caiman.de 02/2009

[art_2] Brasilien: Davos viel regnet
Das 8. oder 9. Weltsozialforum in Belém

"Eine andere Welt ist möglich" steht auf den über das Stadtzentrum von Belém verteilten Transparenten. Dass diese neue Welt nicht nur möglich, sondern auch nötig ist, wird einem ja schon beim bloßen Blättern durch die Tageszeitung klar: wohin man auch sieht, nichts als Krisen. Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Umweltkrise, Energiekrise, Nahrungsmittelkrise, Trinkwasserkrise, Nahostkrise, nichts ist mehr sicher vor ihnen.

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Und so pilgerten etwa 100.000 Menschen in die Stadt im Amazonasdelta, um zu diskutieren, wie die andere und irgendwie krisensicherere Welt denn wohl aussehen solle. Viel mehr Jugendliche als bei den sieben oder acht vorangegangenen Weltsozialforen seien da gewesen, meinte so mancher Veteran der globalen Zivilgesellschaft ausgemacht zu haben. Zu tausenden hausten die Jugendlichen in Zeltlagern auf vom Dauerregen durchweichten Wiesen am Rande der 1,5 Millionenstadt, ließen sich ihre Haare zu Dreadlocks flechten und ihre Körper von Indianern bemalen. "Tropen-Woodstock" raunten manche Zyniker.

Währenddessen machten sich in Belém Symptome ach so altbekannter Systemkrisen bemerkbar: endlose Verkehrsstaus erschwerten das Hin-und-Her zwischen den über die Stadt verteilten Tagungsorten, während sich aufgrund fehlender Mülleimer die in den Urwald gebaute "Universidade Rural" in eine Müllkippe verwandelte.

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Auf der Suche nach Veranstaltungsorten zogen ganze Karawanen verirrt-verwirrter Teilnehmer kreuz und quer durch die Stadt, nur um, endlich angekommen, festzustellen, dass die versprochene Simultanübersetzung aus Geldmangel nicht stattfindet. Manchmal fehlte es auch ganz banal an funktionierenden Mikrofonen oder adäquaten Räumlichkeiten. Die viel zitierte "andere Welt" hat so ihre Kinderkrankheiten.

Und dass der Kapitalismus noch nicht ganz tot ist, wie von vielen Teilnehmern lautstark verkündet, bemerkten die wenigen Glücklichen, die noch eines der 7.000 Hotelbetten ergattert hatten: die Preise wurden einfach verdoppelt und verdreifacht. Auch die wenigen die Stadt anfliegenden Airlines nutzten die Gelegenheit, kräftig aufzuschlagen. So kam das gemeine Fußvolk halt in tagelangen Reisen per Boot oder Bus nach Belém. Die Gesetze des freien Markts sind halt doch nicht so einfach tot zu kriegen.

Dabei verkündete Brasiliens Präsident Lula genau das vor 8.000 geladenen Gästen. "Gott Markt ist tot", grollte er ins Mikrofon, und schuld seien die reichen Länder des Nordens, die mit ihrer hausgemachten Casino-Krise ihn nun kurz vor Ende seiner Amtszeit die eigentlich guten Wirtschaftsdaten verhagelten.

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Lulas Präsenz war unter den Teilnehmern nicht unumstritten. Zuletzt hatte er 2005 in Porto Alegre teilgenommen, wo er aufgrund seiner Wirtschaftspolitik mit Pfiffen begrüßt wurde. Jetzt ist er zurück, um seine alte Basis zurück zu gewinnen.

Gekommen waren auch die Staatschefs aus Paraguay, Bolivien, Ekuador und natürlich der unvermeidliche Hugo Chavez, der sich selbst als Wiedergeburt Che Guevaras feierte und gerne und oft im Namen des kranken Altmeisters Fidel Castro spricht. Gemeinsam nahmen die vier Staatschefs obengenannter Länder an einer unter Führung der Landlosenbewegungen Via Campesina und Movimento Sem Terra organisierten Veranstaltung teil, auf der man die kubanische Revolution hochleben ließ und als Modell zur Rettung der Welt feierte.

Mit leuchtenden Augen verfolgten die Überreste der europäischen 68er Generation die feurigen Reden und kamen am Ende sogar noch in den Genuss eines von Chavez und Che Guevaras Tochter gemeinsam angestimmten Kampfliedes. Und als der in seinem Kampfanzug schwitzende Chavez sich auch noch als Feminist outete, kannte die Begeisterung keine Grenzen. Nur bei der Frage, ob es sich nun um das achte oder neunte Weltsozialforum handele, kam der selbsternannte Maximo Lider kurz ins Stocken.

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Währenddessen litten die kleinen Basisorganisationen in ihren noch kleineren Ständen unter dem allgemeinen Organisationschaos und dem amazonischen Sommer. Es sei trotzdem gut gewesen, da man viele Netzwerke habe aufbauen können, freuten sich viele. Sie betonten das hohe Niveau der mehr als 2.400 Veranstaltungen, in denen von alternativer Landwirtschaft über Patentrecht bis hin zu neuen Modellen urbaner Sozialarbeit eigentlich alles diskutiert wurde.

Brad Pitt und Angelina Jolie seien ebenfalls in der Stadt, mutmaßte man, ohne die beiden zu Gesicht zu bekommen. Dafür sah man den ergrauten Befreiungstheologen Leonardo Boff, der über das Ende des Planeten dozierte und die auch nicht mehr ganz so neue Gaia-Theorie des Herrn Lovelock bemühte. Einig waren sich Boff und Chavez in ihrer Forderung, George W. Bush gehöre vor den Internationalen Strafgerichtshof.

Obama sei Dank - dieses Mal kamen die USA erstaunlich glimpflich davon. Im Gegensatz zu den sieben oder acht vorherigen Weltsozialforen gab es wenig Protest gegen die "Imperialisten". Dafür bekam es Israel gleich richtig dick ab. Kaum eine Veranstaltung, auf der nicht der palästinensischen Opfer gedacht und Israel beschimpft wurde. Aber das war im vornehmen Davos auch nicht anders, wo das Ehepaar Pitt-Jolie ebenfalls nicht gesichtet wurde.

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In dem mit einem einzigen Klo ausgestatteten Pressezentrum, einer zweckentfremdeten Sporthalle auf dem Universitätsgelände, sitzen jetzt die zahlreichen aus aller Welt angereisten Journalisten und ringen mit ihren Abschlusskommentar und den Tastaturen im ungewohnten belgischen Format, gestiftet von einer NGO aus besagtem Land. Kein einziger Buchstabe ist dort, wo man ihn vermutet. Sie ist nicht unbedingt einfacher, diese andere Welt. Aber wer hat schon wirklich geglaubt, dass dem so wäre?

Wahrscheinlich nur Hugo Chavez, der laut verkündete, dass die venezolanische Revolution dabei sei, die Utopie von Thomas Morus in die Tat umzusetzen; 493 Jahre nach ihrer Veröffentlichung, nebenbei bemerkt. Viele wären wohl schon damit zufrieden, ein paar "Reparaturen" am gegenwärtigen System durchsetzen zu können.

"Wenn man wollte, könnte man diese Veranstaltung in Grund und Boden schreiben", sagt eine brasilianische Bekannte von mir, die ich zufällig auf dem Kilometer langen Marsch zwischen den Veranstaltungsorten treffe. Aber wer will das schon.

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Wir gehen an einer Gruppe brasilianischer Indios vorbei. Über sie und ihre bedrohte Heimat, dem Amazonasregenwald, sollte hier in Belém eigentlich hauptsächlich diskutiert werden. Aber irgendwie hat man sie in all dem Rummel um Lula, Chavez und die Palästinenser mal wieder vergessen. Na ja, vielleicht finden sie ja auf dem nächsten Weltsozialforum Gehör. Das soll allerdings wohl in Afrika stattfinden oder vielleicht sogar in Obamaland. "Eine neue Welt ist möglich!!!"

Also bis demnächst auf dem neunten Weltsozialforum. Oder wäre es sogar schon das zehnte?

Text + Fotos: Thomas Milz

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