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[art_2] Haiti: In den Bergen

Seit Dezember 2001 arbeite ich im Hospital St. Damien in Petionville/Haiti. Träger ist die haitianische Organisation vom Kinderhilfswerk Unsere Kleinen Brüder und Schwestern e.V. Einer unserer kleinen Patienten war Raynaldo Dorlean, ein 3-jähriger Junge mit angeborenem Herzfehler. Aufgrund seiner chronischen Erkrankung kam er in regelmäßigen Abständen in unsere Ambulanz und musste auch immer wieder stationär behandelt werden. Begleitet wurde er von seiner Mutter, einer 29-jährigen, sehr netten und fröhlichen Frau. Raynaldo war ihr einziges Kind und während seiner stationären Aufenthalte wich sie nie von seiner Seite.

Es war im Winter 2002/2003 als Raynaldo für einige Wochen bei uns behandelt wurde. Ich habe mich in dieser Zeit intensiv um ihn gekümmert und Mutter und Sohn wuchsen mir sehr ans Herz. Wir wussten alle, dass Raynaldos Krankheit, die in Deutschland natürlich operiert werden kann, auf Haiti eines Tages tödlich enden wird. Immer häufiger musste die Medikamentation erhöht werden und der Kleine bekam kritische Atemnotanfälle. Doch seine Mutter bewahrte ihren Optimismus und ließ sich auch von den schlimmsten Krisen nicht aus der Bahn werfen.

Die Monate vergingen und im September 2003 musste Raynaldo wieder aufgenommen werden. Er schien gerade auf dem Weg der Besserung, als er eines Nachts plötzlich starb. Die treue Mutter ging und nahm ihren verstorbenen Jungen mit nach Hause. Ich hatte keinen Dienst und erfuhr es leider erst am nächsten Tag. Wir waren alle sehr geschockt und ich hatte das spontane Bedürfnis, mit der Mutter zu sprechen. Ich musste ihr einfach sagen, wie leid es mir tut. Ich beschloss, sie zu besuchen.

Wenn Kinder bei uns aufgenommen werden, geben die Eltern Name und Adresse an. In Raynaldos Akte stand, dass seine Mutter Marie-Carmelle Dorlean heißt und in der Rue Borno 54 in Petionville lebt. Das klang deutlich einfacher als ich erwartet hatte, zumal auch ich in Petionville wohne. Ich machte mich also am Morgen des nächsten Tages auf den Weg. Der Taxifahrer kannte die Rue Borno und wir erreichten sie in weniger als 10 Minuten. Soweit so gut, nur - eine Nummer 54 gab es leider nicht. Auf einem nahegelegenen Markt fragte ich die Verkäuferinnen.


Die waren alle sehr freundlich, aber weiterhelfen konnten sie mir leider auch nicht. Keiner kannte eine Marie-Carmelle, die gerade ihr Kind verloren hatte. Ich ging durch den Markt die Straße weiter hinauf, die dann Rue Borno prolonge (verlängert) heißt. Es gab keine Nummer 54. Der Weg wurde immer steiler und unbewohnter und als eine Frau mir sagte, dass weiter oben bereits die Zone Maligne beginnt, kehrte ich um.

Ich war schon etwas entmutigt, als mir einfiel, dass alle Eltern bei der Aufnahme Adressen von Freunden und Nachbarn angeben müssen mit zentralen Punkten wie Geschäfte oder Kirchen, um in dem namen- und nummerlosen Straßenchaos von Haiti einzelne Häuser zu finden.

Also rief ich die Sozialarbeiterin unseres Krankenhauses an, von der ich mehrere Namen und Adressen erfuhr. Ich musste also doch bis zur Zone Maligne und dort nach einer Madame Arnold fragen. Mein Taxifahrer kannte besagte Frau auch und ließ mich vor deren kleinem Restaurant aussteigen. Leider hatte Madame Arnold noch nie von Marie-Carmelle oder Raynaldo gehört.

Ich war kurz davor aufzugeben als sich eine Kundin, die das Gespräch verfolgt hatte, an mich wandte. Sie kannte eine junge Frau, die gerade ihren 3-jährigen Sohn verloren hatte. Sie heiße allerdings nicht Marie-Carmelle sondern Jocelyn. Doch da alle anderen Fakten übereinstimmten, beschloss ich diese Jocelyn aufzusuchen. Ein Mann wurde gerufen, der mir den Weg zeigen sollte. Wir gingen durch das kleine Dorf, bis die Straße aufhörte und ein steiniger Pfad in die Berge führte.

Es war heiß, es war steil und ich war nach fünf Minuten aus der Puste. Mir war übel und schwindelig, doch weder gab es Schatten noch hatte ich Wasser bei mir. Alle Menschen, denen wir begegneten, waren sehr freundlich, fragten wohin ich denn wollte und entschuldigten meine offensichtliche Unsportlichkeit einfach mit: "Du bist eben die Berge nicht gewohnt". Mein Begleiter brachte mich zum Haus eines Freundes, der mir Wasser gab. Es war warm und ein bißchen moderig, doch ich fühlte mich gleich besser.

Wir saßen zu dritt auf der kleinen Veranda, die zu dem Steinhaus gehörte. Es war schattig und angenehm kühl. Mein Atem beruhigte sich wieder und ich entspannte mich in der friedlichen Atmosphäre. Nach einer Viertelstunde bedankte ich mich für die Gastfreundschaft und setzte meinen Weg fort. Jetzt begleitete mich ein etwa 10-jähriger Junge. Mein vorheriger Führer blieb im Haus des Freundes.

Nach kurzer Zeit war ich wieder erschöpft, doch der Junge versicherte mir, wir seien beinahe am Ziel. Eine letzte Steigung, dann folgten wir einem kleinen Pfad den Berghang hinunter. Vor einem schlichten Haus aus Stein und Lehm saß Raynaldo’s Mutter und lächelte mich an. Sie freute sich sehr über meinen Besuch und stellte mich ihrer ganzen Familie vor. Wir waren im Haus ihrer Mutter, einer kleinen schlanken Frau, die acht Kinder zur Welt gebracht hat. Sie hält sich ganz aufrecht, ist zart und stark zugleich und von einer Leichtigkeit, die sich nur schwer beschreiben lässt. Sie läuft so leicht, als berührten ihre Füße den Boden nicht. Bei all ihrer Arbeit im Garten und Haus lacht sie hell und fröhlich, alles scheint ihr mühelos von der Hand zu gehen. Sie ist wie mit Luft gefüllt. Einige Tage später habe ich in einem Buch gelesen, dass viele solcher leichten Menschen die Erde in der Schwebe halten. Jocelyns Mutter gehört mit Sicherheit zu ihnen.

Ich lernte noch einige der Geschwister kennen, aber auch Schwager, Cousins, Freunde und Nachbarn. Wir saßen alle vor dem Haus. Leute kamen und gingen, lächelten. Freundliche Worte wurden gewechselt. Oft schwiegen wir auch einfach nur.

In dieser entspannten Atmosphäre merkte ich: Das ist Haiti! Es ist nicht Port au Prince mit seinen Müllbergen, Abgasen, Lärm und häufig aggressiven Menschen. Nein, um Haiti kennenzulernen, muss man in die Berge gehen. "Haiti" bedeutet "Bergiges Land" und HIER leben die Haitianer. In den kleinen Bergsiedlungen findet man die Gastfreundlichkeit, Herzlichkeit und Freundschaft dieser Menschen, die denen in Port au Prince in ihrem täglichen Kampf ums Überleben oft verloren gegangen ist.

Bei Jocelyn und ihrer Familie ist das Leben einfach und hart. Es gibt kein fließendes Wasser, keinen Strom, die Frauen müssen jeden Tag schwere Lasten in die Stadt bringen und ihr Gemüse auf dem Markt verkaufen. Ihr Tag beginnt um 3 Uhr morgens und endet gegen 19 oder 20 Uhr. Sie gehen nicht ins Kino, nicht zum Essen oder zum etwas Trinken, doch trotzdem beneide ich sie um ihr Leben. Um diese Ruhe und Harmonie und die Fähigkeit mit diesem einfachen, harten Leben völlig zufrieden zu sein.

Jocelyn erzählte mir von der Nacht als Raynaldo starb. Wie immer hatte sie bei ihm im Krankenhaus geschlafen. Als sie nachts aufwachte und seine Hand fühlte, war diese ganz kalt. Jocelyn rief die Schwester und sagte ihr, dass Raynaldo gestorben sei. Da sie ihren Sohn nicht zurücklassen wollte, wickelte sie seinen kleinen Körper in ein Lacken und trug ihn durch die Nacht nach Hause. Um 3 Uhr morgens war es ihr nicht möglich, ein Taxi zu finden. Erst im Morgengrauen, als die ersten öffentlichen Verkehrsmittel die Straßen belebten, konnte sie für die letzte Etappe einen Bus nehmen. Sie hielt den kleinen Jungen, als schliefe er, da der Fahrer ihr ansonsten den Transport verweigert hätte.

Es erschien mir unglaublich, dass eine so zarte Frau ihr totes Kind einen so weiten und steilen Weg tragen konnte. Vielleicht kann man versuchen, es mit Mutterliebe zu erklären oder aber mit der Selbstverständlichkeit, mit der Haitianer schwierige Lebensumstände meistern können. Egal was es ist, ich habe den größten Respekt vor dieser Tat, die von enormer Stärke, Liebe und Duldsamkeit zeugt.


Ich hatte Jocelyn Geld mitgebracht, damit sie Raynaldo beerdigen kann, denn Begräbnisse sind auf Haiti sehr teuer. Doch er wurde bereits in einem kleinen Grab neben dem Haus beigesetzt. Ich ließ den Umschlag mit dem Geld und einem Foto von Do, wie Jocelyn ihn nannte, auf dem Tisch liegen und schämte mich sehr dafür. Geld geben, das ist oft alles was wir Weißen können.

Die Erfahrungen dieses Tages kann ich dieser Familie nicht bezahlen. Auch nicht für ihre Gastfreundschaft und Herzlichkeit. Ich habe an diesem Tag mehr gelernt über die Freude an einfachen Dingen, über Respekt, Toleranz und Zufriedenheit als jemals zuvor. Doch dafür konnte ich ihnen nicht danken. Sie würden mich nicht verstehen.

Ich verabschiedete mich am späten Nachmittag, um nicht in den Regen zu kommen. Einer von Jocelyns Brüdern begleitete mich, um den riesigen Sack Gemüse zu tragen, den die Mutter mir zurechtgemacht hatte. Sie bedankten sich für meinen Besuch. Wenn ich ihnen nur erklären könnte, wie sehr ich zu danken habe.

Wer das Krankenhaus St. Damien unterstützen möchte, kann bei Unsere Kleinen Brüder und Schwestern e.V. spenden unter dem Stichwort "Krankenhaus Haiti" auf das Konto 87 47 002, BLZ 660 205 00 bei der Sozialbank Karlsruhe. Informationen erhalten Sie beim Deutschen Büro in Karlsruhe Tel: 0721-354400 oder unter www.HilfefuerWaisenkinder.de

Text + Fotos: Heike Needham

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