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[kol_1] Helden Brasiliens: Die 7:1 Gesellschaft
Brasiliens Schockstarre nach dem WM-Desaster

Es hätte auch 8:0 ausgehen können, doch statt den Ball in der 89. Minute leicht über den herausstürzenden Julio César zu lupfen oder nach rechts auf den mitgelaufenen und nun völlig frei stehenden André Schürrle zu passen, versucht es Mesut Özil selbst. Und verzieht. Statt Tor also Abstoß und über Marcelo gelangt der Ball direkt zu Oscar, der sich zwischen die beiden deutschen Verteidiger Mertesacker und Boateng geschlichen hatte, letzterem enteilt und Neuer chancenlos lässt. Abpfiff und Ende, 7:1.

Seither steht 7:1 für vieles, was in Brasilien schief geht. Und anders als das mögliche 8:0 hat es zudem eine überraschende Ästhetik, die wohl nur der Zufall und Özil entstehen lassen konnten: Ist die Sieben doch eigentlich nichts anderes als eine leicht nach rechts fallende oder sich neigende Eins. Diese leichte Verschiebung um lediglich 45 Grad, nicht viel also, macht in diesem Fall natürlich den eklatanten Unterschied aus
 
Seit jenem 8. Juli ist in Brasilien nichts mehr wie es war. Nach dem Fiasko im Mineirão-Stadion zu Belo Horizonte waren sich noch alle einig, dass Brasiliens nur noch vom Ruhm vergangener Zeiten zehrender Fußball von Grund auf und à-la-Deutschland reformiert werden müsse. Zudem stehe der Ballsport symbolisch für die angeblich allumfassende Rückständigkeit Brasiliens gegenüber Europa. Eigentlich sei alles falsch und müsse ab sofort auf den Kopf gestellt werden.

Das „Land des Fußballs“ ist Brasilien aufgrund der aktuellen Qualität des Ballsports wohl nicht mehr, aber in einem Punkt ist und bleibt es das „País do futebol“: ein einziges Spiel hat ausgereicht, um die Stimmung im Land kippen zu lassen. Seither hört man Phrasen wie: „Auch in der Bildung und im Gesundheitswesen erleiden wir täglich ein 7:1.“ 7:1 wird auf alle möglichen Missstände angewendet, wie die lahmende Wirtschaft oder abstürzende Börsen- und Währungskurse.
 
Natürlich sind die großen Reformen ausgeblieben, immer noch laufen die Dinge so wie vor der WM-Niederlage. Bis auf die Stimmung, die einer fortwährenden Niedergeschlagenheit gleicht, einem auf ewig sich wiederholenden 7:1. Kein Wunder, dass die Jahresrückblicke auf 2014 im Zeichen jenes unsäglichen Nachmittags in Belo Horizonte standen. Und das (Un)Wort des Jahres sei „Gol da Alemanha“, so war man sich in den sozialen Netzwerken einig.



Damit es 2015 besser läuft, zumindest im Mineirão-Stadion zu Belo Horizonte, haben die Verwalter zum Jahreswechsel den Rasen ausgetauscht. Man hätte ihn natürlich auch in kleinen Stücken verpackt an deutsche Fans verkaufen können. Doch stattdessen karrte man das Grün auf 75 Lastwägen Richtung Müllkippe. Mindestens fünf LKWs hätten ihre Fracht jedoch statt auf der Kippe an verschiedenen Straßenkreuzungen rund um das Stadion abgekippt, berichten Lokalzeitungen. – Es scheint recht schwierig zu sein, sich von den Altlasten der Vergangenheit in Würde zu verabschieden.

Text + Fotos: Thomas Milz

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