzten Jahr ebenfalls mehr als 7 Millionen Arbeitsplätze verloren. In diesem Land hier haben wir im vergangenen Jahr dagegen 945.000 neue Arbeitsplätze geschaffen, alleine im produktiven Sektor. Nimmt man den öffentlichen Dienst noch dazu, sind es über eine Million Arbeitsplätze - und das in einem Jahr, in dem die ganze Welt in der Krise steckte."

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Camila Moreno [zoom]

Joao Pedro Stedile, Vorkämpfer der Landlosenbewegung MST: "Die Agrarreform kommt langsamer voran als eine schlafende Schildkröte."

Camila Moreno, resolute Aktivistin der NGO "Terra dos Direitos": "Das soll ein großes Festival der Linken sein? Ein Treffen der Progressiven? Hier wird doch lediglich über Nebensächliches debattiert. Solange nicht die für Brasilien wichtigen Themen diskutiert werden, solange man die Bevölkerung nicht fragt, ob sie Nuklearenergie will und ebenfalls ungefragt unglaubliche Summen in den Verteidigungshaushalt investiert, Atom-U-Boote und Düsenjäger kauft, solange kann ich nicht glauben, dass sich an dieser Stelle "Die Linke" zusammen geschlossen hat! Wollen wir Spruchbänder sehen auf denen steht: "Nein zu den ausländischen Militärbasen!" Wo aber nirgends geschrieben steht: "Nein zu den nationalen Militärbasen?" Was ist denn das für ein angeblich neuer Diskurs? Was soll sich denn da in den letzten zehn Jahren verbessert haben?"

Boaventura de Sousa Santos, portugiesischer Soziologe und Alternativendenker: "Wir werden Kämpfe ausfechten müssen. Mit Konflikten, ohne Zweifel. Nicht immer wird unser Kampf legal sein. Aber er sollte stets pazifistisch sein. Und wenn es nötig ist, werden wir ein paar Landbesetzungen durchführen. Das ist weder Gewalt noch Terrorismus. Das ist lediglich das, was im Raum steht, wenn die Agrarreform nicht vorankommt."

Boaventura de [zoom]
Sousa Santos [zoom]

Oded Grajew, ergraute Eminenz des Forums, dessen Mitbegründer er ist: "Wir haben den Prozess des Weltsozialforums verändert. Der Prozess ist jetzt selbstorganisierend. So kann ein jeder die Aktivitäten durchführen, die er durchführen möchte. Jeder kann eine Pressekonferenz einberufen, wann immer er will. Ein jeder kann organisieren, was er für wichtig hält. Hier spielt niemand Papi und sagt den anderen: "Mach dies, mach das!"

Marina Silva, Umweltaktivistin und Präsidentschaftskandidatin der Grünen (Partido Verde): "Ich gehöre nicht zu dem Typ Mensch, der sich leicht einschüchtern lässt. Stellen Sie sich einmal vor, jemand wäre zu Mandela gegangen und hätte gesagt: "Hör auf damit. Du bist ein Träumer. Was ist denn das für eine Geschichte, dass Du mit der Apartheid aufräumen willst?" - Was wäre gewesen, wenn er damals aufgegeben hätte?"

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Luiz Inacio Lula da Silva, erkälteter Präsident Brasiliens: "Meine lieben Companheiros - nächstes Jahr, wenn Ihr alle wieder bei diesem Forum versammelt seid, werde ich nicht mehr als Präsident, sondern als Ex-Präsident dieses Landes hier sein. Aber mit Sicherheit wird an meiner Stelle eine gleichgesinnte Person stehen, vielleicht mit größeren Fähigkeiten als ich, um dann von dieser Stelle aus, diesem Land zu sagen, was in Zukunft gemacht werden muss."

Boaventura de Sousa Santos, portugiesischer Soziologe und Alternativendenker: "Unsere wichtigste Waffe ist der radikale Gebrauch der Demokratie und die Leidenschaft, die wir für die soziale Gerechtigkeit hegen. Eine radikale Demokratie, die ihren Platz in der Fabrik, auf dem Feld, in den Straßen, den Schulen, überall haben muss. Wenn mich jemand fragt, was der Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist, so würde ich sagen, dass es die uneingeschränkte Demokratie ist. Nicht mehr und nicht weniger."

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Francisco Whitaker, ebenfalls ergraute Eminenz des Forums, dessen Mitbegründer er ist: "Die Welt befindet sich in einem Evolutionsprozess und wir befinden uns in einem Moment großen Enthusiasmus. Vielleicht können wir hier etwas erreichen. Wenn auch nicht die große Wende, so etwas ist nicht mehr möglich. Man kann nicht mehr einfach an die Macht gelangen, alles Alte für ungültig erklären und neue Regeln aufstellen. So funktioniert die Welt nicht mehr. - Nein, die Veränderungen heutzutage kommen von unten, von innen. Und alle Gesellschaftsschichten sind an diesen Veränderungen beteiligt."

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Camila Moreno, resolute Aktivistin der NGO "Terra dos Direitos": "Diese Linken hier - um Himmels willen - müssen sich neu definieren. Selbst nach 10 Jahren fehlt es bei ihnen immer noch an allen Ecken und Enden."

Oded Grajew, ergraute Eminenz des Forums dessen Mitbegründer er ist: "Wir haben zwar das Forum gegründet. Aber ab einem bestimmten Zeitpunkt hat es sich verselbständigt und wurde von den Menschen übernommen, die mitmachen und mitorganisieren wollen. Das Weltsozialforum hat keine Besitzer, sondern organisiert sich selbst. Das Weltsozialforum ist Demokratie in seiner extremsten Form. Deswegen hat sich das Weltsozialforum rund um die Welt verbreitet, hat eine Zivilgesellschaft auf globalem Level gebildet, hat derart viele Veränderungen bewirkt, hat zur Gründung derart vieler Organisationen beigetragen. Das ist der Reichtum des Weltsozialforums."

Francisco Whitaker, ebenfalls ergraute Eminenz des Forums dessen Mitbegründer er ist: "Die Tatsache, dass das Forum in Davos im Jahre 2009 in einer Atmosphäre, die einer Bestattung gleich kommt, abgehalten wurde, vermittelt den Eindruck des Zusammenbruchs des Kapitalismus. Eine neue Krise wie 1929. - Da konnte man deutlich die Grenzen des Systems erkennen. Unsere Prophezeiungen sind eingetroffen: Eine Welt, die offen ist für Spekulation, kann nun mal nicht funktionieren."

Nandita Shah, indische Frauenrechtlerin: "I think there's a crisis in the left and in our voice. I hope these five days will bring us out of this visionless tunnel."

Oded Grajew [zoom]
Weltsozialforum [zoom]

Camila Moreno, resolute Aktivistin der NGO "Terra dos Direitos": "Irgendwie entsteht der Eindruck, dass in dieser Generation des Weltsozialforums generelle Blindheit herrscht. Viele Menschen, die diesem Forum beiwohnen, Intellektuelle und Repräsentanten von NGOs, machen mit bei dem Entwurf eines Entwicklungsmodells, das sich schon in ihre DNA hineingefressen hat. Die Leute reproduzieren ein Entwicklungsmodell um des reinen Entwicklungsmodells willen."

Francisco Whitaker, ebenfalls ergraute Eminenz des Forums dessen Mitbegründer er ist: "Das System hat Leck geschlagen."

Interviews + Fotos: Thomas Milz

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