caiman.de 07/2008
[kol_3] Grenzfall: Tanz der leidenschaftlichen Gebrechen
Venezolaner, Guatemalteken, Peruaner tanzen Merengue, Salsa, Samba. Kubaner Son. Kolumbianer schieben Brasilianer geschmeidig aus den Hüften heraus über die Tanzfläche. Mexikaner verdrehen ihre Beine beim Erklingen der geliebten Rancheras, ohne dass der Oberkörper ins Schwanken kommt. Unablässig und überall demonstrieren sie ihre Überlegenheit auf der Tanzfläche. Sie tanzen Nicht-Latinos geradezu in die Psychose. Labile Gebrandmarkte meiden Clubs, stürzen sich in Alkohol und Drogen. Forsche versuchen sich in der Nachahmung mit meist zweifelhaften Ergebnissen.
Bei regionalen Klängen wird es etwas gefühlvoller, wir schließen die Augen und tanzen ganz mit uns alleine im Lokalkolorit des Herzschmerzes. Dann endlich kommt der Hardrock und wir schütteln das Haupthaar. Nun mischen sich noch ein wenig Rave und Freestyle in das Hin und Her und schon sind wir evolutionsbedingt am Ende unser Kunst angelangt. Tanzen für und wider der Völkerverständigung Treffen Latina/o und Eura/o aufeinander, entsteht ein Spannungsfeld der erotischen Faszinationen, das sich in etwa bewegt zwischen Augenfarbe und Autogröße. Kommt es zur Eheschließung und einer Übersiedlung ins bisweilen kühlere nördliche Europa, dann rückt der Tanz symbolisch für alle Differenzen in den Mittelpunkt des täglichen Miteinanders. Nördliche Partnerinnen oder Partner möchten nach einem Arbeitstag im Stall nicht unbedingt die Hüften kreisen lassen, sondern zu Metallica und Torfrock die Birne leer schütteln. Für die Latinopartnerin oder den Latinopartner gehört zur Entspannung nach acht Stunden im Büro nun aber mal der gefühlvolle Rhythmus, der die Becken in Schwingung versetzt.
In Konsequenz folgt entweder die Flucht in heimisches Terrain nach Lateinamerika. Oder aber auf der anderen Seite der Frust, bedingt durch die Jungs, die im Salsa-Schuppen um die Ecke die eigene Frau betanzen und irgendwie anders aussehen und dadurch Verlustängste heraufbeschwören, führt zu Depression und Haarausfall. Gestern war ich auf einer Party. Unter den Tanzwütigen befanden sich auch drei Latinos. So ganz ohne Partner, sich also nur auf den eigenen Rhythmus zum popigen Beat verlassend, überzeugte die ansonsten herausragende Ästhetik der Bewegung nur bedingt. Gegen später mit härter werdenden Klängen verrenkte sich einer der drei den Halswirbel.
[druckversion ed 07/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall] |