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[art_4] Venezuela: Die Goajiros (heute / damals / im 19. Jahrhundert)

Heute: Als eine seiner ersten Amtshandlungen nach der Machtübernahme 1998 stellte Hugo Chávez ein Komitee zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung zusammen. Beteiligt waren unter anderem drei Vertreter indigener Gruppen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten in Venezuela Indígena-Gemeinschaften keine oder zumindest nur sehr eingeschränkte Rechte - im südamerikanischen Vergleich belegten sie diesbezüglich den letzten Platz. In der neuen Verfassung (1999) sind die Rechte venezolanischer Indígena nun niedergeschrieben (Artikel 119-126). Bei der Umsetzung dieser gibt es reihenweise Probleme - neue Organisationsformen entsprechen nicht den Stammesorganisationen (Machtkompetenzverletzungen), Entstehen von Korruption und Machtmissbrauch innerhalb von Gemeinschaften - aber die 500.000 in Venezuela lebenden Indianer finden (nicht nur bei kleineren linksgerichteten Organisationen) nun Gehöhr und können auf Missstände aufmerksam machen: Anzeigen von Zerstörung von Lebensräumen durch Bergwerke oder Raffinerien, Fehlen von ärztlicher Versorgung oder Strom oder Verlust von eigenen Traditionen oder Sprachen.

Die Regierung Chávez handelt schnell und direkt (nicht immer überlegt). Sie sorgt für permanente ärztliche Versorgung auf eigens eingerichteten Booten etwa im Orinokodelta, baut Straßen zu entlegenen Gebieten, gewährleistet die Stromversorgung oder die Anbindung an Telefonnetze und bringt Indianersprachen als Studienfächer an die Universitäten. Ein aus der Sicht zumindest einiger Indianergruppen wichtiger Punkt, den die Verfassung vorsieht, ist jedoch bislang nicht umgesetzt: Die Überschreibung von Besitztiteln der seit jeher bewohnten Landstriche an Indígena-Kollektive. Möglicherweise ist der Einfluss mancher Bergwerksunternehmen, die auf diesen Gebieten tätig sind, doch so groß, dass selbst Chávez nicht uneingeschränkt handeln kann.

Damals: Kolumbus brachte das Bild der beiden Typen Guter Indianer und Schlechter Indianer nach Europa: Die, die alles hergaben und sich engagiert in kürzester Zeit zu Tode schufteten in den Minen und auf den Feldern der spanischen Herren, waren die Guten, die Teine oder Warau. Die bösen waren die, die sich mit dem Speer in der Hand weigerten, für die Spanier zu arbeiten. Sie wurden von Kolumbus als Kariben bezeichnet.

Die Warau sind weit über den südamerikanischen Kontinent verbreitet, vom peruanischen Hochland bis ins Orinokodelta. Teilweise gibt es noch Verbände auf den großen Antillen (Kuba) und den mittelamerikanischen Küsten.


[Goajira im Maracaibosee]

Ursprünglich stammen sie wohl aus Südamerika, wurden aber von kriegerischen Stämmen immer weiter vertrieben, bis auf die kleinen Antillen und dann weiter auf die großen. Offensichtliche Gemeinsamkeiten der Warau finden sich in ihrer Sprache und ihren matriarchalen Gesellschaftsformen (Matriarchat meint nicht Frauenherrschaft, sondern das Fehlen von Herrschaftsstrukturen und Hierarchien).

Auf der Halbinsel Goajiro leben die Wayúu oder auch Goajiros. Mit 60.000 ist es einer der größten noch existierenden Verbände der Bon Savage.

Im 19. Jahrhundert: Nach der fünfjährigen Reise Alexander von Humboldts brachen Geografen und Ethnologen auf in die Welt, um über alles und jedes in einer der zahlreichen wissenschaftlichen Zeitschriften zu berichten, so auch von den Goajiro Indianern. Unter jenen befanden sich:
  • Franz Engel, Botaniker und Ethnologe. Er bereiste Venezuela um 1857-60er Jahre. Über die Goajiros schrieb er u.a.: Die Goajiros, in: Das Ausland, 1865
  • Adolf Ernst, Botaniker und Ethnologe. Er lebte in Venezuela zwischen 1870-99 und gründete die Ethnologische Fakultät der Universität zu Caracas. Über die Goajiros schrieb er u.a.: Die Goajiro-Indianer. Eine ethnologische Skizze, in: Zeitschrift für Ethnologie, 1870
  • D. Blümacher war nordamerikanischer Konsul in Maracaibo. Sein Artikel Etwas über die Goajiro-Indianer erschien in: Das Ausland, Wochenzeitschrift für Länder- und Völkerkunde, 1888
  • Ferdinand Carl Appun, Künstler und Botaniker, bereiste Venezuela zwischen 1848-59. Er schrieb u.a. Die Goajiro-Indianer, in: Das Ausland, 1868
Ernst: Die Halbinsel gehörte früher zu dem Vicekönigreich von Neugranada, von dem vergebens ihre Eroberung versucht wurde. Seit der Spaltung der Republik Colombia in die 3 Schwesterstaaten haben sich Kolumbien und Venezuela durch einen Strich auf der Karte in die Halbinsel geteilt; doch hat keine von beiden bis jetzt irgendwelche Hoheitsrechte gegen die unbezwungenen Gaojiros geltend machen können, obgleich die selben bereits mehrfach Gegenstand eines diplomatischen Notenwechsels zwischen Caracas und Bogotá gewesen sind.

Engel: Nach Ende des 16. Jahrhunderts brachten die Missionare durch die Kraft des Wortes und das Übergewicht der moralischen Macht (die auch sogar auf den wilden Menschen überzeugender wirkt als physische Gewalt) die Unterwerfung der Goajiros und die Gewinnung ihrer Freundschaft für die Spanier zustande; sie zeigten sich gelehrig, fügsam, dem eingebürgerten Leben zugeneigt, Lust und Geschick zu Ackerbau, Gewerbe und künstlichen Handarbeiten.

Aber was die überzeugende Rede und die moralische Macht vermocht und Großes getan, das verdarb die Zuchtpeitsche derselben Missionare und die Brutalität der weißen Christen wieder.

Die Europäer verführten ihre Weiber, raubten sie sogar mit Gewalt aus einem ihrer Dörfer unter dem Schutz und Schirm königlicher Gerechtigkeiten.


[Goajiras in Puerto Concha, Maracaibosee]


Dazu kam dass einer der Goajiros wegen Beschuldigung einer nach den Gesetzen der Mission unerlaubten Verbindung auf Befehl eines Geistlichen ausgepeitscht wurde. Blutend aus dem zerfetzten Fleische rief er um Rache auf dem Aschenhaufen seiner Wohnungen, und schwor seine Freiheit wieder zu gewinnen und zu behaupten; die europäischen Ansiedelungen verschwanden. Die Weißen wurden vertrieben und niedergemetzelt. Seit dem Jahr 1766 waren die Goajiros wieder unversöhnliche Feinde der Spanier, und nie mehr zum Christentum zurückzuführen; wer ihr Gebiet betreten, hat es meistens mit dem Tode büßen müssen oder sich durch Überlistung oder besondere Vergünstigung den Weg geöffnet.

Blümacher: Die Regierung von Venezuela begnügt sich einen militärischen Posten an die Grenze zu stellen, zur Abwehr räuberischer Ausfälle in die angrenzenden Ansiedelungen und Vieh-Farmen der Weißen. Dessen ungeachtet rotten sich die Indianer zuweilen zusammen und überziehen, mehrere hundert Köpfe stark, das kultivierte Land, um zu plündern.

Im Februar 1886 wurde das Grenzgebiet nahe dem beträchtlichen Städtchen Sinamaica von 400 Goajiros, wovon 250 beritten waren, überfallen, und es nahmen dieselben mehrere hundert Stück Vieh und eine Anzahl Pferde; bevor sie aber ihren Raub auf ihr Gebiet treiben konnten, griffen 55 Weiße sie an und töteten im ersten Gefecht ihren Anführer. Dadurch kam die Bande so in Auflösung, dass es ihren minderzähligen Verfolgern nicht nur gelang ihnen die Beute abzunehmen, sondern noch eine große Anzahl wertvoller Indianerpferde zu erbeuten. Nach einem Gefecht, welches fast einer Abschlachtung gleichkam, flohen die Überlebenden ins Innere ihres Gebietes und wagten seither keinen Raubzug mehr.

Appun: Sie sind ausgezeichnete Schiffer und wagen sich in ihren gebrechlichen Kähnen weit in das Meer hinaus; der durch zahllose Untiefen der Schifffahrt gefährliche Golf von Maracaibo, wie alle anderen Teile der Küste ihres Landes sind ihnen so wohl bekannt, dass sie als die sichersten Lotzen in diesen Gewässern zu gebrauchen wären, hätten sie nicht bereits zu oft dass in sie gesetzte Vertrauen getäuscht, das ihnen anvertraute Schiff auf einen Felsen oder eine Sandbank gerannt, und nach Ermordung seiner Mannschaft sich in Besitz seiner Ladung gesetzt.

Nicht allein, dass sie ihr Unwesen als Piraten treiben und ihre Küsten passierender Schoner sich bemächtigen, täuschen sie zur Zeit der Stürme durch an der Küste angezündete Feuer die bei Nacht vorüberfahrenden fremden Schiffe, welche den falschen Signalen vertrauend, ihrem Verderben entgegenlaufen.

Engel: England wusste den Hass dieses Volkes gegen die Kolonisten in seinen Kriegen mit den Spaniern wohl zu benützen; jedoch wagten seine Schiffe es nie in einem ihrer Häfen zu landen. Der Handel fand an Bord der Schiffe statt, die sich nach Abschluss desselben so schleunigst wie möglich wieder entfernten.

Ernst: Kein Denkmal aus alten Zeiten gibt Aufschluss oder Andeutung über die Vergangenheit. Die persönliche Erinnerung des Individuums ist rückwärts geschichtliche Grenze. Ein Gefühl nur hat den Untergang der hingestorbenen Generationen überdauert, der Hass gegen die Spanier und deren Abkömmlinge.

Äußeres
Ernst: Die Goajiros sind durchschnittlich ein kräftiger Menschenschlag, welcher in der gleichgültigen Erduldung von Entbehrungen aller Art keinem der übrigen amerikanischen Urvölker nachsteht. Sie sind verhältnismäßig klein von Wuchs und erreichen selten eine Höhe von mehr als 5 Fuß. Das Gesicht erscheint groß durch die fleischigen Backen.

Das Gesicht der Gaojiros ist plump, der allgemeine Ausdruck mehr kräftig als roh. Die stets dunklen Augen stehen ziemlich schief; die Nase ist breit und stumpf, der Mund groß, das Haar grob und straff, pechschwarz von Farbe. Der Querdurchschnitt des letzteren unter dem Mikroskop ist beinahe kreisförmig mit sehr undeutlich zu erkennendem Kern. Der Bart ist stets schwach, die übrige Körperbehaarung spärlich.

Die Hautfarbe der meisten Goajiros ist eher hell als dunkel zu nennen. Die Haut transpiriert stark; doch habe ich an den von mir untersuchten Individuen nichts von einem speziellen Hautgeruche gemerkt.

Die Brust ist meist breit. Bei den Weibern sind die Brüste oft sehr groß, doch selten oder nie schlaff hängend. Die Hüften stehen seitlich bedeutend vor und erhöhen das gedrungene Aussehen des Körperbaus.

Handel
Blümacher: Obgleich die Goajiros bis jetzt jeder Beeinflussung widerstanden haben und Hass gegen alle, die nicht zu ihrer Rasse gehören, zeigen, erkennen sie doch die Vorteile der Handelsverbindungen mit den Weißen, und während der trockenen Jahreszeit kommen sie häufig nach den Grenzansiedelungen. Sie betreiben nämlich eine nicht unbedeutende Viehzucht und vertauschen ihre Rinder, Pferde und Esel, sowie auch Häute, unter Umständen wohl auch ihre eigenen Kinder, gegen weiße und bedruckte Baumwollzeuge, Messer, Glasperlen u. vgl., besonders aber auch gegen Rum, den sie in großen Quantitäten konsumieren.

Appun: An einem herrlichen Julimorgen, kurz nach Sonnenaufgang, geschah es, dass eine Bande halbnackter Goajiro-Indianer auf ihren wilden Pferden nach dem Fort von Sinamaica, wo ich in dieser Zeit mich befand, in vollem Galopp angesprengt kamen, denen bald darauf eine Menge Weiber und Mädchen zu Fuß, große Körbe vermittelst eines Stirnbandes auf dem Rücken tragend, folgten.

Bald nach Ankunft entspannen sich Tauschgeschäfte mit den im Fort befindlichen Venezolanern, indem die Goajiro ihre Pferde, Rindvieh, schön geflochtene lederne Pferdezügel, Lazzos, Fische, Honig, gegen Rum, Mais, blaue und rote Decken, lange Messer, Glasperlen und andere von ihnen gesuchte Artikel vertauschten.

Kurz vor diesem Handel hatten die Venezolaner die Vorsicht gebraucht sie tüchtig mit Rum zu traktieren, um ihre Einkäufe zu billigsten Preisen zu machen, was ihnen auch bei der bekannten Liebhaberei aller Indianer für starke Getränke gelang. So erhandelte ich 2 schöne Pferde für 5 Gallonen Rum, einige wollene Decken, einige Säcke Mais und 2 Dutzend Dolche, zusammen noch nicht um den Wert von 20 Dollar.

Nach geschlossenem Handel mussten die Weiber und Mädchen die erhandelten Waren in den Tragekörben fortschaffen, während die Männer noch einige Zeit in den Pulperias (Schenken und Verkaufslokalen), welche in der nahen Umgebung des Forts in reichlicher Anzahl sich befanden, verweilten, und gegen Abend unter wüstem Lärmen, größtenteils berauscht, auf ihren mutigen Pferden der Heimat zujagten, da ihnen nicht gestattet wird, die Nacht in der Nähe des Forts zu verbringen.

Blümacher: Es wagen sich aber auch Händler in ihr Gebiet hinein. Um dieses mit einiger Sicherheit tun zu können, müssen dieselben in ein freundschaftliches Verhältnis mit den Häuptlingen treten. Dies geschieht gewöhnlich vermittelst Heirat, welche bei den Goajiros ganz nur als Geschäft erachtet wird. Da die verschiedenen Stämme aber oft in Fehde miteinander sind, so muss der Händler, um die verschiedenen Distrikte bereisen zu können, in verschiedene Clanschaften einheiraten. Natürlich bleiben die Frauen im Kreise ihrer Angehörigen und erfreuen sich der Gegenwart ihrer Gatten nur vorübergehend, wenn dieser auf seinen Geschäftsreisen ihren Wohnort berührt. Solche Verbindungen sind aber eine kostspielige Geschichte, denn nicht nur müssen unter Umständen mehrere hundert Dollar an den Vater bezahlt werden, sondern auch sämtliche Verwandten des Mädchens beanspruchen Geschenke vom Bewerber.

Erbrecht
Blümacher: Bezüglich des Heiratens haben wir gerade gesehen, dass die Tochter dem Vater (resp. Dem Bruder oder Neffen, wenn der Vater tot ist) abgekauft werden muss. Ist das Mädchen mannbar, so bezieht es eine eigene Hütte, muss seinen Schmuck ablegen und trägt ein langes Gewand; während der ersten Tage seiner Absonderung darf es nichts genießen als den Absud gewisser medizinischer Kräuter, genannt "haguape". Diese Zeit der Einschließung, während welcher das Mädchen "Surtirse surapaura" genannt wird, ist die Lehrzeit für die künftige Ehefrau; sie wird in allen häuslichen Arbeiten, beim Spinnen, Färben, Weben, der Anfertigung der Hängematten, u.s.w. unterrichtet. Der Mangel an Bewegung im Freien macht die Mädchen in der Regel bald fett, der Teint wird heller und manche sollen in dieser Zeit wirklich hübscher werden. Den heiratslustigen Männern ist es erlaubt, die "Surtirse surapaura" durch die Türe zu besichtigen. Gefällt sie, so geht der Freier zum Vater und der Handel beginnt. Der Preis wird meist in Vieh bezahlt und der Vater des Mädchens muss ihn mit den Verwandten teilen. Dann wird ein Ball angeordnet, an dem die Braut in dem Kleid, welches sie sich in ihrer Klausur angefertigt hat und behangen mit all ihrem Schmuck, teilnimmt. Weiterer Zeremonien bedarf es nicht. Die Frau hat für Wohnung und Nahrung des Gatten zu sorgen, ist dafür aber auch sehr angesehen und wird rücksichtsvoll behandelt; auch ist kein Handel eines Indianers gültig ohne die Zustimmung seiner Frau.

Wird eine Frau ihrem Manne untreu, so verlangt dieser von der Verwandtschaft den Kaufpreis zurück, kann die Verwandtschaft selben nicht auftreiben, so hält er sich für Schadensersatz an die Liebhaber der Frau; trifft die Frau aber irgendein Unfall, irgendein Leibesschaden oder stirbt sie im Wochenbett, so muss der Gatte nochmals den bei der Hochzeit bezahlten Preis ihren Angehörigen entrichten. Stirbt dagegen der Gatte, so fällt die Frau als Eigentum an ihren jüngeren Brüder oder in Ermangelung eines solchen an einen Neffen zurück.

Die nochmalige Entrichtung des Kaufpreises beim Tode der Frau geschieht entsprechend der Sitte des "Blut- und Tränenpreises". Für jeden Schaden, welchen ein Goajiros einem anderen antut oder letzterer direkt oder indirekt durch ihn erleidet, ist er und seine Familie, ja unter Umständen sein ganzer Clan, verpflichtet, Schadensersatz an die Angehörigen des Beschädigten zu entrichten. Das Einstehen der Familie für das Individuum, des Clans oder Stammes für die einzelne engere Familie, ist ähnlich wie bei den der Blutrache huldigenden Völkern; aber der Krämersinn der Goajiros verlangt nicht Blut für Blut, Leben um Leben, sondern er will bezahlt sein mit Vieh oder anderen Marktwerten für die Tränen und die Trauer, die ihm angeblich für der Schaden seines Familiengliedes verursacht hat; denn nicht der Beschädigte selbst hat den Blut- und Tränenpreis zu verlangen, sondern die teilnehmenden Verwandten, besonders die der Mutterseite, die als näher stehend gelten. Das Originellste an der Sitte ist, dass die zärtlichen Verwandten sich ihr - im wahrsten Sinne des Wortes - wertvolles Mitgefühl auch dann bezahlen lassen, wenn einer ihrer Angehörigen sich selbst verwundet hat; und zwar die Verwandten von Mutterseite den Blut-, die von Vaterseite den Tränenpreis, der niedriger zu stehen kommt. Dabei bestimmt die Größe der Verwundung die Höhe der Entschädigung; ein Schnitt in den Finger verlangt etwas Korn oder ein Zicklein; ist die Verwundung bedeutender, so bedarf es einer Ziege, eines Schafes oder wohl gar einer Kuh, um die mitleidigen Verwandten zu trösten. Ist der durch die eigene Hand Verwundete zu arm zur Zahlung, so muss er von Hütte zu Hütte betteln und niemand wird in solchem Falle sein Scherflein verweigern.

Geschieht jemandem ein Leibesschaden durch ein Tier, so muss der Eigentümer des Tieres den Blut-, Tränenpreis bezahlen; auch dann sogar, wenn der verwundete das Tier - z.B. ein Pferd, von dem er geschlagen oder abgeworfen wird - geborgt hatte, denn - so lautet die Goajiro-Logik - wenn der Besitzer einen Pferdes dieses nicht hergeliehen hätte, so wäre der Borger nicht zu Schaden gekommen! Ebenso ist der Verkäufer der Verwandtschaft des Käufers haltbar für den Schaden, den der verkaufte Artikel anrichtet. Aus diesem Grund verkaufen die weißen Händler nur dann Rum, Waffen u. dgl., wenn ihrer mehrere sind und sie so stark genug sind, um sich nötigen Falls gewaltsam den Anforderungen der Verwandtschaft entziehen zu können, im Fall durch Trunkenheit oder Ungeschicklichkeit ein Unfall geschieht.

Engel: Das Erbrecht handhabt und bestimmt nicht der Vater, sondern der Großvater mütterlicher Seite; denn nicht in der Hand des Vaters, sondern des Mutter-Vaters ruht die Familienautorität, da der Vater nicht von der legitimen Herkunft seiner Söhne versichert sein kann.

Die geringfügigste Ursache ruft unter den immer kampflustigen Goajiros die offene Fehde herbei; die leiseste Unbill, die einem einzigen einer Tribus widerfahren, ist das Signal zum Krieg, meistens veranlasst durch den Verlust von Rindern oder Pferden, deren Zucht sie in ausgedehnter Weise betreiben, und welche sie einander abzufangen und zu rauben pflegen; bestiehlt ein Goajiro den anderen derselben Tribus, so hat der bestohlene das Recht sich des Diebes als Sklave zu bemächtigen, ihn entweder zu eigenen Diensten auszunutzen, oder, was häufiger der Fall ist, ihn an die Kaufleute der benachbarten Nationen, welche mit ihnen Handel treiben, gegen Eintausch verschiedener Waren zu veräußern. Der Diebstahl, weil er nur selten unentdeckt bleiben kann zwischen Angehörigen einer Verbindung, gehört zu den seltensten Vorgängen unter ihnen; ihre Keckheit und Verschlagenheit im Raube aber soll bewundernswert sein, so dass zuweilen im Laufe einer Nacht ein Pferd aus der unmittelbaren Nähe seines Besitzers verschwinden, an die Grenze oder zu benachbarten Parcialidad gebracht, verkauft werden, und der Täter mit dem ersten Morgengrauen sich wie gewöhnlich von seinem Lager erheben kann.

Waffen
Ernst: Mannigfaltig sind die Waffen. Zu diesen gehört vor allem der Bogen aus festem elastischen Holze. Die Sehne ist aus Pitahanf. Die Pfeile sind gewöhnlich 2 Fuß lang, ihr unterer Teil ist aus Rohr; in das obere Ende wird ein Holzstückchen fest eingebunden, an welchem oberhalb der Schwanzstachel des Stechrochens befestigt ist. Dieser Stachel ist gegen 3 bis 4 Zoll lang, scharf spitzig und an beiden Seiten mit scharfen, dichtstehenden Widerhaken versehen.

Die Pfeilspitze wird von den Goajiros vergiftet. Das Gift ist tierischen Ursprungs. Der gewöhnliche Bericht, wie ich ihn aus dem Munde von Indianern gehört habe, lautet wie folgt: Man tötet eine grüne auf Bäumen lebende Schlange, nimmt die Giftdrüse heraus und steckt diese durch eine kleine Öffnung in die Calabassenfrucht. Nach 15-20 Tagen ist das Innere der Frucht eine dunkle schleimige Masse, mit der man die Pfeile bestreicht. Die Goajiros gebrauchen ihre giftigen Pfeile nur im Kampfe, nicht auf der Jagd.

Die Pferde sind nicht schön, aber ungemein ausdauernd und werden von Weißen gern gekauft. Da der Indianer nicht leicht dem verlockenden Preise, der ihm geboten wird, widerstehen kann, so schneidet er lieber seinem Lieblingspferd die Ohren ab, um sicher zu sein, dass kein Weißer ihm ein Gebot dafür mache.

Die Hauptbeschäftigung der Goajiros ist die Viehzucht. Die von Europa eingeführten Haustiere (Pferd, Esel, Maultier, Ziege, Huhn) haben die ehemalige uns nicht bekannte Lebensweise dieser Völker sicherlich weit mehr umgestaltet, als dies betreffs der Bewohner Europas durch Erfindungen der Neuzeit geschehen ist. Die heutigen Goajiros müssen sich in der Tat sehr von ihren Vorfahren unterscheiden, die als Haustiere nur ihre Weiber hatten.

Die Hauptnahrung besteht demnach aus Fleisch. Sie sind wie alle Indianer in Betreff ihrer Mahlzeit wie der Kondor der Kordilleren. Ist Nahrung im Überfluss vorhanden, so verschlingen sie erstaunliche Mengen; fehlt es an Nahrungsmitteln, so wird der Hunger mit der größten Gleichgültigkeit ertragen, und die starke Konstitution leidet nicht sonderlich dabei.

Wohnen
Engel: Die Goajiros leben in festen Wohnsitzen, zu kleinen Dörfern und Flecken vereint; ihre sehr einfach konstruierten Hütten liegen innerhalb oder unweit der Fruchtfelder, welche sie mit Fleiß und Sorgfalt bestellen, die Wohlhabenden von ihren Frauen und Sklaven bearbeiten lassen. Die Wohnungen sind in der äußeren Form spitzen Zelten, aus der Ferne einem Termitenhaufen nicht unähnlich; mehrere Baumstangen werden gabelförmig, mit den Spitzen oben gegeneinander gekehrt, aufgerichtet, an der Spitze miteinander verbunden, durch seitliche Verbände von Stäben zusammengehalten und mit trockenem Savannengras, Schilf und Rohr oder bloßem Gestrüppe teils ganz, teils nur teilweise, schirmartig bedeckt. Zwischen den Pfählen des kleinen spitzen Dachgerüstes sind die Chinchorros - kleine, aus Pflanzenfaser geflochtene Hängematten - befestigt, in welchen, halbkugelig zusammengerollt, die Männer einen großen Teil ihres Lebens in süßem Nichtstun schaukelnd verträumen. Häute von erlegten Tieren und Binsen bedecken den Boden, auf denen die Weiber und Kinder niederkauern und schlafen; Bogen und Pfeil, Waffen-, Feld- und Haushaltsgeräte stecken rings umher in dem dünnen Fachwerke oder liegen auf der Erde, auf kleinen Sockeln und Schemeln umher; unweit der Türöffnung raucht der Feuerherd.

Ernst: Die Hütte ist selten etwas als ein auf einigen Pfählen ruhendes Dach. [...] Die an der Meeresküste oder den Lagunen lebenden Fischerstämme wohnen teilweise auch in Hütten, die auf einem Pfahlwerk in einer 3-4 Fuß tiefen Stelle des Wassers erbaut sind.



[Palafíto (Hütte auf Pfählen im Maracaibosee)]

In dem vorderen niederen Teil der Hütte ist die Küche; der hintere Teil ist Wohn- und Schlafplatz. Ursache dieser Wasserbauten ist wahrscheinlich der Umstand, dass über dem Wasser die Plage der Mücken und sonstiger Insekten weniger groß ist. Wir haben hier also moderne Pfahlbauten. Diese Sitte fiel schon den spanischen Entdeckern auf.

Wesen
Engel: Der Goajiro verrät Neigungen und Gewohnheiten, die einer weniger rohen Lebensart nicht abholt sind, wie er geistig beweglich und betriebsam ist, so offenbart er auch mehrere Spuren eines bildungsfähigen, sinnlichen wie intellektuellen Geschmacks. Er gibt etwas auf seine Kleidung, liebt mehr ein feines, geschmackvolles Gewebe als ein musterloses, grobes Hemde, ebenso hält er es mit Leibgerichten und ist auf eine sorgsame Behandlung derselben erpicht; während seiner außerhäuslichen Tätigkeit beschäftigt er sich stundenlang im Stillen mit dem Fisch den ihm daheim die Weiber bereiten, mit der Essbegierde eines Gourmets kehrt er zurück und schüttet den ganzen Napf mit Speise in die Asche, wenn die Zubereitungen seiner Erwartung nicht entsprochen, er schlingt nicht stumpf und viehisch seine Speisen hinunter, wie so mancher seiner unterentwickelten und geistesmatteren Rassenbrüder.

Ernst: Die Goajiros sind leidenschaftliche Säufer. Außerdem tanzen sie gerne, doch stets einzeln, nach dem Tone einer Rohrpfeife, einer Art Trommel und der Maraca (Rassel).

Text: Dirk Klaiber
Fotos:
Posada Casa Vieja Mérida + Dirk Klaiber

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