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[art_1] Brasilien: Das Genie mit der Vogelseele
Aufstieg und Fall des Brasilianers Garrincha

Das Vorrundenspiel Brasilien - UDSSR der WM 1958 in Schweden: Vom Anstoßpunkt spielt Didi den Ball zu Garrincha, der drei Verteidiger umdribbelt. Dann ist er am Fünf-Meter-Raum. Nach 42 Sekunden Spielzeit knallt er das Leder gegen den linken Pfosten. Die Zuschauer springen auf. Der Ball kommt zu Pelé, der ihn nach genau 55 Sekunden an die Latte hämmert. Die Sowjets sind hilflose Statisten. Garrincha ist überall, dribbelt und flankt. Ein neuer Star ist geboren. Nach 180 Sekunden beendet Vavá mit dem 1:0 die vielleicht besten 3 Minuten der WM-Geschichte.

Garrincha. Titel, Tore und Tragödien
Ruy Castro, Mai 2006

Quelle: amazon.de

Manuel dos Santos, genannt Garrincha, 24 Jahre alt. Meist kommt er über die rechte Seite, läuft bis zur Grundlinie vor, zieht die Abwehr auf sich. Dann die scharfen Hereingaben vor das Tor, wo Vavá, Didi und Pelé nur noch vollenden müssen. Brasilien wird zum ersten Mal Weltmeister.

Seine außerordentlichen Künste verdankt Garrincha seinen krummen Beinen. Sie sind kurz und muskulös, der linke Unterschenkel steht jedoch nach außen ab, und der rechte parallel dazu nach innen. Das linke Bein ist 3 Zentimeter kürzer, sein Becken dadurch in Schieflage. Bei der Nationalhymne steht er wie ein S da. Das ist aber nicht der Grund dafür, dass er anfangs die Nationalhymne nie mitsingt, er kennt sie einfach nicht.

Manuel kommt aus ärmlichen Verhältnissen. Seine Kindheit in dem kleinen Dorf Pau Grande in der Nähe von Rio de Janeiro verbringt er mit der Jagd nach Vögeln. Die Dorfjugend holt sie mit Steinen vom Himmel. Und Manuel ist der treffsicherste. Besonders Zaunkönige, Garrinchas genannt, haben es ihm angetan. Daher sein Spitzname.

Er steigt schnell zum absoluten Star seines Klubs Botafogo auf. Leichtfüßig durchfliegt er die gegnerischen Abwehrreihen. Trotzdem wohnt er weiterhin unter ärmlichsten Verhältnissen in Pau Grande, wo er die Nächte mit seinen Kumpels durchzecht und den Frauen zugetan ist. Der Nachwuchs kommt im Jahresrhythmus.

Die WM 1962 in Chile wird sein Meisterstück. Pelé scheidet verletzt aus, und so wechselt Garrincha von der rechten Angriffsseite ins Zentrum. Aus dem klassischen Vorbereiter wird ein Torjäger.

Zwei Tore im Viertelfinale gegen England, zwei im Halbfinale gegen Chile. Zwar sieht er gegen Chile die rote Karte, nachdem er seinen brutalen Gegenspieler aus Revanche in den Hinter getreten hat. Doch das Glück ist ihm treu, und der Disziplinarausschuss spricht ihn frei.

Während dieser WM beginnt seine Liebe zu der brasilianischen Starsängerin Elza Soares. "Ich gewinne den Titel für Dich", verspricht er ihr. Beim 3:1 Endspielsieg gegen die Tschechoslowakei glänzt er als Spielmacher. Er ist der König, er ist ganz oben angekommen. Daheim schenkt man ihm aus Dank für den WM-Titel einen Zaunkönig, den er hegt und pflegt.

Garrincha verlässt seine Familie und zieht aus dem beschaulichen Pau Grande zu Elza ins swingende Rio. Was folgt sind wilde Partys, schnelle Autos und teures Jetset-Leben. Und noch mehr Alkohol. Das Leben in Rio ist zu schnell für ihn. Er habe die verletzliche Seele eines kleinen Vogels, sagt ein Mitspieler.

Der Abstieg beginnt. Seine krummen Beine verursachen höllische Schmerzen, seine Knie halten die ständigen Attacken der gegnerischen Abwehrspieler nicht mehr aus. Nach den Spielen schwellen sie an, und er muss nach jeder Begegnung einen Monat pausieren. Da er pro Spiel bezahlt wird, kommen finanzielle Probleme hinzu. Garrincha betäubt den Schmerz mit Alkohol.

Betrunken verursacht er Autounfälle am laufenden Band. Sein Ruf ist ruiniert. Aus sentimentalen Gründen nimmt man ihn 1966 mit zur WM nach England. Doch Garrincha steht nur noch unbeweglich auf dem Platz. Seine Karriere ist zu Ende.

Das knapp gewordene Geld verschenkt er an seine 14 Kinder und vertrinkt den Rest. Mitte der 70er verlässt ihn Elza.

Ein letztes Mal trifft er Pelé, den Sunnyboy, dem auch nach dem Karriereende alles gelingt. Daneben sitzt ein zerstörter Garrincha, aufgedunsen und dem Ende nahe. Das selbige kommt nach insgesamt 15 Klinikaufenthalten Anfang 1983. Der Flug des Zaunkönigs ist zu Ende. Ein kleiner Junge mit einer Vogelseele hat ihn vom Himmel geholt.

Text + Fotos: Thomas Milz