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[art_2] Brasilien: Von Tsutiura nach Itaquaquecetuba
Das Schicksal der da Silvas nach dem Jishin
 
Es hat wieder angefangen zu nieseln, an diesem kalten Julinachmittag in Itaquaquecetuba und Terumi wickelt ihrer Tochter Laura noch einen zusätzlichen Wollschal um den Hals. Itaquaquecetuba wird von Menschen bewohnt, die das Wachstumsmonster São Paulo füttern. Man erreicht es nach einer Stunde Zugfahrt, vorbei an unverputzten Backsteinhäuschen mit Wellblechdächern, Fabriken und Autowerkstätten.


Die Sechsjährige muss jetzt zum Einschulungsgespräch in die nahegelegene Grundschule, die Direktorin hat persönlich darum gebeten. Laura ist kein gewöhnlicher Fall - das Mädchen hat vorher noch nie eine Schule besucht und kennt die portugiesische Sprache nur aus ihrem Elternhaus. Die Sprache, mit der sie aufgewachsen ist und die sie akzentfrei spricht, ist japanisch. Und in Japan sollte sie dieses Jahr eingeschult werden. Doch seit dem Jishin ist alles anders.

Seit vier Monaten leben Laura Alves da Silva, ihre Eltern Terumi und Gonçalo, ihre Geschwister Najilla, Yolanda und Marcelo mit dessen Ehefrau Eloane und Söhnchen Yohan in Brasilien. Das Jishin, das Erdbeben, hat ihrem Leben schlagartig eine andere Richtung gegeben, eine Richtung, die sie sich nicht gewünscht haben.

Nach sechzehn Jahren in Japan musste die Familie nach Brasilien zurückkehren. Laura und ihre Schwester Yolanda sind zum ersten Mal in dem Land ihrer Eltern, von dem die Kinder immer sagten, sie würden es ganz gern mal besuchen - aber eben nur besuchen. Najilla war ein Säugling und Bruder Marcelo zehn, als die Eltern vor sechzehn Jahren mit der Hoffnung auf ein besseres Einkommen nach Japan emigrierten.

Eigentlich ging es ihnen gut im Jahre 1996, Brasilien erholte sich gerade von der Hyperinflation und Gonçalo verdiente ganz ordentlich als Angestellter bei einem Friseur. Seine Ehefrau Terumi hatte einen sicheren Job als Pharmazeutin. Doch Gonçalos heimlicher Traum war es, Schauspiel zu studieren und jahrelang schmiedete er Pläne, wie wohl solch eine kostspielige Ausbildung zu finanzieren sei.

Terumi gelang es einige Zeit, ihm die Flausen aus dem Kopf zu treiben, aber eines Tages hatte er sie soweit - mit ihr als japanischstämmige Brasilianerin würden sie keine Schwierigkeiten haben, ein Arbeitsvisum in Japan zu erhalten und ein paar Jahre lang den brasilianischen Währungsneuling Real gegen harte Yens einzutauschen. Viele Nisseis, japanischstämmige Brasilianer, entschieden sich damals, den klassischen Gastarbeitertraum zu leben - ein paar Jahre ordentlich ranklotzen, um danach zurück in Brasilien etwas Eigenes aufzubauen.


Auch die Familie da Silva kannte ein paar solcher Auswanderer und so wurde, über bereits dort lebende Freunde, die Stadt Tsutiura zum Ziel der Träume von Terumi und Gonçalo - fünfzigtausend Einwohner, zweihundertzehn Kilometer vom Fukushima entfernt.

Schon nach ein paar Tagen hatte Terumi einen Job bei Canon, Kopiergeräte montieren. Ihren erlernten Beruf als Pharmazeutin dagegen konnte sie vergessen: "Ich kam mir vor wie eine Analphabetin", erinnert sie sich, "elementares Japanisch und mein brasilianisches Diplom wurden dort nicht anerkannt." Aber egal, man war ja zum Geldverdienen da, zwei Jahre hatten sich die da Silvas gesetzt, das sollte reichen, um genug für die Schauspielausbildung zusammenzusparen. Auch Gonçalo konnte ein paar Tage später bei Canon anfangen, eine Wohnung wurde angemietet und mit Hilfe der brasilianischen Gemeinde fanden sie sich schnell in ihr neues Leben in Tsutiura ein. Ihre Wohnung wurde zu einem Treffpunkt der Brasilienauswanderer und Gonçalo fing bald an, nach Feierabend seinen alten Job auszuüben: Er schnitt den Brasilianern die Haare: "Japaner haben einen ganz anderen Stil, da sind die Brasilianer lieber zu mir gekommen."

Die Brasilianer kauften dann auch gerne ihr selbst hergestelltes, typisch brasilianisches Partygebäck, die Salgados, aus der Wohnung wurde ein Haus, aus zwei Kindern wurden vier und aus den zwei Jahren wurden sechzehn. Terumi gab den Job bei Canon auf, Gonçalo verdiente mit Haareschneiden und Fabrik genug, um die Familie zu unterhalten, Terumi kümmerte sich um Kinder und Salgados.

JishinAlles lief bestens, bis der 11. März 2011 kam. Der Tag des Jishin, des Erdbebens. - bei diesem Wort frösteln alle, nicht nur wegen des Windes, der in diesem ungewöhnlich kalten südbrasilianischen Winter durch die spärlich eingerichtete Küche pfeift. Die Kinder haben ihre Pullover und Wollstrumpfhosen aus den Koffern geholt. Seit vier Monaten leben sie so, aus Koffern. In der kleinen Wohnung, die ihnen Gonçalos Schwester Lucia überlassen hat, gibt es kaum Möbel und auch keinen Platz dafür. Ein paar Küchengeräte hat Terumi von Bekannten geschenkt bekommen, billiges Plastikzeug. Sie rümpft die Nase: "In Japan hatten wir eine komplette Hi-Tech Küche, mit allem was dazugehört." Wenn Terumi erzählt, fängt fast jeder Satz so an - "In Japan hatten wir…". Und jetzt? "Alles zerstört, uns gehört, was in diese Koffer hier gepasst hat."

Es war in den Winterferien, Gonçalo arbeitete noch immer bei Canon, Terumi und die Kinder hatten gerade zu Mittag gegessen, als um viertel vor drei die Erde zum ersten Mal kräftig bebte. An die Uhrzeit können sich alle genau erinnern, weil die Küchenuhr stehen blieb. Terumi hatte inzwischen gelernt, das man bei Erdbeben als erstes die Haustür öffnet, damit diese sich nicht verklemmt und man jederzeit flüchten kann. Sie schickte die Kinder nach draußen, aber im Haus war stark geheizt und bis alle erst mal richtig angezogen waren, flogen vor der Tür bereits die ersten Pkws durch die Luft.


Gonçalo versuchte inzwischen vergeblich, telefonisch seine Familie zu erreichen - "die schlimmsten Stunden meines Lebens". Erst spät in der Nacht schaffte er es nach Hause. Das Haus überstand selbst die stundenlangen Nachbeben, aber die Einrichtung ging nach und nach vor ihren Augen zu Bruch. "Ich wusste nicht mehr, ob es wirklich bebt oder ob mir vor Angst schwindlig war", erinnert sich Terumi. Dann fielen Strom, Gas und Wasser aus. Zeit, das Haus zu verlassen. Doch die Notunterkunft in der nahegelegenen Schule war bereits voll belegt und eine andere nicht in Reichweite. Und so entschied sich die Familie, in ihr Haus zurückzukehren.

Nach und nach fand sich eine große Anzahl brasilianischer Freunde ein. "Unser Haus wurde zum Auffanglager", erzählt Gonçalo mit einem Anflug von Stolz. Gemeinsam überstanden sie die Nacht.

Am nächsten Tag kam dann die Nachricht - Havarie im Atomkraftwerk Fukushima, 210 Kilometer vom Wohnort der Familie entfernt. Genaueres war nicht zu erfahren, Genaueres hatte man ohnehin nie gewusst. "Die meisten Japaner waren sich nicht einmal klar darüber, wie viele Atomkraftwerke es in diesem Land überhaupt gibt, wir übrigens auch nicht", erzählt Terumi. Doch was sie wussten, war, dass radioaktive Strahlen von irgendwo da draußen auf sie zukamen. Die Angaben über die Größe der verseuchten Gebiete um das Atomkraftwerk änderten sich ständig, vom Wind war die Rede, mal sollte man keine Milch konsumieren, mal kein Leitungswasser trinken, mal bestand keinerlei Grund zur Sorge. Und dann fasste die Familie einen Entschluss: keinen Tag länger als nötig im Land bleiben.

Gonçalo nutzte alle ihm zur Verfügung stehenden Kontakte, um über einen brasilianischen Bekannten acht Flugtickets zu erhalten. Und keine 48 Stunden später saß die gesamte Familie im Flugzeug  nach Brasilien: Zielort São Paulo, zwei Koffer pro Person. Als Wohnort gaben sie bei der Einreise die Adresse der Schwester in Itaquaquecetuba an.

Vielmehr Verwandte haben sie nicht, Gonçalos Eltern leben in einem anderen Bundesstaat, Terumis Vater ist kurz vor dem Erdbeben gestorben, ihre Mutter wohnt in einer bescheidenen Einzimmerwohnung im Stadtzentrum. "Wir müssen Lucia ja dankbar sein, dass wir hier leben dürfen, aber auf Dauer ist das kein Zustand", klagt Terumi und zieht sich eine Wollmütze über die Ohren, "wir müssen uns jetzt erst mal organisieren und ganz von vorne anfangen." "Wir haben nicht nur unser Hab und Gut verloren, wir haben unser Leben verloren", fügt Gonçalo hinzu, "und das müssen wir halt wiederaufbauen."

Wenigstens der Anfang ist gemacht. Gonçalo hat sich auf eine Anzeige eines Friseursalons beworben und konnte Anschluss an das Vorstellungsgespräch direkt anfangen. "Mein Job ist krisensicher, Haare wachsen immer", lächelt er zuversichtlich.

Sein Sohn Marcelo dagegen hat größere Schwierigkeiten, er hat zwar in Japan eine Ausbildung als Chemiefacharbeiter abgeschlossen, in der Eile des Aufbruchs aber wichtige Dokumente zurückgelassen und kämpft jetzt mit der brasilianischen Bürokratie. Zudem fehlt ihm die praktische Erfahrung. Marcelo würde am liebsten sofort zurück nach Japan, aber auch für das nötige Visum fehlen einige Dokumente, schließlich ist er Brasilianer.

Terumi kümmert sich vorerst um die Einschulung der Mädchen, die zwar alle ganz gut portugiesisch sprechen, es aber fast nicht schreiben können. "Ich bin heilfroh, dass wir uns in Japan zuhause immer auf Portugiesisch unterhalten haben, Japanisch wurde nur außerhalb der Familie gesprochen." Jetzt machen sie es genau umgekehrt.

Text + Fotos: Anja Kessler

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