ed 01/2016 : caiman.de

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spanien: Mit Rosario in die Gruft
In der grandiosen Grabes-Kirche der Herzöge von Osuna
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


peru: Fairer Kaffeegenuss
JUTTA ULMER / MICHAEL WOLFSTEINER
[art. 2]
uruguay: Fußball und Politik
Die zwei Religionen Uruguays
LARS BORCHERT
[art. 3]
brasilien: Der Wilde sieht mich an
NICO CZAJA
[art. 4]
hopfiges: Xibeca, Estrella und der Hunger
DIRK KLAIBER
[kol. 1]
erlesen: Es el Peronismo, estúpido
Fernando Iglesias und der Mythos Peronismo
THOMAS MILZ
[kol. 2]
traubiges: Das Herz der Hüfte
Stagnari Tannat ‚Del Pedregal’ 2013
LARS BORCHERT
[kol. 3]
lauschrausch: Perus Partysound
Peru Boom: Bass, Bleeps & Bumps
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Spanien: Mit Rosario in die Gruft
In der grandiosen Grabes-Kirche der Herzöge von Osuna
 
Sie thront auf einem Hügel hoch über dem andalusischen Landstädtchen Osuna auf halber Strecke zwischen Sevilla und Málaga. Die ab 1530 erbaute Stiftskirche, zugleich Grablege der Herzöge von Osuna ist eines der größten architektonischen Juwele der spanischen Renaissance und wirkt mit ihrem kathedralischen Anspruch überdimensioniert für diesen kleinen Ort. Heutzutage leisten sich Millionäre, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld, eigene Fußballvereine; damals im 16. Jahrhundert Kirchenbauten. Vor kurzem brachte es die grandiose Kirche von Osuna zu weltweiter Popularität, weil in ihrem Innenraum einige Szenen der Mega-Serie "Game of Thrones" gedreht wurden.

Und jetzt erscheint Rosario auf der Bühne. Im ersten Moment war sie mir nicht sehr sympathisch - denn sie schickte mich einfach wieder weg. Obwohl die Besichtigungszeit der Kirche offiziell bis 19 Uhr geht, teilte sie mir kurz vor 18 Uhr gnadenlos mit, dass sie für Einzelbesucher jetzt keine Führung machen könne und den Tempel nun abschließen müsse, denn sie habe noch etwas wichtiges vor. Ich hatte den Eindruck, dass Rosario diesen Moment unumschränkter Machtausübung genoss , so sehr als sei sie selbst die Herzogin. Ich schätze sie auf Ende 50, aber sie wirkt zeitlos in ihrem eleganten schwarzen Kostüm und verströmt die Aura aristokratischer Grandeza Andalusiens. Ich hätte sie mir gut mit schwarzer Mantilla am Rand einer Semana Santa Prozession oder Fächer schwingend beim Stierkampf vorstellen können. Am nächsten Morgen steige ich also wieder frohen Mutes die steile Treppe zum Heiligtum empor und am Ende der Treppe thront Rosario und blickt auf mich herab wie Kleopatra.

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Diesmal gewährt mir die Hüterin des Tempels von Osuna gnädig Einlass. Es wartet bereits eine Kleingruppe junger Spanier und die Gruppenführung kann beginnen. Rosario verschwendet keine Zeit mit langen Einleitungen: "Nun, dass dies eine der wichtigsten Kirchen Europas ist, dürfte allen bekannt sein, deshalb sind sie ja wohl hergekommen, nehme ich an..." Dann zählt sie triumphierend die wichtigsten Kunstschätze auf: "Wir haben hier fünf Originalgemälde des Malergenies José de Ribera (1591 - 1652), ein Christusbild von Luis de Morales dem Göttlichen, zwei Marmorkanzeln und eine unterirdische Grabes-Kirche mit grandiosem Hochaltar und Dutzenden von prächtigen Sarkophagen toter Herzöge..."

Mitten in ihren Kunst-Monolog platzt die erste Frage einer jungen Frau aus Barcelona, die hinter sich zeigt und fragt, ob das Christusgemälde in dieser Kapelle auch von Ribera sei. Ein strafender Blick ist die erste Antwort. Man sollte es lieber nicht wagen, Rosario zu unterbrechen. Sie holt tief Luft und erklärt dann gebieterisch: "Sie müssen schon warten, bis ich mit meinen Erläuterungen fertig bin - und wenn Sie gut zuhören, wird Ihnen auch nichts entgehen..."

Rosario kommentiert mit drei kurzen Sätzen die finstere Kreuzigungsszene von José de Ribera hinter uns, als wäre dieses weltberühmte Barockbild mit den heftigen Kontrasten zwischen Licht und Finsternis eine Kleinigkeit. Abrupt bittet sie die Gruppe, ihr zur nächsten Kapelle und dann zum Chorraum der Kirche zu folgen. Dort bleibt sie vor zwei Kanzeln aus rosa Marmor stehen, die mit reichlich Figuren verziert sind. Mit großer Geste weist sie auf die Marmorkunstwerke und bemerkt, dass es an einem anderen Ort zwei völlig identische Kanzeln gebe. "Weiß zufällig jemand wo?" Ohne zu überlegen, sprudelt es aus mir heraus: "In der Kirche El Salvador in Sevilla!" Rosario blickt mich eine Zehntelsekunde fassungslos an, denn anscheinend hat bisher kaum jemand diese Frage richtig beantwortet und am wenigsten hätte sie das wahrscheinlich von einem daher gelaufenen Deutschen erwartet. "Sí Señor!" antwortet sie schnell, ihre Irritation mit aristokratischem Lächeln überspielend. Von da an ist sie gewarnt und heraus gefordert. Diese Führung wird nebenbei zu einem Quiz-Duell zwischen ihr und mir und sie beginnt, das Frage-und-Antwort Spiel mehr und mehr zu genießen. (Ich übrigens auch).

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Wir folgen Rosario zur nächsten Kapelle. Dort zeigt sie auf eine beeindruckende Skulptur eines gekreuzigten Christus und fragt in die Runde (aber eigentlich nur mich): "Dieser Christus hat einen Zwillingsbruder - eine Skulptur, die exakt genauso aussieht, nur deutlich größer ist. Weiß jemand, wo dieser "Zwilling" steht und von welchem Künstler er geschaffen wurde?" Ich gönne Rosario einen kurzen Triumph der Stille, bevor ich antworte: "Es ist der Christus des Guten Todes, geschaffen vom Barockbildhauer Juan de Mesa 1620 in Sevilla. Dort befindet er sich in der Kapelle der Bruderschaft der Studenten." Mit einer seltsamen Mischung aus Verärgerung und Vergnügen registriert Rosario diese Antwort mit langsamem Kopfnicken. Nun ist ihr klar, dies wird ein Duell eventuell auf Augenhöhe mit dem Gringo. Ab jetzt scheint sie zu überlegen, mit welcher Frage sie mich am Ende überlisten kann.

Wir folgen ihr in die Sakristei, wo die phänomenalen Ribera-Gemälde hängen (San Bartolomé, San Sebastián, San Jerónimo, San Pedro). Zu meiner Überraschung sagt Rosario zu dieser Hauptattraktion der Kirche wenig (mag sie Ribera nicht?) und lenkt unsere Aufmerksamkeit lieber auf eine prachtvolle Monstranz.

"Dazu will ich Euch eine Geschichte erzählen." Vor ein paar Jahren gab es Restaurierungsarbeiten in der Kirche. Dabei sei diese Monstranz gestohlen worden. Einer der Bauarbeiter habe tatsächlich versucht, das meterhohe Barockkunstwerk an einen russischen Millionär zu verkaufen, doch dieser Plan sei fehlgeschlagen. "Entweder hatte der Millionär Angst vor dem Risiko, weil diese Monstranz zu bekannt ist oder er hatte im letzten Moment Skrupel, weil ihm das Diebesgut doch zu heilig war..." Die Studentin hinter mir flüstert einen Tick zu laut: "Vielleicht war sie ihm einfach nur zu teuer..." Rosario schleudert einen sehr bösen Blick auf die Absenderin dieses Kommentars. "Wie dem auch sei", setzt sie ihre Erzählung mit gebieterischer Stimme fort, "die Diebe konnten die Monstranz nicht verkaufen und am Ende packte sie vielleicht auch die Reue, etwas Heiliges aus einer Kirche gestohlen zu haben. Sie vergruben sie hier in der Nähe und legten einen Zettel in die Kirche mit dem Hinweis, wo das gute Stück zu finden sei. Und jetzt schaut Euch dieses Wunderwerk an."

Die Frage der Frau aus Barcelona nach den mangelnden Sicherheitsvorkehrungen in dieser Kunst-Kirche kommentiert Rosario mit den Worten, dass sie schon manchmal Angst habe, vor allem im Winter, wenn kaum Besucher kämen und sie in der riesigen Kirche ganz allein wäre mit all den Kunstschätzen und dann plötzlich ein verdächtiges Geräusch höre: "Stellt euch nur vor, dass ein einziges Ribera-Gemälde eine zweistellige Millionensumme wert ist...und dann ich ganz allein hier als Hüterin dieser Schätze. Da kann einem schon mulmig werden..."

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Und noch eine Geschichte hat Rosario in ihrem Repertoire. Sie erzählt uns von den Dreharbeiten zu "Game of Thrones" in Osuna: "Da gab es unten auf der Plaza lange Schlangen von jungen Leuten, die sich um Rollen als Komparsen bewarben. Viele haben sich ihre schicksten Kleider angezogen, die Mädchen haben sich geschminkt und parfümiert und einige die Haare blond gefärbt, als wollten sie Prinzessinnen spielen. Aber die Hauptrollen waren ja schon längst besetzt und die Casting-Agentur hat eben nur Komparsen gesucht. Am Ende sind sie ins Nachbardorf gefahren und haben dort die Hässlichsten und Dreckigsten direkt von der Feldarbeit weg engagiert." Mit einem leicht maliziösen Lächeln verrät Rosario ihre Schadenfreude, als sie ihr Fazit aus dieser Geschichte zieht: "Die Dorf-Prinzessinnen hatten sich die Haare umsonst blondiert..."

Und nun folgen wir unserer Führerin treppab in die Gruft, wo uns die Grabmäler toter Herzöge von Osuna erwarten. Rosario defiliert mit uns vorbei am morbiden Panorama Dutzender Herzogs-Sarkophage mit prächtig eingravierten Inschriften und bleibt abrupt vor dem letzten stehen. Dieses Grabmal ist sehr minimalistisch und ganz ohne Inschrift. Mit kaum versteckter Empörung in der Stimme verrät uns Rosario, dass hier die letzte Herzogin von Osuna ihre Ruhestätte hat und obwohl sie schon vor Jahren verstorben sei, hätten ihre Nachfahren es bisher nicht geschafft, die übliche Inschrift mit Namen und Lebensdaten anbringen zu lassen. "Trotz allem, was diese Herrschaften von ihr geerbt haben... Deshalb habe ich mir erlaubt, wenigstens mit einem Zettel den Namen der toten Herzogin zu ehren." Mit diesen Worten zeigt uns Rosario ein sorgfältig gefaltetes handgeschriebenes Papier auf dem Sarkophag. Dann lassen wir die Steinsärge hinter uns und wenden uns wieder schöneren Kunstwerken zu.

Wir werden in die einzigartige unterirdische Kirche von Osuna geführt. Sie hat zwar eher die Dimension einer Privat-Kapelle, wirkt aber in ihrer dreischiffigen Pracht und mit ihren spektakulären Kunstschätzen wie eine Kathedrale im Miniaturformat. Denn alles, was Kathedralen auszeichnet, ist vorhanden: ein Chorgestühl (wenn auch nur mit 11 Sitzen), eine prunkvoll vergoldete Kassettendecke, Marmorsäulen, erstklassige Gemälde und ein wunderbarer Hochaltar des flämischen Meisters Roque Balduque, der die ergreifende Szene der Grablegung des Erlösers darstellt (1540).

Rosario nimmt jetzt ihr Quizduell mit mir wieder auf und fragt, welcher viel größere und viel berühmtere Hochaltar diesen hier zum Vorbild genommen habe und fast wie eine vergrößerte Kopie aussehe. Noch fünf Minuten zuvor war ich ahnungslos, aber beim Anblick dieses faszinierenden Kunstwerks fällt mir die Ähnlichkeit sofort auf: "Offenbar hat sich der geniale Pedro Roldán für seinen Hochaltar der Grablegung Christi für die Kirche des Hospital de la Caridad in Sevilla hier inspiriert." Stumm nickt Rosario mit dem Kopf, sie hatte meine Antwort wohl erwartet und ich weiß nicht, ob ihr merkwürdiges Lächeln Ärger oder Befriedigung über mein Wissen ausdrücken soll.

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Kaum sind die anderen die Treppe hinunter gegangen, fragt mich Rosario plötzlich flüsternd: "Willst Du ein Foto machen?" - "Aber ich dachte, das sei verboten?" - "Jetzt mach schon, bevor die anderen wieder kommen!" Offenbar war dies die Belohnung für die richtig beantworteten Fragen. Abrupt zücke ich die Kamera und verewige diese unterirdische Schatzkammer zu meiner Erinnerung.

Wir steigen wieder empor zum Tageslicht und der Blick nach draußen zeugt, dass ein kurzes aber heftiges Gewitter nieder gegangen ist, während wir in der Gruft weilten. Doch inzwischen scheint wieder die Sonne und taucht die Renaissancekirche auf dem Hügel in unwirkliches Licht vor düster abziehenden Gewitterwolken. Beim Abschied stellt Rosario uns noch eine letzte Frage (nur an mich): "Du als Deutscher müsstest das wissen: was haben Osuna und Berlin gemeinsam?" Jetzt hat sie mich aber! Alle schauen erwartungsvoll. Ich weiß es wirklich nicht (bin schließlich Kölner!).

Rosario kostet ihren finalen Triumph aus, gibt mir noch Bedenkzeit, vergeblich. "Osuna und Berlin haben dasselbe Wappentier: es ist ein Bär!", klärt sie uns alle auf. Und damit geht eine außergewöhnliche Besichtigungstour durch eine der prächtigsten Kirchen Europas zu Ende und ich danke Rosario für ihre Geduld, grandiose Anekdoten, das Quiz-Duell und ein illegales Foto.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Colegiata de Osuna: Öffnungszeiten: von Oktober bis April 10:00 - 13:30 und 15:30 bis 18:30; von Mai bis September 10:00 bis 13:30 und 16:00 bis 19:00 Uhr. Montags geschlossen (im Juli und August auch Sonntagnachmittags geschlossen). Eintritt: Kombiticket (4 Euro), das auch für das gegenüberliegende Kloster Encarnación mit dem Museo de Arte Sacro gilt.

Unterkunft in Osuna: Hospedería del Monasterio, Plaza de la Encarnación, 3, 416 40 Osuna, Spanien, Tel. +34 955 82 13 80, http://hospederiadelmonasterio.com/
In bester Lage, zwischen der Stiftskirche und dem Kloster La Encarnación, bietet dieses Hotel Zimmer in historischem Gemäuer und luxuriösem Ambiente schon ab 48 Euro (EZ) bzw. 59 Euro (DZ). Zudem elegantes Restaurant / Tapas Bar mit Terrasse und erstaunlich günstigen Preisen.

Gastronomie in Osuna: Taberna Jicales:  C. Esparteros 11, Tel. 954-810423, http://tabernajicales.multiespaciosweb.com/
Rustikale Tapas-Bar mit den üblichen andalusischen Spezialitäten in besonders guter Ausführung (Salmorejo, Croquetas Caseras, gebackene Gambas mit Bechamelsauce, Rinderfilet mit Pedro-Ximenez-Sauce, Kabeljau mit Pinienkernen, etc.)

[druckversion ed 01/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Peru: Fairer Kaffeegenuss

Durch Lucmabamba schallt das Rattern handbetriebener Kaffeeschälmaschinen. Es ist Erntezeit und weil alle Bewohner Lucmabambas Kaffeebauern sind, herrscht in dem andinen Dörfchen Hochbetrieb. Auf den Feldern pflücken Männer und Frauen die reifen Kaffeekirschen von den Sträuchern und schälen sie anschließend auf ihren Bauernhöfen mit einfachen Maschinen. In jeder Kirsche befinden sich zwei Kaffeebohnen, die 14 Stunden fermentiert und dann zum Trocknen in der Sonne ausgelegt werden. So verwandeln sie sich innerhalb von vier Tagen zu Pergamentkaffee und damit einer wichtigen Ware.

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Kaffee wird als Rohstoff an der New Yorker Börse gehandelt und ist Gegenstand ständiger Börsenspekulationen. Allerdings sind Kleinbauern in abgelegenen Weilern wie Lucmabamba von dieser Geschäftemacherei ausgeschlossen. Mangels Alternative verkaufen die meisten kleinen Produzenten ihren Pergamentkaffee an Zwischenhändler, die in der Erntezeit durch die Dörfer ziehen. Weil viele Kleinbauern über eine nur unzureichende Schulbildung verfügen und ihnen die aktuellen Börsenkurse nicht bekannt sind, werden sie von den Zwischenhändlern immer wieder übervorteilt. Die Produzenten erhalten so wenig Geld für ihre Ernte, dass sie davon kaum leben können.

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Bei Enrique Álvarez Davalos ist das anders, denn er ist Mitglied der Kooperative Huadquiña, die zum Kooperativen-Zusammenschluss COCLA gehört. "Bei COCLA sind 8.000 Kleinbauern vereint und wir haben gemeinsam schon viel erreicht! Beispielsweise hat IMO (Institut für Marktökologie) unseren Kaffee biozertifiziert und wir verkaufen den Großteil unserer Ernte über den Fairen Handel. Der garantiert einen angemessenen Mindestpreis und langfristige Handelsbeziehungen. Außerdem erhalten wir eine zusätzliche Prämie für Gemeinschaftsprojekte" erzählt Enrique begeistert.

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Trotz Fairen Handels lebt Enrique mit seiner sechsköpfigen Familie in bescheidenen Verhältnissen. Aus Mangel an elektrischen Haushaltshelfern muss seine Ehefrau Teofila die Wäsche von Hand waschen und das Essen in ihrer einfache Küche über dem offenen Feuer zubereiten. Nachrichten kommen aus einem winzigen Transistorradio, weil es weder Fernseher noch Internetzugang gibt. "Wir haben hier nicht viel Luxus, aber unsere Lebenssituation hat sich in den letzten Jahren verbessert", berichtet Enrique zufrieden. Mit der Fair-Handels-Prämie hat COCLA beispielsweise Gesundheitskomitees gebildet, die nun in arztlosen Gemeinden wie Lucmabamba medizinische Nothilfe leisten. Außerdem haben die Familien gelernt, ihre Höfe sauber zu halten, um so Krankheiten zu vermeiden. Mit dem Zusatzgeld führt COCLA auch Schulungen durch, in denen die Kaffeebauern lernen, wie man Sprösslinge züchtet, gegen Plagen effektiv angeht und organischen Dünger selbst herstellt. Weiterhin kümmert sich die Kooperative um das Transportwesen, weil es vom Pergamentkaffee bis zum exportfertigen Produkt noch ein weiter Weg ist.

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Kooperativeneigene LKWs bringen den Pergamentkaffee aus den Dörfern zum COCLA-Hauptsitz in Quillabamba. Mit riesigen Maschinen werden hier die Kaffeebohnen aus der Pergamenthaut herausgelöst, gereinigt und nach Größe sortiert. So entsteht Rohkaffee, den COCLA exportiert. In den Bestimmungsländern rösten und verpacken die Handelspartner die Bohnen, wo man sie dann ganz oder gemahlen fair gehandelt in Weltläden, Bioläden, Drogerien und Supermärkten kaufen kann.

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Weil die 8.000 Mitglieder COCLAs in weit verstreuten Weilern ihren Kaffee anbauen, gibt es Geschmacksunterschiede. German Serrano Escobar ist ein Kaffeesommelier und führt bei COCLA Qualitätskontrollen durch. "Den Kaffeegeschmack beeinflussen Anbauhöhe, Bodenbeschaffenheit, Klima und Sorte, wobei unsere Bauern fast ausschließlich hochwertigen Arabica-Kaffee anbauen. Ihren Kaffee beurteile ich im Hinblick auf Geruch, Geschmack, Säure, Körper und Balance. Das geschieht bei einer Kaffeeverkostung in unterschiedlichen Phasen", doziert German. Vor ihm stehen mehrere Kaffeeproben. Er riecht zunächst den frisch gemahlenen und dann den aufgebrühten Kaffee, bevor er ihn schlürft, langsam im Mund hin und her bewegt und dann wieder ausspuckt. Begriffe wie blumig, karamellig und fruchtig fallen. Punkte werden vergeben, wobei Germans Gesamturteil positiv ausfällt. Es ist auch eine Probe der Kooperative Huadquiña dabei, der Enrique angehört. Der Bio-Kaffee aus Lucmabamba hat einen nussig-schokoladigen Geschmack gepaart mit milder Säure. Er wird in 2000 Meter Höhe angebaut und weist damit exzellente Hochlandqualität auf. Ob als Filterkaffee, Cappuccino oder Espresso verspricht er höchsten Kaffeegenuss. Und dank des Fairen Handels kann man beim Genießen Armut reduzieren.

Text + Fotos: Dr. Jutta Ulmer + Dr. Michael Wolfsteiner

Über ihren Besuch bei COCLA und Kaffeebauer Enrique berichten Jutta Ulmer und Michael Wolfsteiner auch in ihrer neuen Multivisionsshow "Die Anden: Fairer Handel, Trekking, Schamanismus".

Weitere Informationen zu den Autoren und ihrem Projekt findet ihr unter:
www.lobOlmo.de & www.facebook.com/lobOlmo

[druckversion ed 01/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]





[art_3] Uruguay: Fußball und Politik
Die zwei Religionen Uruguays
 
Die Begeisterung und der Fanatismus, die in anderen (südamerikanischen) Ländern noch immer für die Religion aufgebracht werden, haben in Uruguay vor allem zwei andere Kultobjekte gefunden: Fußball und Politik. Gerade der Fußball löst als Breiten- und als Spitzensport eine Euphorie, Hingabe und Identifikation aus, die selbst uralte Fußballnationen wie England, Deutschland oder Italien blass dastehen lassen. Egal ob auf Straßen und Plätzen, im Park, am Strand oder selbst an den Bushaltestellen: Fußball wird überall gespielt, und die Fußballergebnisse vom Wochenende bestimmen noch Tage danach die Unterhaltungen. Wer fündig wird, kauft sich sogar die Thermosflasche für seinen Mate-Tee in den Farben seines Vereins. Die beiden Weltmeisterschaftssiege 1930 und 1950 (vor allem der Triumph über Brasilien, den großen Nachbarn und Rivalen im Norden), die beiden Olympiatitel und natürlich die zahllosen Siege bei der Copa América machen einen wichtigen Teil des Selbstbewusstseins der Uruguayos aus und werden im weltweit ersten Fußball-Museum in Montevideo entsprechend gewürdigt.

"Equipo Celeste" (Himmelblaue Mannschaft) heißt die Nationalmannschaft in Anlehnung an die Farbe der Trikots, die sich wiederum an der Farbe der Staatsflagge orientiert. Und "Nací Celeste" (Ich wurde himmelblau geboren) von der Rockgruppe "No Te Va Gustar" lautet die Fußballhymne der Uruguayos, die auch gerne als inoffizielle Nationalhymne bezeichnet wird.

Wenn die Himmelblauen bei internationalen Wettkämpfen spielen, freuen sich schon vorher die Fernsehverkäufer (und die Banken, die extra Kredite für den Erwerb eines neuen und größeren Geräts anbieten), denn: Das ganze Land schaut zu. Wer nicht zu Hause vor dem Bildschirm sitzt, steht mit Fahne, Schal und Tröte ausgerüstet auf den Plätzen der Städte und schwenkt die Nationalflagge. Nach den Siegen ihrer Himmelblauen füllt ein Meer aus Fahnen die Avenida 18 de Julio in Montevideo. Selbst auf den Stufen des Monuments für den Nationalhelden Artigas werden Fahnen geschwenkt.

Ein ähnliches Bild bekommt man in Uruguay bei Wahlen zu sehen. Dann strömen ebenfalls Tausende von Menschen auf die Straßen und schwenken die Fahnen ihrer Partei und die der Nation. Wobei Politik nicht nur ein Grund für Begeisterungsstürme ist. Die Parteien und ihre Gruppierungen sind traditionell tief in der Gesellschaft verankert, die Identifikation mit ihnen war sehr lange Zeit außergewöhnlich hoch. Nach der Unabhängigkeit Uruguays bekämpften sich die Anhänger der beiden traditionellen Parteien "Blancos" und "Colorados" über viele Jahrzehnte sprichwörtlich bis aufs Messer. Die "falsche" Parteizugehörigkeit war oft Grund genug, jemanden umzubringen oder aber zumindest abgrundtief zu hassen. Noch heute entflammen selbst unter Freunden und Verwandten heftigste Konflikte, wenn es um Politik geht. Daher kam es einem Quantensprung gleich, als sich die Uruguayos von diesen beiden Parteien abwandten und die neue Regierungspartei Frente Amplio wählten. Der Schriftsteller Eduardo Galeano hat das geradezu religiöse Verhältnis der Uruguayos zu Politik und Fußball sehr treffend auf den Punkt gebracht, als er sagte: Ein Mann kann zwar seine Frauen wechseln, jedoch weder seine Partei noch den Lieblingsverein.

Text + Foto: Lars Borchert

Reiseführer Uruguay: Dieser Text ist dem Reiseführer Uruguay – Handbuch für individuelles Entdecken erschienen im Reise Know-how Verlag entnommen. Wer nicht bis zum nächsten Caiman warten, sondern möglichst schnell mehr über Uruguay erfahren möchte, kann sich diesen Reiseführer für 16,95 Euro unter info@larsborchert.com persönlich beim Autor bestellen oder im gut sortierten Buchhandel kaufen.
Titel: Uruguay – Handbuch für individuelles Entdecken
Autor: Lars Borchert
ISBN: 978-3831725908
Seiten: 300
Verlag: Reise Know-How
1. Auflage 08/2015

[druckversion ed 01/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: uruguay]





[art_4] Brasilien: Der Wilde sieht mich an

In der Tiefe seiner Augen funkelt eine unendliche Weisheit. "Woher kommst du?", fragt der Wilde. "Aus Deutschland", sage ich, und sehe einen Funken von Verständnislosigkeit in seinem Blick. "Jaja, ich weiß!", antwortet er, ein wenig ungeduldig, "Aber von wo da? Marburg, hast du gesagt, oder? Ist das nicht in der Nähe von Frankfurt? Frankfurt kenne ich, Hannover, Berlin und Köln auch, aber in Marburg war ich noch nicht. Schön da?"

Obwohl ich nicht zum ersten Mal mit brasilianischen Indianern zu tun habe, mache ich immer noch hin und wieder denselben Fehler: Ich unterschätze ihre Weltgewandtheit.


Als Crocodile Dundee in die Kinos kam, war ich jung genug, um den Film toll zu finden. Da gibt es eine Szene, die mir immer wieder einfällt, seitdem ich mich mehr oder weniger professionell mit dem Fremden beschäftige: Die weiße Frau richtet ihre Kamera auf den halbnackten Aborigine. Der sagt ganz aufgeregt, dass sie ihn so nicht fotografieren könne. Darauf fragt sie, ob das sei, weil er glaube, dass der Apparat ihm dann die Seele stehlen würde. Und er antwortet, nein, weil sie den Deckel noch nicht vom Objektiv genommen habe. Eigentlich ein billiger Witz. Aber diese Art Begegnung zwischen vermeintlich Zivilisierten und vermeintlich Primitiven ist heute nach wie vor aktuell, kommt öfter vor als man denkt und kann immer noch verblüffen, weil sie mit mächtigen Klischees bricht.

Die Indianer, mit denen ich diesmal zu tun habe, sind Politiker und Diplomaten. Sie bereisen ihr Land und andere, begegnen sich auf internationalen Kongressen und haben mehr Ahnung von verschiedenen Handymodellen als ich (was allerdings nicht viel heisst).

Einer der ersten ihrer Art, und sicherlich einer derjenigen, die am meisten Aufsehen erregt haben, war der Xavante Mário Juruna. Juruna hatte Ende der siebziger Jahre, zur Zeit der Entstehung der Indianerbewegung, mehrere hohe Funktionäre der brasilianischen Indianerbehörde über ihre Verfehlungen zur Rede gestellt und deren - teils recht lächerliche - Ausflüchte mit einem Diktiergerät festgehalten, und zwar aus folgendem Grund:

"Die Weißen versprechen viel. Dann vergessen sie alles gleich wieder. Und die Indianer haben keinen Beweis in der Hand. Deshalb habe ich mir ein Tonbandgerät gekauft. Alle Weißen sollten ebenfalls ein Tonbandgerät benutzen. Aber die Zivilisierten sind dumm: Sie haben gute Sachen, machen aber keinen Gebrauch davon." [*]

Mit seinen Aufnahmen und durch sein Aufnehmen - denn dass ein Indianer eine Errungenschaft der Weißen gegen sie wandte, war auf so öffentlicher Bühne noch nicht vorgekommen - erregte Juruna die Aufmerksamkeit der Presse, wurde berühmt und in kurzer Zeit zu einer Leitfigur der Indianerbewegung. Später war er der erste indianische Abgeordnete im brasilianischen Parlament. Was Diktiergeräte angeht, so kann man vermuten, hat seine Erfolgsgeschichte unter politisch aktiven Indianern eine neue Tradition begründet.


Nach einer gewissen Zeit als Held des indianischen Widerstandes fiel er allerdings wegen eines Korruptionsskandals in Ungnade, jedenfalls wenn ich Paulo Titiá glauben darf, einem Pataxó-Hãhãhãe aus Bahia, der mir erzählte, dass Juruna aufflog und das Geld zurückgeben musste; dass seine Frau ihn rausschmiss und ihm all sein Geld wegnahm; dass seine zweite Frau ihn ebenfalls rausschmiss und ihm nochmal all sein Geld wegnahm; dass ihm eine Kuh in den Rücken trat und er schließlich arm und im Rollstuhl starb.

Dass Indianer, die eine Karriere in der Indianerbewegung einschlagen, und sei es auch, um die Situation in ihrem Heimatdörfern zu verbessern, in den Dörfern in Ungnade fallen, ist kein Einzelfall. Dass sie sie sich im Rahmen ihrer politischen Aktivitäten in eine Welt begeben, deren Bedingungen sie vom dörflichen Alltag und seinen Realitäten entfernen, ist fast die Regel.

So kommt es oft zu Verständigungsproblemen zwischen indigenen Organisationen und den Dorfbevölkerungen, die von ihnen repräsentiert werden sollen. Dabei kann auch eine Art Generationenkonflikt eine Rolle spielen: In den Dörfern waren es die alten Eliten, die das Sagen hatten, wohingegen in den politischen Organisationen der Indianer es eher die jüngeren Jahrgänge waren, die außerhalb der Indianergebiete Macht ansammelten. Damit der Konflikte nicht genug: Diese erste Generation der Indianerbewegung ist nun im Begriff von einer zweiten abgelöst zu werden, die ihre Ziele auf wiederum andere Weise verfolgt.

Manch einem Funktionär der staatlichen Indianerbehörde FUNAI (Fundação Nacional do Índio) fällt es schwer, den nach westlichem Muster politisch organisierten Indianern über den Weg zu trauen. Das ist insofern nicht völlig unberechtigt, als dass man ohne ausgiebige Besuche in den Dörfern selbst nie ganz genau wissen kann, inwieweit eine indigene Organisation tatsächlich mit der Stimme der Gruppe spricht, die sie repräsentiert - ganz abgesehen davon, dass die "Stimme der Gruppe" oftmals so einstimmig ohnehin nicht ist, da indianische Gemeinschaften meist komplexer und uneiniger sind, als man gemeinhin annimmt.

Die Form, in der ebenso Regierung wie Hilfsorganisationen die Lebensqualität in den Dörfern zu verbessern suchen, ist in den meisten Fällen das "Projekt" - eine zeitlich begrenzte Maßnahme, die zwar auf Nachhaltigkeit abzielt, diese aber selten erreicht. So wird "Projekt" zu einem Zauberwort, zu dem Angelpunkt, um den sich die Beziehungen zwischen indigenen Organisationen, Indianerbehörde und NROs drehen.

Manchmal besucht uns ein Anführer der Xavante aus Mato Grosso hier im Büro, der irgendwelche Angelegenheiten mit der FUNAI zu regeln hat. Er plaudert ein wenig, und bevor er wieder geht, nimmt er mich beiseite, jedesmal, und sagt mir in verschwörerischem Tonfall, dass ich doch Dirk anrufen soll und ein Projekt für die Xavante klarmachen. Ich kenne keinen Dirk, aber der Xavante hat mich wissen lassen, dass Dirk bei der UNO ist und auch Deutscher. In den Augen des indianischen Anführers heißt das scheinbar, dass a) Dirk und ich uns kennen müssen und b) ich einen gewissen Einfluss auf Dirk habe. Tatsächlich ist dieser Gedanke gar nicht so abwegig: Auf dem Parkett der internationalen Zusammenarbeit in Brasilien, auf dem ich mich zur Zeit bewege, kennt man sich. Der Xavante hat nur das Pech, dass er mit mir an einen unbedarften Praktikanten der GTZ geraten ist, der schon froh ist, gerade mal die Hälfte der wichtigen Namen und Abkürzungen verinnerlicht zu haben und inzwischen den Gesprächen seiner Kolleginnen und Kollegen einigermassen folgen zu können.


Jedenfalls: Um den komplizierten verwaltungstechnischen und gesetzesbedingten Vorgaben für den Empfang von Projektgeldern gerecht zu werden, braucht es eine juristische Person. Eine indigene Gemeinschaft kann keine juristische Person sein, dafür braucht es einen eingetragenen Verein, also eine indigene Organisation. So entsteht manch eine solche Organisation erst im Rahmen der Ausarbeitung eines Projektes zwischen indianischen Anführern, Repräsentanten der Indianerbehörde, ethnologischen und sonstigen Beratern und NROs. Und manch eine verschwindet dann auch wieder oder wird zur Karteileiche, wenn das Projekt abgeschlossen ist. Andere dagegen haben eine lange Geschichte des Kampfes um indianische Rechte, so die FOIRN (Federação das Organizações Indígenas do Rio Negro) aus dem Rio-Negro-Gebiet im äußersten Nordwesten des Landes.

Je umfassender das Gebiet ist, das eine solche Organisation unter ihrer Schirmherrschaft vereinigen will, desto mehr machen sich interkulturelle Verständigungschwierigkeiten bemerkbar - und zwar nicht zwischen Weißen und Indianern (die gibt es natürlich weiterhin auch), sondern zwischen Indianern und Indianern, die untereinander kulturell durchaus verschiedener sein können als, sagen wir, Dänen und Iraner. So will die Koordination der indigenen Organisationen des brasilianischen Amazonasgebietes (COIAB) zwar ihrem Namen gerecht werden und alle Indianerorganisationen Amazoniens unter einer Flagge vereinen, aber einige ihrer Vertreter selbst lassen durchblicken, dass sie zum Beispiel mit den Gruppen der Gê-Sprachfamilie (zu denen unter anderen die Xavante gehören) nicht besonders gut zurechtkommen. Hier tut sich womöglich ein neues Arbeitsfeld für Ethnologen auf, die es ja bekanntermaßen mit der Arbeitssuche ohnehin nicht besonders leicht haben: Es gilt, im Auftrag der indigenen Organisationen dem einen Indianer zu erklären, wie der andere Indianer tickt, und umgekehrt.

Bisher begegnet man den Schwierigkeiten der Verständigung in diesem überaus komplizierten Gefüge aus Beziehungen zwischen weißen Brasilianern, internationalen Weißen, verschiedenen brasilianischen Indianern und den jeweils unterschiedlichen Organisationskulturen einer jeder dieser Gruppen mit einer großen Zahl von Seminaren, Kongressen und Treffen.

Auf einem solchen befinde ich mich, als ich in die Augen des Wilden blicke. "Gehen wir mit den anderen Indianern sprechen", sagt dann der Wilde und deutet auf die angeregt den Verlauf des heutigen Workshops diskutierende Gruppe am Ende des Ganges. "Vielleicht können wir ein kleines Stückchen Land für dich rausschlagen. Da kannst du dann Sauerkraut pflanzen."

Text + Fotos: Nico Czaja

[* Mário Juruna, zit. nach De Sousa (1978): Juruna, der Wilde mit dem Tonband oder: Die unvernünftige Zivilisation. In: Münzel (Hg.) Die indianische Verweigerung. Lateinamerikanische Ureinwohner zwischen Ausrottung und Selbstbestimmung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 42]

[druckversion ed 01/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[kol_1] Hopfiges: Xibeca, Estrella und der Hunger

Wir flogen von Memmingen aus nach Girona in Katalonien. Von Berlin aus nicht der nahegelegenste Flughafen, aber eine märchengleiche Hochzeit am Starnberger See hatte uns nach Bayern geführt. Eine Hochzeit in Reichweite des Klosters Andechs. Dort brennen sie einen guten, sehr süffigen Obstler. Ideal zur emotionalen Einstimmung, wenn sich die Hübschen das Ja-Wort geben, ideal gegen winterliche, regnerische Kaltwetterfronten über dem See und ideal zur Einstimmung auf 10 Tage Kinderferien mit Papas.

Aus Sicht der Papas nicht zuletzt mit dem Ziel, möglichst viele Biere zu verkosten. Handwerklich hergestellte Biere kleiner Brauereien, Eigenmarken von Supermarktketten und einfach alle Biere, die wir noch nie getrunken hatten.



Tag 1: Sonntags sind auch an der nördlichen Costa Brava in ausgewählten Städten die Supermärkte bis 15 Uhr geöffnet. Wir konnten also direkt nach der Landung mit dem ersten Einkauf eine ganze Reihe uns unbekannter Biere erstehen. Als Basis jedoch führt natürlich kein Weg vorbei an Xibeca und Estrella.

Xibeca, das leichte, so sensationell, weil unglaublich zurückhaltend im Geschmack, Estrella, das unvergleichbar angenehm in der Hand liegende. Die 0,33 Liter Dose der katalanischen Hausmarke ist mit einer die Sinnen schmeichelnden und die Haut zärtlich streichelnden Oberfläche versehen.

Nach dem Einkauf haben die Kinder Hunger. Also rüber zu Conce und Paco. Über den Feldweg, der das Restaurant im Nachbardorf mit unserem verbindet. Paco strahlt: "Jungs, ich hab von San Miguel zu Estrella gewechselt." Und stellt uns zwei gezapfte, mit einer dünnen Eisschicht überzogene Gläser auf unseren Tisch in der Sonne. Kinder glücklich mit Melone und Schinken, Fisch und Pommes und zum Abschluss Eis, Papas glücklich, dass auf dem Rückweg nur der Feldweg zu meistern ist. An Verkostung war an diesem Tag nicht mehr zu denken.

Tag 2: Wanderung auf der Cap de Creus zum kleinen Leuchtturm. Im Gepäck die geliebten Estrella-Dosen. Zurück mit Hunger. Grillen und dazu passend Xibeca. Keine Verkostung möglich.


Tag 3: Vierter Papa reist an mit Geburtstag. Er wünscht sich: Estrella und Fisch. Bekommt er auch. Erste Craft Biere finden den Weg aus dem Kühlschrank in den Vorratskeller, um Platz zu schaffen. Nichts ist’s mit Testen neuer Sorten.

Tag 4: Irgendwie haben die Kinder – nach Absage des 5. Papas bleibt es bei sechs an der Zahl – immer Hunger. 7.30 Uhr: Müsli. 9.30 Uhr: Würstchen und Spiegelei. Wandern auf der Cap de Norfeu mit 12 Uhr: Picknick. Rückfahrt 14.30 Uhr: Hungerstillen mit Baguette.

17 Uhr: Die ersten Kinder sterben schon vor Hunger, was die Stimmung drückt. Schnell ne Pasta und viel Xibeca. 19 Uhr: Bananen und Cornflakes. Zur Vermeidung, dass wir mit den Kindern in die Federn sinken, hilft definitiv kein Verkosten eines neuen Bieres, sondern Cuba Libre.

Tag 5 bis Tag 9: 6.30 Uhr: Frühstück! Frühstück! Sechs Kinder springen abwechselnd auf vier Papas herum und schreien ihren ohrenbetäubenden Hungergesang. 8.30 Uhr: Das 2. Frühstück ist beendet. Aber nicht, weil die Kleinen satt wären, sondern weil es zu wenig Würstchen gab und die "Monster" grölend und streitend zum Dorf-Metzger gezogen sind. Vier Papas versuchen mit vereinten Kräften ein wenig Ordnung ins Küchenchaos zu bringen, da hilft nur um 8.45 Uhr: Xibeca. Verkostung rutscht ins Abseits.

Tag 10: Nach der morgendlichen hungerstillenden Routine und dem Packen, denn in drei Stunden geht der Flieger, fällt uns ein einsames kühles Craft Bier, das sich ganz hinten im Kühlschrank hinter drei Liter-Flaschen Xibeca (köstlich im Anblick) und sechs Estrella-Dosen (bei Berührung Verzehrung unausgeschlossen) verschanzt hatte, entgegen. Während Xibeca und Estrella mit auf Tour gen Flughafen gehen, verbleibt Craft mit dem Versprechen der baldigen Verkostung zurück.

Die riesigen vier Baguettes und die 30 Würstchen stillen den Hunger gerade mal bis Bremen. Dann muss ein Papa losziehen, um in den fünf Minuten bis zur Abfahrt des Zuges Nachschub zu besorgen.

Vor dem Brezel-Bäcker eine lange Schlange. Nach vier Minuten erfolgreich, allerdings reicht die Zeit wirklich nicht mehr, auch noch Bier zu besorgen. Im Zug sitzen brezelglückliche Kinder Seite an Seite mit verstörten Papas. Da spricht mich ein Andechser Mönch an: Mogst an Obstler?

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 01/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: hopfiges]





[kol_2] Erlesen: Es el Peronismo, estúpido
Fernando Iglesias und der Mythos Peronismo

Der Journalist und Schriftsteller Fernando Iglesias ist nicht dafür bekannt, Konfrontationen zu meiden. Über die Jahre untersuchte er in seinen Büchern Argentiniens politisches und wirtschaftliches Modell, stellte sich kritisch zur nationalen Ausschlachtung der Falkland / Malvinas Problematik durch die Politik, begründete über hunderte Seiten seine tiefe Abneigung gegen den Kirchner-Clan und entwarf Modelle für eine globale
Demokratie.

Es el Peronismo, estúpido
Fernando Iglesias
Editorial: Galerna
I.S.B.N : 9789505566365
Formato: Libros
Páginas:567
Publicación:10/08/2015 | Idioma:Español

Mit seinem neuesten Buch "Es el Peronismo, estúpio" erreicht der ehemalige Parlamentsabgeordnete nun jedoch bisher unbekannte Bereiche der öffentlichen Aufmerksamkeit. Kaum ein Tag verging in den letzten Wochen, an denen nicht im argentinischen Fernsehen über Iglesias knallharte These diskutiert wurde: der Peronismo hat das Land zerstört.

https://www.youtube.com/watch?v=zyrvcTsE8y4

Über weite Strecken des letzten Jahrhunderts stellten Peronisten den argentinischen Staatschef, und auch der seit über zehn Jahren regierende Kirchner-Clan stellt sich selbstbewusst in diese Tradition. Alleine in den letzten 26 Jahren regierten Peronisten nicht weniger als 24 Jahre. In Iglesias Buch, dass derzeit zu den meist verkauften in Argentinien zählt, räumt Iglesias nun mit einer ganzen Reihe populärer Glaubenssätze auf und entlarvt sie als Mythos: so wurde beispielsweise die Gesetzgebung, die die Bedingungen der Arbeiter in Argentinien verbesserte, bereits vor der Machtergreifung der Peronisten verabschiedet und nicht durch diese.

https://www.youtube.com/watch?v=76ZSZxpQb4s

Zudem verweist Iglesias auf die historische Nähe des Peronismo zu den Militärs und den Beitrag peronistischer Politiker bei den diversen Militärputschen des letzten Jahrhunderts. Argentiniens Verhältnis zum Peronismus vergleicht Iglesias mit dem einer von ihrem Ehegatten verprügelten Frau, die glaubt, die schlechte Behandlung verdient zu haben. Genau wie die geschlagene Frau nähmen die Argentinier es geradezu widerspruchslos hin, von ihren peronistischen Politikern derartig behandelt zu werden.

Im Folgenden findet ihr einige der besten Auftritte von Fernando Iglesias:
http://www.continental.com.ar/escucha/archivo_de_audio/fernando-iglesias-en-los-estudios-de-continental/20150819/oir/2899729.aspx

Text und Fotos: Thomas Milz

Fernando Iglesias auf Caiman.de:
http://www.caiman.de/07_09/art_2/index.shtml
http://www.caiman.de/01_08/kol_1/index.shtml

Weitere Bücher von Fernando Iglesias:
La Cuestión Malvinas: Crítica del Nacionalismo Argentino (Ed. Aguilar, 2012)

La Modernidad Global: Una Revolución Copernicana en los asuntos humanos
(Ed. Sudamericana, 2011)

¿Qué significa ser progresista en la Argentina del Siglo XXI?
(Ed. Sudamericana, 2009)

Kirchner y yo- por qué no soy kirchnerista (Ed. Sudamericana, 2007)

Globalizar la Democracia- Por un Parlamento Mundial (Ed. Manantial, 2006)

¿Qué significa hoy ser de Izquierda? (Ed. Sudamericana, 2004)

Twin Towers: el colapso de los estados nacionales
(Edics. Bellatera, Barcelona, 2002)

República de la Tierra-Globalización: el fin de las Modernidades Nacionales
(Ed. Colihue, 2000)

[druckversion ed 01/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]






[kol_3] Traubiges: Das Herz der Hüfte
Stagnari Tannat ‚Del Pedregal’ 2013
 
Es war kurz vor Weihnachten. Das Jahr ging dem Ende zu, und der Stresspegel stieg beständig. Grund genug für ein paar Berliner Uruguay-Aficcionados sich zu treffen, um einen entspannten Abend zu verbringen und sich in Nostalgien über das Land zu vereinigen, das sie alle unter anderem für seine entschleunigte Lebensweise lieben. Zwei von ihnen haben vor einem guten Jahr begonnen, uruguayische Weine zu importieren. Zwei weitere ziehen seit dem vergangenen Frühling mit einem Foodtruck über die Berliner Wochenmärkte, in dem sie neben selbst gemachten Empanadas vor allem Fleisch-Sandwiches verkaufen. Der Fünfte in der Runde hat unlängst den Uruguay-Reiseführer für den Reise Know-how Verlag geschrieben und ist zudem der Autor dieses Textes.

Außerdem saß aber noch eine halbindische Trainerin für interkulturelle Kompetenz am Tisch. In Uruguay war sie bis dato noch nicht. Und wäre sie nicht mit dem Autor dieses Texts liiert, hätte sie den Abend sicherlich anders verbracht. Oder zumindest hätte sie etwas Eigenes zu essen mitgebracht. Denn die Gastgeber servierten einen fantastisch frischen cuadril. Ein gutes Kilo feinsten Rindfleischs, medium zubereitet, das stolz in seinem eigenen Saft auf der Bratenplatte trohnte. Ein Traum – zumindest für fünf der sechs Anwesenden. Denn die Trainerin bezeichnet sich aus gutem Grund gerne oft als Borderline-Vegetarierin, wenn auch mit einem Augenzwinkern.

Parallel zu dem duftenden Braten servierten die Gastgeber einen uruguayischen Rotwein. Wie nicht anders zu erwarten einen Tannat, die Nationalrebsorte des Landes, von einem der ältesten Weingüter Uruguays, der Antigua Bodega Stagnari. Tiefschwarz floss er aus der Flasche, rubinrote Reflexe leuchteten in den Gläsern und ein Bukett aus Schokolade, Kaffee und schwarzen Johannisbeeren mit einem Hauch Tabak und Vanille stieg auf.

Sechs Monate verbringt der Wein im Keller der alten Bodega in Fässern aus amerikanischer Eiche, bevor er in die Flaschen abgefüllt wird. Sein Name ‚Del Pedregal’ verrät einiges über den Boden, in dem die Rebstöcke wurzeln: Steinwüste heißt pedregal auf Deutsch. Ein trockener von Steinen und Felsen durchsetzter Boden, dessen Mineralien den Körper des Weines entscheidend mitbestimmen und seine fruchtigen Cassis- und Sauerkirsch-Noten üppig ergänzen. Dazu gesellen sich auf der Zunge ebenfalls Vanillenoten, außerdem eine Spur Gewürze und leicht rauchige Aromen. So wie es sich für einen Tannat gehört, sind seine Tannine besonders ausgeprägt und präsent. Aber sie legen sich nur für kurze Zeit über den Gaumen und überlagern seinen Geschmack nicht, sondern verleihen ihm seinen Charakter. Außerdem liefern sie einen entscheidenden Beitrag, die Speisen im Magen zu verdauen. So ist der Wein auch ein perfekter Begleiter für Fleischgerichte; wie etwa zum Cuadril, das auf Deutsch das Herz der Hüfte heißt.

Geschmeckt hat er an dem entschleunigten Abend vor Weihnachten allen Anwesenden, auch der Borderline-Vegetarierin. Und vielleicht war er ein Grund dafür, dass sie zwar nicht ganz so lang blieb wie ihr Mann – aber zumindest nicht schon während des Essens wieder heimfuhr.

Text + Foto: Lars Borchert

Über den Autor: Lars Borchert ist Journalist und schreibt seit einigen Jahren über Weine aus Ländern und Anbauregionen, die in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. Diese Nische würdigt er nun mit seinem Webjournal wein-vagabund.net. Auf caiman.de wird er ab jetzt jeden Monat über unbekannte Weine aus der Iberischen Halbinsel und Lateinamerika berichten.

[druckversion ed 01/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: traubiges]





[kol_4] Lauschrausch: Perus Partysound
Peru Boom: Bass, Bleeps & Bumps
 
Das Label "Tiger’s Milk", das sonst hervorragende Compilations zur Geschichte der peruanischen Popmusik herausbringt, hat sich diesmal die Gegenwart bzw. Zukunft dergleichen vorgenommen. Labelgründer Martin Morales war so begeistert von einem Auftritt des Duos Dengue Dengue Dengue, das auf einem Rave elektronische Musik und basslines mit alten cumbia- und chicha-Klängen mixte, dass er für "Peru Boom" Titel von DJ‘s und Musikern der boomenden Elektronikszene in Lima, eine der momentan angesagtesten in Südamerika, zusammenstellte. Die Label-Kontinuität wird gewahrt, da zwischen den Bassläufen und Beeps immer wieder traditionelle Stile und Instrumente erklingen. Der erste Track von Animal Chuki, einem Star der Szene, weckt Erinnerungen an Kraftwerk, während Deltatron sich an Jean-Michel Jarre orientiert, gemixt mit langsamen cumbia-Rhythmen und tiefen Bässen. "Como bailar cumbia" von Dengue Dengue Dengue ist ein uninspiriertes Stück Funktionsmusik, das mit der Freude der cumbia wenig zu tun hat, während Pirana Sound System in "Naranja Limones" chicha-Sounds originell mit eher experimenteller Elektronik kombinieren.

Bass, Bleeps & Bumps from Peru's Electronic Underground
Peru Boom
Tiger's Milk Records

Wer kennt noch die "Bayern3 Space Night"? An diese Musik erinnern die Tracks 7-9, unterschiedlich durchsetzt von Percussion- und Basssounds und cumbia-Rhythmen. Vieles auf dieser Sammlung ist eher langweilig, wie die sphärischen Klänge mit cumbia-beat in "Underground cumbia", die tribalistische Elektronik von "Negroide" oder die Loungemusik von Elegante y Imperial. Das konnten die Urväter der Elektronik besser und phantasievoller, die u.a. in den 80ern Wilfried Trenklers Sendung über elektronische Musik "Schwingungen" zum Kult und absoluten Muss machten. Man hört, dass es sich hier größtenteils um Gebrauchsmusik für den dancefloor handelt, vieles ist zu einfach gestrickt. Herausstechend sind noch die beiden Tracks "Sonido chichero" und "Marcha Del Chullachaqui", die mit traditionellen Instrumenten und Klängen arbeiten. Man muss also wieder auf das Alte zurückgreifen, um etwas Interessantes zu produzieren… Insgesamt aber ein guter Einblick in eine Szene, die hierzulande nur Wenigen bekannt sein dürfte und eine gute Compilation für DJ‘s.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

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