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[kol_4] Erlesen: Kleine Geschichte Venezuelas

Am 15. August 2007 stellte der venezolanische Präsident Hugo Chávez seine Pläne zu einer erneuten Reform der Verfassung vor. U.a. möchte er durch eine Änderung des Verfahrens der Präsidentenwahl eine – also seine – unbegrenzte Wiederwahl ermöglichen. Nach der bisherigen Regelung wäre dies bei der nächsten Wahl nicht erlaubt. Ist Hugo Chávez also doch nur einer der vielen machtbesessenen Caudillos der venezolanischen Geschichte von denen es im Buch von Michael Zeuske nur so wimmelt? So einfach liegen die Dinge nicht, verstehen und einordnen kann man die aktuellen Ereignisse erst, wenn man sich mit der Geschichte des Landes befasst und hierfür eignet sich die "Kleine Geschichte Venezuelas" sehr gut.

Michael Zeuske
Kleine Geschichte Venezuelas
ISBN-10: 3406547729
Verlag C.H. Beck
Mai 2007
207 Seiten
12,90 Euro

Die Geschichte des von Amerigo Vespucci auf den Namen "kleines Venedig" getauften Landes ist gekennzeichnet von (politischer) Gewalt, Gier und Machtbesessenheit: "Im Grunde könnte die Geschichte Venezuelas von ihren Anfängen bis zur venezolanischen Revolution [...] als 300- bis 400-jähriger Prozess der Zerstörung kommunaler indigener Siedlungsformen [...] beschrieben werden", schreibt Zeuske.

Von Beginn an setzten die Eroberer und dann die Siedler auf Ausbeutung aller Natur- und Bodenschätze sowie der indigenen Bevölkerung. Die Augsburger Welser, die von 1528 bis 1556 de facto die Macht über den damals erforschten Küstenstreifen besaßen, bilden da keine Ausnahme. Ihre Ideen einer umfassenden Erschließung des Gebietes wichen bald der Suche nach Gold und anderen Schätzen. Die sich durch Landnahme und -diebstahl herausbildenden Latifundien und der darauf erfolgte Anbau von Kakao, später Kaffee u.a. Exportgüter, bilden bis heute die Grundlage des Reichtums eines Großteils der Elite. Ab dem 19. Jahrhundert kamen die Renditen aus der Erdölgewinnung hinzu, die die einheimische Elite sich mit den ausländischen Mineralölgesellschaften teilte. Auch wenn das Volk wenig von diesen Gewinnen profitierte – die Idee des "sembrar petroleo", also die Gewinne für Bildung und Bedürfnisse des Volkes zu verwenden, fand nur wenig Anklang -, so konnten sich durch diese (einseitige) Industrialisierung zumindest eine Arbeiterschaft und eine kleine Mittelschicht ausbilden, die fortan an den politischen Prozessen partizipierten.

Die Führungsschichten Venezuelas hatten kein echtes Nationalgefühl und somit kaum Interesse an der Entwicklung ihrer "Nation", so Zeuske. Denn selbst das gegenseitige Morden durch Kriege und Attentate zwischen den diversen Caudillos zum Zweck der Machterlangung, das der Autor mit Daten und Namen gespickt sehr detailliert schildert, hatte meistens nur die Vermehrung des eigenen Vermögens zum Ziel. Ein schönes Beispiel dafür ist der Beginn der Eisenbahn im Land. Nicht ein nationales Schienennetz wurde errichtet, sondern viele kleine Netze um regionale Wirtschaftszentren. Krönung des Ganzen: man benutzte verschiedene Spurweiten, so dass niemals eine Chance auf ein nationales Netz bestand.

Der Autor entzaubert in diesem Zusammenhang auch die Mythen um Simón Bolívar (ohne seine Leistung zu schmälern) und um die in das 16. Jahrhundert rückprojizierte Gründung der venezolanischen Nation, auf die sich ja auch Chávez gerne beruft. Und er schildert den Aufstieg des Militärs und seiner Angehörigen zum entscheidenden Machtfaktor, auch eine der Voraussetzungen für die heutige Rolle von Hugo Chávez.

Im 20. Jahrhundert setzt sich der Machtkampf innerhalb der Eliten und des Militärs fort, und selbst der politische Pakt von Punto Fijo (1958) zwischen den Parteien, dem Militär und verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, konnte den ökonomischen Verfall trotz (oder wegen?) des großen Reichtums nur bremsen, nicht stoppen. In den 1980er Jahren war Venezuela bankrott und die Bevölkerung verarmt, während die Reichen in Miami shoppen gingen. Da war der Aufstieg eines populistischen und charismatischen Führers nur eine Frage der Zeit.

Was Chávez an aus unserer Sicht undemokratischen Maßnahmen ergreift (evtl. dauernde Wiederwahl, Zensur) wird durch die Lektüre diese Buches nicht besser, aber verständlicher. Für einen Venezolaner stellt es ohnehin nur eine Kontinuität dessen dar, was seit Jahrhunderten an der Spitze des Staates abläuft, sehr zum Ärger der Eliten diesmal aber nicht durch einen der Ihren. Zeuskes Buch macht den Leser mit der Geschichte derjenigen bekannt, die sich als Alternative zu Chávez anbieten, und da bleibt die Frage, ob die Rückkehr zu nicht lern- und reformwilligen, kurzsichtigen, geld- und machtgierigen Eliten, die sich einen Dreck um ihr Land und ihr Volk scheren, eine gute Alternative wäre.

Chávez Versuch, das Land gegen die Eliten zu reformieren, wird allerdings nur positiv enden, wenn er in der Lage ist, seine Macht in nicht all zu weiter Ferne auch wieder abzugeben. Aber das ist eine Frage, die auch Gabriel García Marquez nicht zu beantworten vermochte: „Während er mir sein Leben erzählte, sollte ich eine Persönlichkeit kennen lernen, die nicht das Geringste mit dem Bild des Despoten Chávez gemein hatte, wie es die Medien vermittelten. Neben mir saß ein anderer Chávez. Welcher von beiden war der echte? [...] mit dem ich mich auf einer gemeinsamen Reise so angenehm unterhalten hatte: Der eine, dem sein unverwüstliches Glück die Chance präsentiert hatte, sein Land zu retten; der andere ein Traumtänzer, der sehr wohl einmal als ein weiterer Despot in die Geschichte eingehen könnte.“ ("Die zwei Gesichter des Hugo Chávez", in: Le Monde Diplomatique Nr. 6216, 11.8.2000).

Für eine "Kleine Geschichte" sind die Seiten des Buches oft sehr mit Daten und Fakten gefüllt, eine Straffung hätte hier und da gut getan. Aber da dieses Buch nur ein Extrakt zweier kommender, größerer Werke über Venezuela ist, verkürzt es uns auf sinnvolle Weise die Zeit des Wartens.

Text: Torsten Eßer
Foto: amazon.de