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[kol_2] Amor: Frühlingserwachen

Die Tage gewinnen wieder an Intensität. In der Avenida Corrientes. In Buenos Aires. Wir sehnen uns nach dem Sommer, der schon in den Startlöchern steht und nur darauf wartet, endlich dem tristen, kargen, kalten Winter den Kampf anzusagen. Lange wird es nicht mehr dauern, der Frühling ist bereits da und weckt Begehrlichkeiten. Irgendwo dazwischen bin ich gefangen zwischen lauten Latinas, gebrochenen Herzen und ein, zwei Flaschen Rotwein. Malbec heißt die Traube, die man in Argentinien und Chile vorwiegend anbaut. Ein teuflisch gutes Zeug. Der Wein ist wie die Menschen in der Region, von denen er angebaut wird: liebevoll aufgezogen wie die eigenen Kinder, mit Argusaugen begleitet bis sie endlich flügge sind und auf eigenen Füßen stehen um Charakter zu entwickeln. Stark und trocken wie einst Maradona 1978 gegen England.

Mit Finesse und noch viel mehr Anmut. Maradonas Plus war, dass er auf dem Feld selten in Schönheit starb und sein Ziel stets im Auge behielt. Im wirklichen Leben gestaltet sich das anders. Unendlich viele Ziele, unendlich viele Ideen. Und doch so wenig Ausweg.

Ich rieche die Stadt, spüre sie. Und sie fängt mich auf. Sie ist gut zu mir und grausam zu anderen. Ob sie ihr Böses getan haben? Weit gefehlt.

Auch, oder gerade hier, zählt der Dollarkurs. Und der ist schlecht wie seit Jahren nicht. Und dennoch bewahren sich die ärmeren Menschen einen Stolz, der mir Tränen in die Augen treibt. "Schau auf die armen Leute und Du weißt, wie es um ein Volk bestellt ist." Diesen Satz habe ich mir merken können, als ich im Norden des Landes unterwegs gewesen bin. Ein alter, verrunzelter Herr hat ihn mir angetragen. Und er hat nicht Unrecht. Je schlechter es den Menschen geht, umso vehementer lassen sie sich fallen und treiben. Man schaue nur auf Havanna. Eine lebenslustige Metropole, wo über die Hälfte nicht weiß, wovon sie morgen abbeißen sollen. Dann helfen nur Musik und Rum.

Diego ist so einer, der beide Seiten der Medaille kennen lernen musste. Musiker, wie so viele Menschen in Buenos Aires, dieser kreativen Stadt. Er ist ein guter Musiker. Ein sehr guter, um genau zu sein. Er schrieb Lieder für Plattenfirmen wie Universal und Time Warner. Aber die Bosse waren der Meinung, dass er seine gesamten Rechte am komponierten Material an das Unternehmen abzutreten habe. Ich rechne es ihm hoch an, dass er es schließlich nicht getan hat. Klar, er hatte ein wenig Geld in der Hinterhand, konnte eine zeitlang überleben, auch ohne ein geregeltes Einkommen. Nicht wie viele andere hier, die tagtäglich ums Überleben kämpfen. "Ich habe auch meinen Stolz", höre ich ihn sagen. "Meine Seele verkaufe ich nicht." Das Wörtchen noch schwingt irgendwie mit.

Unser Wiedersehen war herzlich. Er sah aus wie immer. Ein paar Haare weniger und ein paar graue dazu. An seiner Seite eine wunderschöne Frau und sein Sohn Franco aus erster Ehe. Für Diego sind die Zeiten härter geworden. Er singt momentan für eine Rockband. Aber das ist nur ein kurzes Engagement, denn er komponiert lieber: Lieder über Liebe, Tod, Trennung, Schmerz und Freude. Über das Leben. Sein Leben. Mit all seinen Facetten. Wenn er die ersten Akkorde seiner Lieder anstimmt, erfüllt es mich mit Wehmut. Es liegt so viel Wahres in seiner Poesie, so viel Anmut. Der Malbec fließt unsere Kehlen hinunter und mit jedem Schluck teilen wir ein Stückchen mehr Erinnerung miteinander. Die Macht der Freundschaft und der Liebe ist ein starkes Band.

Derzeit arbeitet Diego in einem Möbelgeschäft. Nichts großes, es ernährt ihn, macht ihm nur mäßig Spaß, aber er hat ein paar Pesos übrig, um Franco zu unterstützen. Große Sprünge kann er nicht mehr machen. Das war einmal. Versprechen, mich in Europa zu besuchen, habe ich schon ad acta gelegt. Es ist derzeit nicht realisierbar. Wie auch? Er erzählte mir vom Musizieren in der Subte und seiner anfänglichen Überwindung es überhaupt zu tun. Aber auch von der Genugtuung, wenn es ein guter Tag gewesen ist. Jetzt lieber Möbel verkaufen, das ist unverfänglicher. Und der Jüngste ist er ja auch nicht mehr. Die Musik hält ihn am Leben, aber die Kunst allein nährt nicht mehr. Zwei Mal in der Woche fährt er raus mit dem Zug nach Tigre. Aber weniger, um auf den Markt des kleinen Ortes am Delta zu gehen, als vielmehr seine Poesie an die Frau und den Mann zu bringen. Er quält sich dann durch den Zug, sagt brav sein Sprüchlein auf und hofft, dass jemand seine Gedichte kauft. Feste Preise hat er nicht. "Die sollen selber entscheiden, was sie mir geben wollen." An guten Tagen kommt er ohne ein einziges Heft nach Hause. An anderen ist er froh, wenn er auch nur eins verkauft und die restlichen 20 wohlbehalten in die Ecke stellen kann. Es braucht Durchsetzungsvermögen, um im Waggon von den anderen fliegenden Händlern akzeptiert zu werden. Jeder weitere potentielle Konkurrent ist Gift fürs eigene Geschäft.

Nicht selten kommt es vor, dass die Verkäufer handgreiflich werden. Untereinander. Auch hier herrschen die gewöhnlichen Marktgesetze.

Der letzte Akkord ist verklungen. Was bleibt, ist eine tiefe Zufriedenheit mit dem Moment. Schön, am Leben zu sein. Schön, diesen Augenblick mit einem Freund zu teilen.

Ins Pornogeschäft ist er auch eingestiegen. Ich weiß nicht genau, wie er da hineingerutscht ist, aber es bescherte ihm sogar einen Auftritt in der Talkshow bei Suzana Giménez. Man könnte glauben, er hätte es geschafft. Letztlich ist es egal, wie man sein Geld verdient. Ob als Musiker oder als Produzent von schmierigen Streifen. Nach der Show wurde er auf der Straße erkannt. Ein Star für ein paar Wochen. Dann war es vorbei. Francos Schulleiter passte dieser Rummel gar nicht und man wollte ihn der Schule verweisen. Mit welcher Begründung, das wüsste Diego heute immer noch gern. "Wahrscheinlich, weil ich versucht habe, meinen Sohn in diesem Land einfach durchzubringen."

Text + Fotos: Andreas Dauerer