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[kol_3] Grenzfall: Das Lied der Straße

Heute, als ich wieder einmal versuchte auf der Straße Geld zu verdienen, wurde ich gefragt, ob ich glücklich sei. Eigentlich hätte ich zornig werden, den jungen Mann in seinem feinen Anzug ungespitzt in den Boden rammen sollen, aber seltsamer Weise war ich nicht einmal peinlich berührt. Im Gegenteil, ich war sprachlos und wusste nichts Vernünftiges zu antworten. Vielmehr war ich gezwungen, mir das mit dem Glücklichsein einmal gründlich vor Augen zu führen.

Was gehört denn alles dazu, zu diesem glücklich sein? Immerhin lebe ich auch jetzt noch. Ohne Geld, ohne Perspektive und inzwischen auch noch ohne Unterkunft, weil ich die Miete nicht mehr aufbringen kann. Lebensplanung... sie fand nicht statt, ja, konnte überhaupt nicht stattfinden.

Wie denn auch?! Mein fast vierzigjähriges Leben lang habe ich stets das gemacht, was mir gerade in den Sinn kam und was mir zudem Freude bereitete. Lange war das auch gut gegangen. Jetzt allerdings sieht es düster aus. Meinem kleinen Sohn und seiner Mutter kann ich im Moment nicht einen Centavo geben, obwohl ich will, obwohl ich müsste. Und das zerreißt mir das Herz. So gesehen bin ich nicht glücklich und gerade auch nicht vom Glück verfolgt. Ich fühle mich im Stich gelassen und habe die falschen Dinge für wichtig gehalten. Hätte ich nur mit meinem damaligen Vermieter eine Pension aufgemacht, dann hätte ich zumindest ein eigenes Zimmer und auch ein kleines Einkommen, um über die Runden zu kommen. Aber sich diesbezüglich über die Vergangenheit Gedanken zu machen, macht noch weniger Sinn, ja geradezu unglücklich.

Nun scheine ich also wirklich von externen Faktoren derart in Beschlag genommen worden zu sein, dass mir mein ehemals eherner Grundsatz, so zu leben, wie ich will, nur auf mich zu schauen und, wenn es denn erforderlich ist, auch kompromisslos egoistisch zu handeln, nicht einmal ein müdes Lächeln abringt.

Ohne es bewusst wahrzunehmen, befinden wir uns in einem Geflecht aus Abhängigkeiten, aus denen wir nicht so einfach herauskommen. Eigentlich sind wir gänzlich unbemerkt darin gefangen, was gut, aber auch schlecht sein kann. Machen wir uns schließlich daran, das Geflecht lockern zu wollen oder es gar zu sprengen, fügen wir zwangsläufig uns oder anderen Schmerz und Enttäuschung zu. Ist es dann doch einmal geschehen, versuchen wir schließlich die positiven Dinge aus dem Dilemma zu ziehen.


So brutal es sich anhören mag, aber zwei Dinge können wir Menschen in einem nur uns zugedachten Maße allzu gut: verdrängen und vergessen. Und zwar alles, was uns momentan nicht in den Kram passt! Und die Zeit soll es schließlich richten und die tiefen Wunden heilen. Aber, und das vergisst man immer wieder gerne, es bleiben stets Narben zurück.

Einige der mir selbst zugeführten Wunden wollen schon lange nicht mehr heilen. Ich jagte und jage noch immer meinen Träumen hinterher, ohne sie erfüllen zu können. Gelebt habe ich auf die eine oder andere Art. Und geliebt ebenso. Ohne Liebe lässt es sich nicht leben, sagen die Leute. Aber wer meint, dieses fragile Konstrukt Liebe würde einfach so funktionieren, dem sei auch gesagt, dass er einem großen Irrtum aufsitzt. Meine Frau habe ich verloren und auch die letzte vermeintlich große Liebe meines Lebens: Franco, meinen Sohn. Meine Freunde konnten mir nicht helfen, wenngleich ich ihnen keinen Vorwurf machen will, obwohl ich vielleicht müsste. Nicht mal einen Schlafplatz haben sie mir angeboten. Vielleicht habe ich aber auch nicht danach gefragt. Verletzter Stolz, verletzte Ehre. Komisch ist es schon, denn viele Menschen meinen, dass hier die Freundschaft so viel zählt, aber wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dann wird doch vieles so, wie man es gerade nicht erwartet hätte.

So, oder so ähnlich hab ich es dem Herrn im Anzug auch zu erklären versucht. Ich glaube allerdings, dass er es nicht verstanden hat. Wie denn auch? Manches mal verstehe ich es selbst nicht wirklich, wie das alles so kommen konnte, aber der Kopf sitzt auch bei mir noch immer da, wo er hingehört und irgendetwas wird kommen. Da bin ich mir sicher.

Wenn ich in der U-Bahn oder auf der Straße spiele, schämte ich mich am Anfang. Es war so ungewöhnlich und neu vor lauter unbekannten Gesichtern seine Lieder zu spielen. Immer dann, wenn mich heute noch dieses Gefühl beschleicht, dass mir die Finger an der Gitarre nicht mehr gehorchen, schließe ich die Augen und atme tief durch. Dann denke ich an Franco und er ist jede Sekunde wert, die ich hier stehe und meine Musik zum Besten gebe. Inständig hoffe ich dann, dass es bei mir bald weitergeht.

Text + Fotos: Andreas Dauerer