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[art_1] Brasilien: Zieht Chico um?
Die Umleitung des Rio São Francisco

Velho Chico, vens de Minas
De onde o oculto do mistério se escondeu
Sei que o levas todo em ti
Não me ensinas
E eu sou só eu só eu só eu
Caetano Veloso - O Ciúme


Wenige Tage vor Weihnachten wurde in Brasilien ein Bischof ohnmächtig, weil er Hunger hatte. Luíz Flávio Cappio, Bischof von Barra in Bahia, befand sich seit 23 Tagen im Hungerstreik aus Protest gegen die geplante Umleitung des Rio São Francisco, des größten Flusses Brasiliens, der in Minas Gerais entspringt, den Nordosten durchquert und zwischen den Staaten Sergipe und Alagoas nach 2800 Kilometern in den Atlantik mündet. Dann erreichte ihn die Nachricht, dass der Oberste Gerichtshof die Weiterführung der aus rechtlichen Bedenken eingestellten Bauarbeiten erlaubt hatte. Er brach zusammen und wurde in die Intensivstation eines Krankenhauses in Petrolina am Ufer des Flusses eingeliefert.

Es ist nicht das erste Mal, dass die brasilianische Regierung darüber nachdenkt, die Wasser des São Francisco zu verwenden, um der Trockenheit des Sertão entgegenzuwirken und das damit verbundene Elend der dortigen Bevölkerung zu lindern.

Schon Kaiser Dom Pedro II hatte darüber nachgedacht, allerdings kam ihm dann der Krieg gegen Paraguay dazwischen, bevor er den Gedanken zuende bringen konnte, und es hätte sich ohnehin die Frage gestellt, ob die Ingenieure des 19. Jahrhunderts überhaupt technisch zu der Umsetzung eines solchen Mammutprojektes in der Lage gewesen wären. Immerhin handelt es sich um die größte Ingenieursvision seit der Transamazonica - die übrigens zahllose Hektare Regenwald und ebenso viele Menschenleben gekostet hat; die von Dschungel und Klima Stück für Stück mit der gleichen Geschwindigkeit wieder zerstört wird, in der man sie repariert; die meines Wissens noch immer nicht ganz fertig ist und von der nicht ganz klar ist, wer sie überhaupt noch haben will.


Seitdem haben immer wieder große Dürren die Menschen aus dem Sertão in die Küstenstädte getrieben, und die Umleitung des großen Flusses ist immer wieder als mögliche Lösung diskutiert worden.

Der jetzige Präsident Luís Inácio "Lula" da Silva allerdings meint es offenbar ernster als seine Vorgänger. Vom Hauptstrom sollen zwei gewaltige Kanäle abgezweigt werden, die die trockensten Landstriche durchqueren und die dortige Bevölkerung mit Wasser versorgen. Erste Vorarbeiten für das Projekt haben bereits begonnen. Und zwar unter Beaufsichtigung des Heeres - offenbar macht man sich Sorgen um den Unmut der Bevölkerung.

Bischof Dom Cappio ist die Galionsfigur einer landesweiten Protestbewegung gegen die Umleitungspläne, der sich bereits eine endlos lange Reihe von sozialen, kulturellen und kirchlichen Organisationen angeschlossen hat.

Unabhängige Institutionen sagen voraus, dass der Eingriff massive Umweltschäden am ohnehin schon stark angeschlagenen Ökosystem des Flusses nach sich ziehen wird. Dass die immensen Betriebskosten des Projektes den Wasserpreis in die Höhe treiben werden. Dass die Kostenschätzung von 3 Milliarden Dollar um ein Vielfaches zu niedrig angesetzt ist. Dass die Bevölkerungsteile, die von der Trockenheit am meisten betroffen sind und am werbewirksamsten als Nutznießer des Projektes verkauft werden, viele von ihnen Indigene oder Nachkommen von entflohenen Sklaven, so verstreut in den Weiten des Sertão leben, dass das Wasser aus den Kanälen sie nicht erreichten wird.


Außerdem gibt es schon jetzt Gemeinden, die bloße zehn Kilometer vom Fluss entfernt liegen und trotzdem durch Lastwagen mit Wasser versorgt werden müssen - der São Francisco ist an vielen Stellen bereits so stark verschmutzt, dass man sein Wasser ohnehin nicht trinken kann, und den vereinzelten Gemeinden des Sertão wäre mit dem wesentlich billigeren Bau vieler kleiner Zisternen deutlich mehr geholfen. Zahlreiche Bewässerungsprojekte dieser Art sind angefangen, aber nie zuende gebracht worden.

Die öffentlichen Wassernetze, in denen das umgeleitete Wasser eingespeist werden soll, funktionieren mit einer so mangelhaften Effizienz, dass mehr als die Hälfte des eingespeisten Trinkwassers auf dem Weg verloren geht.

Die Quintessenz des Protestes ist also die folgende: Das Problem der Region ist nicht die Knappheit des Wassers, sondern der schlechte Umgang damit; angebracht wäre eine Revitalisierung des Flusses, eine Verschärfung und bessere Kontrolle der Umweltauflagen, eine Verbesserung der Wasserzirkulationssysteme.

Und dann sind da auf der anderen Seite die Großgrundbesitzer mit den exportorientierten Obstplantagen und den Krabbenzuchten, die einen extrem hohen Bewässerungsbedarf haben und sich sehr über das Projekt freuen. Vielleicht hat der eine oder andere von ihnen ja noch einen Cousin mit einer Baufirma. Das Muster ist nicht neu und es fällt schwer, hinter diesen Tatsachen nicht nach den üblichen Verschwörungen Ausschau zu halten.


Die Zahlen und Argumente findet man in den üblichen Quellen, und in der Debatte um die Umleitung des Flusses sind sie allgegenwärtig: Wie lang, wie breit, wie viele Kubikliter Wasser, wie viele Höhenmeter. Wie verschmutzt. Wie viele oder wie wenige Fischspezies. Wie viel Prozent hiervon oder davon. Wie viele Bakterien und Schwermetalle. Wer profitiert, wer nicht.

All das ist leicht in Erfahrung zu bringen, und all das reicht bereits aus, der Umleitung des São Francisco mit gehöriger Skepsis gegenüberzustehen. Der andere, schwieriger in Zahlen messbare Wert des Velho Chico ist von außen bestenfalls am Rande erkennbar, aber doch ein ganz wesentlicher Grund für die Leidenschaft, mit der viele brasilianische Gemüter auf den geplanten Eingriff reagieren: Der Rio São Francisco ist eine mythologische Persönlichkeit von Rang und Namen. Er ist das Identität gebende Landschaftsmerkmal des Nordeste schlechthin. Er ist Protagonist in einer Unzahl von Geschichten und wird in ebenso vielen Liedern besungen. An seinen Ufern trafen die ersten Jesuiten auf die ersten Indianer, entlang seines Verlaufs wurde Brasilien zu Brasilien - im Guten wie im Schlechten.

Es gibt also eine Menge weitere erstaunliche Dinge über den Fluss zu erfahren, die in der Diskussion weniger präsent sind, aber doch eine Rolle spielen. Zum Beispiel dieses: Immer ungefähr um Mitternacht schläft der Fluss ein. Er schläft kurz, nur zwei oder drei Minuten, aber er schläft tief und fest. Die Strömung ruht, die Wasserfälle halten inne, und es wird ganz still. Die Fische legen sich im Flussbett zur Ruhe, die Schlangen verlieren ihr Gift und die Wassermutter entsteigt dem Nass, auf der Suche nach einem Kanu, auf das sie sich setzen kann, um ihr langes, langes Haar zu kämmen. Die Ertrunkenen erheben sich aus den Tiefen und machen sich auf den Weg zu den Sternen. Die Bootsleute, die sich um Mitternacht auf dem Fluss wiederfinden, üben die größte Vorsicht, ihn nicht in seiner Nachtruhe zu stören. So wirft ein Bootsmann, der durstig ist, ein Stückchen Holz aufs Wasser, bevor er sich zu Trinken nimmt. Treibt das Hölzchen bewegungslos auf der Oberfläche und rührt sich nicht, dann wartet der Mann ab, denn es gehört sich nicht, den Fluss zu wecken. Wer das tut, wird vielleicht bestraft, von der Wassermutter, von den Fischen, von den Schlangen oder von den Ertrunkenen, die die Sterne nicht erreichen können.


"Das Haupthindernis der Entwicklung ist nicht die Knappheit an Wasser oder an Investitionsmitteln, sondern das Fehlen von Gerechtigkeit" - so sprach Präsident da Silva noch 2004. Bischof Cappio hat seinen Hungerstreik beenden müssen, ohne dass die Regierung eingelenkt hätte. Heute sagt Lula: "Zwischen dem Leben eines Bischofs und dem der Armen entscheide ich mich für die Armen". Klingt gut. Aber ob das hier die Frage ist?

Text: Nico Czaja
Fotos: Thomas Milz

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