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[art_4] Brasil: Vila Kunterbunt - São Paulos Farbklex



São Paulo ist eine graue Eminenz, in Stein gehauen und Beton gegossen. Soweit das Auge reicht, hat eine Mischung aus kaltem Pragmatismus und unfertigem Sachzwang für trübe Tristesse gesorgt. Ganz São Paulo ist davon geprägt. Ganz São Paulo? Nein, ein kleiner Flecken westlich des Zentrums widersetzt sich dem Diktat uniformer Hässlichkeit. Hier dominiert das Bunte, angekleckst an die Außenwände gemütlicher ein- oder zweistöckiger Häuser, als Graffiti an Mauern und als Mosaikornamente an Sitzbänken und auf Gehwegen. Willkommen in der Vila Madalena, São Paulos Farbklex.

Hier finden sich einige der besten Restaurants, Livemusik-Clubs, Bars und Diskotheken der Stadt. Während die älteren Semester der gehobenen Mittelschicht japanisch oder italienisch schlemmen, vergnügen sich ihre Kids laut und ausgelassen. Von Donnerstagnacht bis Montagmorgen verwandeln sich die steilen Straßen der Vila in hupende Open-Air-Parkplätze, die überquellenden Restaurants ergießen sich über die mit Tischen und Stühlen vollgestellten Bürgersteige, und aus den Clubs mit so prägnanten Namen wie "Infarta Madalena" (etwa "herzinfarktende Madalena?) wummern die Bässe. Dazu versammeln sich Hunderte bei den Proben der Sambaschule "Perola Negra", die gerne in den frühen Morgenstunden laut trommelnd durch die Gassen zieht und damit den Verkehr vollständig zum erliegen bringt.


Bei Tag betrachtet fallen die zahlreichen bunt ausgestalteten Künstlerateliers und Modegeschäfte, die mit farbenfrohen Motiven gespickten Wände und Gehsteige auf. Hier ist das Projekt "Cidade Escola Aprendiz" des Journalisten Gilberto Dimenstein ansässig, ein Stadtteilprojekt, das mit Hilfe von Kulturprojekten versucht, die Kinder des Viertels in die Gestaltung des öffentlichen Raumes einzubeziehen und damit gegen die Marginalisierung innerhalb der Stadt und ihrer Bewohner anzukämpfen. Open-Air-Kino, Tanzgruppen, Jonglierkurse und grelle Circushappenings gehören genauso dazu wie die in den stillgelegten Hinterhöfen skatenden Jugendlichen.Dazu gehört auch das Projekt "100 Muros", 100 Mauern, das für die Verschönerung großer Teile des Viertels verantwortlich ist.

Gemeinsam mit ansässigen Künstlern werden ursprünglich grau-triste Wände und Bürgersteige mit bunten Farben und selbstbemalten Kacheln und Mosaiken geschmückt – ein Versuch, den in Brasilien zu oft vernachlässigten öffentlichen Raum aufzuwerten, der allzu gerne als öffentliche Müllhalde und Niemandsland angesehen wird, das man durch rund um die eigenen vier Wände gezogene hohe Mauern und Gittern aussperrt.

Wie lange die Vila noch ihre Ausnahmestellung gegenüber dem grauen Rest der Stadt aufrecht erhalten kann, ist schwer zu sagen. In den höher gelegenen Teilen des Viertels schießen jedoch schon die Hochhäuser in den Himmel, mit Apartments vollgestopft, deren Wert mit zunehmender Stockwerkzahl steigt. Je weiter man dem suspekten Treiben auf dem Erde entfliehen kann, desto besser. Hier oben hat man nur noch Gott als Nachbarn. Wenn er denn existiert.

Text + Fotos: Thomas Milz

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