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[art_2] Spanien: Freizügige Symbolik mittelalterlicher Bildhauer
Die Südfassade der Kirche San Pedro de Cervatos
 
In San Pedro de Cervatos ist es vor allem die Südfassade, die die Betrachter in ihren Bann zieht. Diese Fassade lässt sich lesen wie die Bildhandschrift einer abendländischen Version des Kamasutra. Fenster werden von Exhibitionisten eingerahmt, Tiere kopulieren mit Menschen, Männer mit Frauen, diese gebären... Alle Stadien von sexueller Lust, Vereinigung und Geburt wurden dem Künstler zum Thema. 


Seit dem Heiligen Jahr 1993 ist nicht nur eine Unmenge an Literatur zum Jakobsweg veröffentlicht worden, auch Fremdenverkehrsbehörden, Kulturämter und kirchliche Stellen trugen kräftig zur Renaissance dieser ersten gesamteuropäischen Kulturstraße bei. Meist steht das letzte Teilstück des Weges, der so genannte camino francés zwischen Saint Jean Pied-de-Port/Roncesvalles bzw. Somport und Santiago de Compostela im Zentrum der Aufmerksamkeit, jene knapp 800 Kilometer, auf denen wohl die meisten Europäer im Mittelalter ihren Weg vollendeten. Möglicherweise liegt jedoch die gesteigerte Aufmerksamkeit für gerade dieses Teilstück lediglich daran, dass darüber eine Art mittelalterlicher Reiseführer existiert, der Codex Calixtinus, verfasst von dem Franzosen Aimeric Picaud, der Station für Station den Weg, wie man ihn im 12. Jahrhundert nahm, beschrieb. Wie immer es auch gewesen sein mag, ob der camino francés in seinem heutigen Verlauf tatsächlich der am häufigsten frequentierte war oder nicht, die meisten Nordeuropäer mussten auf irgendeine Art den Norden Spaniens von Ost nach West durchqueren, zu Fuß oder zu Pferd, entweder nördlich oder südlich der kantabrischen Kordilleren, die sich von Santander fast bis Santiago parallel zur Küste ziehen. 

Im gesamten Gebiet, vor allem aber in den Provinzen, die als die Wiege Spaniens gelten, finden sich außerordentliche Kulturdenkmäler und nach und nach bemüht man sich darum, auch die abgelegeneren Dörfer und Weiler am Santiagoboom teilhaben zu lassen. Besonders eindrucksvoll sind die Zeugnisse von Baukunst und Bildhauerei der Romanik, deren geistige Grundlagen sich nicht zuletzt durch den Ausbau der Pilgerwege verbreiteten und die auf diese Weise zum ersten gesamteuropäischen Baustil heranreifte. 

Für den heutigen Beschauer oft rätselhaft ist die Symbolik der romanischen Bildhauer, antike Mythen paaren sich mit christlichen, selbst so fremde Zivilisationen wie die der Assyrer, Sumerer und Ägypter übten durch Kreuzzüge und Pilgerreisen Einfluss auf die europäischen Künstler aus. Oft füllte man bei der Christianisierung Europas lediglich heidnische Bräuche mit christlichen Inhalten oder jene Kulte überlebten nur notdürftig christlich übertüncht. 



Immer wieder lassen sich erotische Motive an christlichen Kirchen und Kapellen finden. Dabei kannten die mittelalterlichen Bildhauer eine Freizügigkeit, die dem späteren Christentum verloren ging. Sogar dem Trotaconventus, dem von Konvent zu Konvent streunenden Klosterbruder auf der Jagd nach erotischen Abenteuern, der durch den Arcipreste de Hita im Jahr 1330 literarisch verewigt wurde, wird durch die Figur eines seinen Habitus lüftenden Klosterbruders, der sein erigiertes Glied zum Vorschein bringt, ein steinernes Denkmal gesetzt. Noch heute greift den Betrachter vor allem der Realismus der Figuren an, deren verzückte Gesichtszüge die Zerstörungen der Jahrhunderte überdauerten. Es ist auch diese Lust, die die herkömmliche Interpretation des Phänomens so zweifelhaft erscheinen lässt. Demnach diente die Ikonographie der Sünde den Zwecken der Katechese. Geburten verwiesen auf die Folgen des Ehebruchs, die Darstellung der Wollust in all ihren Stadien sollte der Abschreckung vor dieser Todsünde dienen. Die Sodomie verstieß gegen die natürliche Ordnung der Welt. Das Weib, seit dem Sündenfall schuldig an der Vertreibung der Menschheit aus dem Paradies, galt der katholischen Moral als Verführerin, Ursache der Sünde. Zur Strafe beißen Schlangen ihre Brüste, Vögel hacken ihr die Augen aus. In einem Zeitalter, das Wollust zu den am weitest verbreiteten Lastern zählte, sollte der christlichen Askese die von der Natur diktierte Lust auch bildlich gegenüber gestellt werden. Der mittelalterliche Mensch war weniger durch das Wort als durch Bilder zu beeindrucken. 

Ein anderer Erklärungsansatz geht von den zahlreichen exhibitionistischen Abbildungen aus und setzt diese in Verbindung mit dem bäuerlichen Kalender. Die Exhibitionisten, sowohl Männer als auch Frauen, finden sich stets Seite an Seite mit im Februar zu verrichtenden Feldarbeiten. Die Darstellung der bäuerlichen Gewohnheit, sich mit erhobenen Rockschößen ohne Scham am Feuer zu wärmen, verwandelte sich so im Laufe der Zeit zum Topos des bäuerlichen Exhibitionisten.

Doch beide Erklärungsansätze werden der Qualität der Abbildungen und der Lust ihrer Bildner kaum gerecht. Nicht wenigen gilt heute das Mittelalter als Erfinder der Erotik. Die Liebe gepaart mit religiöser Ernsthaftigkeit als Voraussetzung für Minne und Frauendienst.  

Die für den Beschauer des 21. Jahrhunderts vielleicht schönste Theorie stammt von der italienischen Theologin Maria Caterina Giacobelli. Sie sieht die sexuelle Ekstase als Teil einer mittelalterlichen Theologie. Die sexuelle Vereinigung zweier Menschen galt als höchstes Gut des durch seine Körperlichkeit begrenzten Menschen. Sie ermöglichte die Teilhabe an der göttlichen Gnade. Das Osterfest, Höhepunkt des Kirchenjahres, wurde mit erotischen Gesten zelebriert. Eine deutsche Quelle des 16. Jahrhunderts erzählt gar von bei den Feierlichkeiten masturbierenden Priestern. Die obszönen Praktiken hätten den Risus Pascalis hervorgerufen, einen Heiterkeitsausbruch der Gläubigen, die so der österlichen Freude teilhaftig wurden. 

Wie weit die Darstellungen auch gingen, bereits früh meldeten sich auch deren Kritiker zu Wort. Schon im 9. Jahrhundert verbot der Erzbischof von Reims seinen Klerikern, sich zu betrinken und laszive Spiele zu erlauben. Im 13. Jahrhundert untersagte das Concilium Avernionense obszöne Gestiken in den Gotteshäusern ebenso wie das Rezitieren von Liebesgedichten und das Singen solcherlei Lieder. Das Konzil von Trient Mitte des 16. Jahrhunderts schaffte die obszönsten Gesten und Imitationen des Risus Pascalis ab, doch hielten sich diese Praktiken vereinzelt sogar bis ins 20. Jahrhundert wie eine Frankfurter Gazette noch 1911 zu berichten wusste. 



Der Reisende jedoch braucht sich um die akademischen Auseinandersetzungen nicht zu kümmern. Staunend steht er vor den romanischen Wunderkammern Kantabriens und der Provinzen Palencias, Burgos und Navarras. Unter den zahlreichen zoomorphen Dachkonsolen San Martin de Fromistas stößt er unvermutet auf gebärende Frauen, in San Vicente de la Barquera zeigt ein steinerner Klosterbruder ungeniert sein erigiertes Glied. Auf einem Säulenkapitell im Inneren in Santillana del Mar findet man ein eng verschlungenes Pärchen; sie streichelt sein übergroßes Glied, er liebkost ihre Brüste. San Cornelio und San Cipriano de Revilla de Santullan zeigen Fellatio und Schwangerschaft an eigentümlich roh gehaltenen Figuren. 

Ein Höhepunkt ist sicherlich die kleine Kirche San Pedro de Cervatos. An der Stelle, wo 999 vom Herzog Sancho de Castilla ein Kloster gegründet wurde, erhebt sich heute die in zwei Etappen gebaute Colegiata.

1129 errichtete man – von späteren Ergänzungen wie Apsis und Anbauten abgesehen – das Kirchenschiff, während man 70 Jahre darauf den dazugehörigen Turm fertig stellte, wie aus einer Inschrift zur Rechten des Eingangsportals hervorgeht.

Das Innere der kleinen Kirche ist späteren Datums, obwohl auch sehenswert doch kaum so in Staunen versetzend wie die provokativen erotischen Szenen der äußeren Fassade, die Gelehrte des vergangenen Jahrhunderts glauben ließen, es mit den Resten eines Tempels des Priapos zu tun zu haben, jenes kleinasiatischen Dämons, dessen Holzstatuen mit rot bemaltem, übergroßem Phalli in Wein- und Obstgärten installiert wurden, ebenso um das Glück anzuziehen wie um Diebe und Vögel abzuhalten. 

Welche Traditionen man auch immer aus dem dargestellten Bildkosmos lesen möchte, einen Abstecher von ausgetretenen Kirchenpfaden lohnt die Colegiata de San Pedro de Cervatos allemal.  

Text: Andrea Weindl
Fotos: G. Lanninger

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