ed 05/2008 : caiman.de

kultur- und reisemagazin für lateinamerika, spanien, portugal : [aktuelle ausgabe] / [startseite] / [forum] / [archiv: ausgaben / länder / kolumnen]


[kol_1] Helden Brasiliens: Die Lieder der Verfluchten
"Pecadinho" von Márcia Castro

Hören: 1_Frevo.mp3 (Erster Song des Albums Pecadinho)

Heutzutage fällt einem leider sehr selten eine wirklich überraschende Musikproduktion in die Hände; vor allem nicht, wenn es sich um ein Erstlingswerk handelt. Meist wird versucht, den Geschmack der breiten Masse zu treffen und das Ganze wirkt dann übertrieben quadratisch-angepasst.

Wie gut, dass es da immer noch Ausnahmen gibt, dass Musiker etwas Ausgefallenes wagen. Wie zum Beispiel Lieder von Komponisten aufzunehmen, die gerade nicht in Mode sind. Márcia Castro, eine 29-jährige Sängerin aus Bahia, ist mit ihrer CD "Pecadinho" solch ein Fall.

Auf dieser sehr eklektischen CD singt Márcia Lieder von Tom Zé, Jorge Mautner, Sérgio Sampaio und Itamar Assumpção, um nur einige der "malditos", der Verfluchten der brasilianischen Musikszene, zu nennen. Und man bekommt sogar ein bisher unveröffentlichtes Stück von Zeca Baleiro zu hören, "Nega Neguinha".


"Aber man hat mir erzählt, dass Zeca das Stück für seine nächste CD gerade aufnimmt", weiß Márcia zu berichten.

"Ich liebe Chico Buarque, Caetano und Gil. Aber man hat ihre Stücke schon so oft aufgenommen und ich wollte unbedingt bisher unbekanntere Lieder singen; Lieder, die mich bewegen. Deshalb bin ich hinter den als 'Verfluchte' bezeichneten Komponisten her gewesen, den 'Außenseitern', die wunderbare Sachen gemacht haben, leider aber niemals den Durchbruch bei der breiten Masse hier in Brasilien schafften."

Die CD ist eine wahrhafte Achterbahnfahrt zwischen Frevo ("Pecadinho"), elektronischer Musik, Reggae, Blues ("Nega Neguinha"), Rhythmen aus Bahia und sogar einer Ballade mit Orchester ("Rainha do Egito" von Jorge Mautner). "Diese Auswahl spiegelt meine Persönlichkeit wider – eine Mischung, die ich in mir trage. Mein Vater war Musiker, Trompeter; er spielte vor allem Jazz, Bossa Nova und Musica Popular Brasileira. Das hat meine musikalische Basis geprägt. In meiner Jugend kam dann noch brasilianischer Rock und Pop dazu.

Ich liebe die brasilianische Poesie, die Wörter, und deshalb bewegt mich das brasilianische Lied sehr. Danach habe ich ein Musikstudium absolviert und bin mit der „musica erudita" in Berührung gekommen, die nichts mit der Identität von Bahia zu tun hat, wie Samba-Reggae und Samba."

Dank der sorgsamen Produktion von Luciano Salvador Bahia, unter "der wertvollen Mithilfe von Márcia Castro" (so steht es im CD-Beiheft), balanciert die CD derart unterschiedliche Stile gekonnt aus. Luciano Salvador Bahia ist auch für die an einen bunten Jahrmarktzirkus erinnernde Grundstimmung und die Theatersounds der CD verantwortlich. "Im Leben ist ja irgendwie alles ein großes Theater, das Leben an sich ist eine Bühne. Und Luciano ist zudem auch Theaterregisseur. Er erarbeitet die Musik zu den an der Universität von Bahia aufgeführten Stücken. Ich selber habe auch schon Musik fürs Theater aufgenommen und sogar als "cantriz", einer Mischung aus Schauspielerin und Sängerin, in einem Stück mitgewirkt. Deshalb verstehen wir beide uns in diesem Bereich sehr gut, sind uns nahe. Und das bereichert unsere gemeinsame Arbeit ungemein."

Zurzeit reist Márcia hin und her zwischen Salvador und São Paulo, wo sie eine Reihe von Auftritten hat, um "Pecadinho" dem Publikum vorzustellen.


"Es ist sehr schwierig, sich von Salvador oder irgendeiner anderen Stadt des Nordostens aus auf die nationale Bühne zu katapultieren. Die wirtschaftliche Achse ist nun einmal hier im Süden, und hier gibt es das Geld, um sich eine Karriere aufzubauen. Heute geht nichts ohne Geld – Du machst kein Konzert, keine Tournee oder Platte ohne Geld. Und dies sitzt vor allem hier in São Paulo." Márcia kam auf eigenes Risiko nach São Paulo und ging von Tür zu Tür, um einen Produzenten zu finden. Und hat es geschafft.


Wir trafen Márcia an einem sonnigen Tag in São Paulo zum Interview.

Warum musstest Du nach São Paulo kommen um Deine CD vorzustellen? Die Musikszene in Salvador ist doch eigentlich national sehr stark?
Márcia: Aber in Salvador gibt es die Tradition der Axé Musik, die alles andere unterdrückt. Ich glaube nicht, dass es sich dabei um einen bewussten Prozess handelt oder eine Art System, aber die Leute interessieren sich einfach nicht für Dinge, die nicht Axé Musik sind. Alle sind derart in diesem Axé-Ding involviert und verdienen damit sehr viel Geld.

Natürlich gibt es immer noch interessante Sachen wie die Arbeit des Cortejo Afro und selbst Daniela Mercury und Carlinhos Brown versuchen ja, ein bisschen Innovation in die Axé Musik hineinzubringen.

Aber ganz allgemein gesehen hat in Salvador eine totale Vermassung des Axé stattgefunden. Und Axé verschließt den Markt vollkommen für jegliche andere Form von musikalischer Äußerung. Noch schlimmer ist allerdings, dass es in allen Bereichen der Kultur in Bahia zu einer Vergnügungskultur gekommen ist, sei es im Theater oder beim Tanz. Kunst zählt nur, wenn man sich dabei vergnügen kann.

Wenn wir auf einem öffentlichen Platz in Salvador auftreten, müssen wir unser Repertoire anpassen und seichtere und fröhlichere Stücke spielen. Sonst hört einfach niemand zu. Diese totale Vermassung hat sich in Salvador über die letzten 20 Jahre entwickelt, und was die Qualität angeht, ging dabei Einiges verloren.

Ich bin ein Fan der frühen Jahre der brasilianischen Musik als man noch wunderbare Texte finden konnte und besonders sorgsam mit der Musik umgegangen ist. Heute gibt es das nicht mehr. Zwar spielen die besten Musiker in den Axé-Gruppen, und die CDs sind ja auch sehr gut produziert und arrangiert. Aber es ist so als ob man eine musikalische Einheitsnorm eingeführt hätte mit immer den gleichen musikalischen und textlichen Themen, den gleichen Rhythmen. Der diesjährige Carnaval erinnerte mich eher an einen Rave – alles genau gleich. Alles Einheitsware, Einwegware.


Natürlich ist das überall auf der Welt so. Aber im Fall von Salvador passiert dies auf eine besonders grausame Art. Und es infiziert andere Kulturbereiche wie zum Beispiel das Theater – hier hat ein Stück nur Erfolg, wenn rumgeblödelt wird.

Passiert das auch in anderen Kulturzentren des Nordostens?
Márcia: In Recife geht man ganz andere Wege. Dort gibt es den Frevo, Maracatu, aber auf nationaler Ebene wird Recife nicht als bedeutendes Kulturzentrum angesehen. Die dortige Bewegung ist sehr langsam entstanden, aber man ist dabei vorsichtig vorgegangen. Man beschützt die Populärkultur und überrollt deren Manifestationen nicht einfach. Ich halte das für eine sehr interessante Entwicklung.

Axé fällt jetzt ja sogar in den Carnaval Rios ein, der traditionell stets am Samba festgemacht wurde...
Márcia: Ich will nicht sagen, dass die Ikonen der verschiedenen Musikrichtungen nicht eine gewisse Qualität aufzuweisen hätten. Aber die Sertaneja-Musik [brasilianische Countrymusik mit mexikanischem Einschlag] und Axé haben heutzutage diesen Plagen-Effekt; sie infizieren einfach alles und legen eine musikalische Norm über alles. Und dies geschieht nicht nur in den Medien, sondern generell bei allen Manifestationen. Axé überdeckt sogar den Samba in Bahia, den es praktisch kaum noch gibt.


Stets hat man sich darüber gestritten, ob der Samba in Rio oder in Bahia geboren wurde. Roque Ferreira hat einmal gesagt: wenn er tatsächlich in Bahia geboren wurde, so hat er eine Rabenmutter. Will man Samba in Bahia hören, muss man nach Cachoeira oder Santo Amaro gehen. In Salvador selbst findet man ihn nicht mehr. Aber daran sind nicht die Axé-Musiker schuld – da steckt eine komplette Produktionskaskade dahinter.

Willst Du mit deiner Musik denn nicht die Massen ansprechen?
Márcia: Nicht, dass ich das nicht will. Es ist ja immer gut, wenn man die Masse anspricht, und es wäre ja sehr anmaßend von mir, das nicht zu wollen. Wie es auch eine Anmaßung wäre, dies zu wollen. Aber ich mache das alles zuerst einmal für mich, und erst danach schaue ich, ob es jemandem gefällt.

Text, Interview: Thomas Milz
Fotos: Virgínia de Medeiros (Fließtext) und Thomas Milz (Interview)

[druckversion ed 05/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]


© caiman.de: [impressum] / [disclaimer] / [datenschutz] / [kontakt]