suche



 


[kol_2] Grenzfall: Trauriges 2005 für den venezolanischen Kondor

Trotz der andauernden Regenzeit war es ein herrlich sonniger Morgen und so hatte mein Vater an diesem Ferientag beschlossen, mit meiner Mutter und mir, dem achtjährigen Jesus, einen Ausflug in den Páramo zu unternehmen. Papa ist Polizist in Caracas und weil er dieses Jahr einen guten Job geleistet hat, ist er für seine Dienste am Vaterland ausgezeichnet und mit einigen Tagen Urlaub in den venezolanischen Anden in Mérida belohnt worden. Schon am zweiten Tag fühlte er sich ob der klaren Luft und der herrlichen Aussicht wie neu geboren und von unbändigem Tatendrang erfüllt. Akribisch säuberte er seine Waffe und ging dann auf den Hotelparkplatz um seinen Wagen warm laufen zu lassen. Eine Viertelstunde später bereits befand sich die Familie auf dem Ausflug. Immer höher arbeitete sich unser kleines Auto die Transandina empor und immer mehr gab es zu entdecken: kleine Kirchen, typische Dörfer, eine Pflanze, die sich Frailejón nennt, Bergseen und die lustigen Leute mit ihren tiefroten Wangen. Mich interessierte aber nur eins, der Kondor.

Seit ich zum ersten Mal von dem hier heimischen und größten Vogel der Welt gehört hatte, war ich fasziniert. In meinem Zimmer über dem Bett hängt ein Foto aus einer Zeitung meiner Mutter und in der Schule hatte ich ihn als mein Lieblingstier vorgestellt.

Meine Bindung zum Kondor erfuhr ich durch meinen Großvater, der hier aus den Anden stammt und mir viel von seinem Volk, den Timotes, erzählte. Die Timotes verehrten die Kondore als Götter und fütterten einige Vögel an Festtagen so lange bis diese nicht mehr fliegen konnten. Die voll gefressenen Kondore konnten dann nur noch mit den riesigen Flügeln schlagen, die bis zu 3,5 Meter Spannweite erzielen, und träge hüpfen. Dies interpretierten die Timotes als Tanz der Götter und tanzten mit. Als die Spanier kamen, töteten sie alle Kondore, da sie es nicht ertrugen, dass die Timotes die gewaltigen Geier, zu dessen Familie sie gehören, verehrten und mit dem spanischen Gott auf eine Stufe stellten.

Auf der Wanderung von der Laguna Mucubají, eine Gletscherlaguna auf 3500 Meter, zur Laguna Negra, stolperte ich einige Male, weil ich ununterbrochen den Himmel nach Kondoren absuchte. Mein Vater kam aus dem Lachen gar nicht mehr heraus, da er glaubte, ich würde mich aufgrund der Höhe so tollpatschig anstellen. Aber ich wurde belohnt: Erst, so kam es mir vor, erspähte ich ein Exemplar weit oben am Himmel, welches nur als schwarzer Punkt in 10000 Meter Höhe auszumachen war. Dann aber gleitete ohne Vorankündigung hinter einem Felsen ein stattlicher Kondor hervor, überflog unsere Köpfe und verschwand in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich bezirzte meine Eltern sofort umzukehren und den Kondor zu verfolgen. Meine Mutter konnte mir diesen Wunsch nicht abschlagen und mein Vater ist nicht unbedingt erpicht darauf längere Strecken zu Fuß zurück zu legen, so dass sie meinem Begehren nachgaben. Leider holten wir den großen schwarzen Vogel nicht mehr ein.

Ein wenig enttäuscht bestieg ich das Auto und wir setzten unseren Ausflug fort. Kaum 10 Minuten später aber sah ich ein Hinweisschild auf das Tal von Mifafi. Hier hatte man 1992 mit der Wiederansiedelung der Kondore in den venezolanischen Anden begonnen und hier, so schrieb die Zeitung, sei der beste Platz freie Kondore zu beobachten. In der Kondorstation erfuhren wir, dass vor 13 Jahren fünf Kondore genau an dieser Stelle freigelassen wurden, mit dem Ziel, die Täler und Höhen des Nationalparks Sierra Nevada wie einst mit Kondoren zu besiedeln. Immerhin fanden sich unter den Neuankömmlingen ein Männchen und ein Weibchen so sympathisch, dass sie beschlossen, fortan als Paar auf Lebenszeit zusammen zu bleiben. Im Idealfall hätten sie alle zwei Jahre Nachkommen in die Welt setzten können, doch leider blieb ihnen der Kinderwunsch verwehrt. Das Glück des Kondorpärchens wie auch des gesamten Forscherteams zerstörte ein Bauer aus der Gegend, der die beiden beim Fressen über ein Aas gebeugt erspähte und kurzer Hand das Männchen erschlug. Das Weibchen zeigte sich nur noch einmal im Tal von Mafifi und war dann wie vom Erdboden verschwunden. Auch zwei weitere Kondore blieben nicht mehr lange. Wahrscheinlich fanden sie Liebschaften im naheligenden Kolumbien und zogen es vor, dort ihre Zelte aufzuschlagen.

Traurig lauschte ich den Ausführungen des Forschers und plötzlich, ohne genau darüber nachzudenken, sprudelte es aus mir heraus: "Dann gibt es ja nur noch einen einzigen Kondor im Páramo und den habe ich gerade gesehen."

Der Forscher bestätigte: "Ja, Jesus. Da hast du großes Glück gehabt. Denn obwohl uns der letzte Kondor oft besucht, so ist er doch genauso oft tagelang unterwegs."

Mit einem weinenden und einem lachenden Auge verließ ich an der Hand meiner Mutter die Station Mifafi um zum Auto zurück zu kehren. Mein Vater war schon vorgelaufen und öffnete die Türen. Und dann sah ich ihn erneut. Vielleicht 10 Meter vom Auto entfernt auf einem großen Stein. Er schaute mir direkt in die Augen. Gebannt verharrend wagte ich nicht einmal zu atmen. Die Welt um mich herum schien still zu stehen, so intensiv empfand ich den Moment. Die Welt meines Vaters allerdings drehte sich weiter und geriet just in diesem Moment aus ihrer Bahn. Denn wie von allen guten Geistern verlassen, zog er seinen Revolver und drückte ab. Dann sah ich nur noch Blut und Federn.

P.s.: Seit dieser traurigen und im Kern wahren Begebenheit ist kein Kondor mehr im Tal von Mifafi gesichtet worden. Hoffnung besteht natürlich weiterhin, dass aus den angrenzenden Gebieten, etwa dem Tamá Nationalpark oder den kolumbianischen Anden wieder Kondore in die Sierra Nevada übersiedeln. Vielleicht kehren auch die drei Sprösslinge der Station, die vorübergehend in anderen Gefilden nach Partnern freien, nach Mifafi zurück. Groß war die Freude als unmittelbar nach dem geistesumnebelten Akt des Polizisten der Zoo in Mérida verkündete, dass es zum ersten Mal Nachwuchs bei den Kondoren gegeben habe.

Text: Dirk Klaiber