caiman.de, februar 2003

Venezuela - Der Tank ist leer

Die ewig weite Ebene ist Sonnen überflutet. Wildpferde galoppieren dem Horizont entgegen. An den im Januar noch zahlreichen Wasserlöchern tummeln sich Kaimane, purpurfarbene Ibisse, rosa Löffler. Die Llanos, das tierreiche Hinterland, ist zu dieser Jahreszeit normalerweise ein Muss für Venezuela-Reisende. Doch in 2003 ist es vom Tourismus noch gänzlich unberührt.

Seit dem 2.12.2002 herrscht in Venezuela der Generalstreik, dessen Brennpunkt vor allem in der Erdölindustrie liegt. Die Fördermenge liegt momentan höchstens bei einem Fünftel gegenüber der im November. Dies hat Auswirkungen auf die Versorgungslage, denn Benzin ist knapp und Transporte jeder Art nur noch sporadisch zu bewerkstelligen

So reihen sich in einigen Teilen des Landes bis zu 1600 Autos an denjenigen Tanksäulen aneinander, die eventuell von einem Tanklaster angesteuert werden könnten. In Mérida, in den Anden gelegene Studentenstadt und einer der wichtigsten Ausgangspunkte für Touren in die Llanos, ist zudem die Abgabemenge pro Auto auf 20 Liter beschränkt.

Mérida liegt im fruchtbaren Hochland und beliefert das ganze Land mit Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln und Erdbeeren. Diese wichtige Grundnahrungsquelle für Caracas versuchen die Streikenden zu unterbinden und Treibstofflieferungen erreichen Mérida wesentlich seltener als beispielsweise die gesamte Küstenregion. Die Anden-Bauern haben somit keine Chance ihr Gemüse nach Mérida-Stadt zum Großhändler, der den Vertrieb nach Caracas organisiert, zu transportieren.

Bei der vorerst letzten Vier-Tage-Llanos-Tour, die am 24.12.2002 wieder in Mérida eintraf, hatten auf der Strecke sämtliche Tankstellen geschlossen und der Guide ist sprichwörtlich mit dem letzten Tropfen Sprit, den er aus seinen verbotenerweise mitgeführten Ersatztanks hatte heraus hohlen können, nach Mérida eingelaufen.

Aber auch in Caracas herrscht Notstand. Für Touristen ist es kaum möglich nach der Landung in Maiquetia, dem Internationalen Flughafen der Hauptstadt, die Reise noch am gleichen Tag fortzusetzen. Von den neun inländischen Fluggesellschaften starten gerade mal zwei und das unregelmäßig. Das gleiche gilt für die Überlandbusse. Es bilden sich kilometerlange Schlangen vor den Ticketschaltern. Man muss darauf einstellt sein, einige Tage vergebens zu warten, und selbst wenn ein Busticket für einen tatsächlich startenden Bus ergattert ist, weis man nicht, ob unterwegs nachgetankt werden kann.

Durch den allgemeinen Versorgungsengpass ist das Preisniveau stark angestiegen und viele Geschäfte haben geschlossen. Das gleiche gilt für Posadas, Hotels und Anbieter von Touren. Viele der oftmals ausländischen touristischen Unternehmer verbringen die Streikzeit in Übersee und warten dort auf die Rückkehr zur Normalität.

Erdöl kontra Chávez
Hugo Chávez wurde 1998 mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten Venezuelas gewählt. Mit seinem Amtsantritt verkündete er die Zerschlagung des seit einem halben Jahrhundert gewachsenen bis unters Kinn korrupten Elitegewächses, dass sich aus wenigen Familien zusammensetzt, die Parlament, Obersten Gerichtshof und die Führungsetagen der Ölkonzerne fest in der Hand halten. Die persönlichen Bereicherungen dieser Führungsschicht belasteten das venezolanische Volk nicht, solange auf dem Weltmarkt Erdöl mit Gold aufgewogen wurde. Seit Ende der achtziger Jahre aber blieb dem gemeinen Volk nichts mehr. Die Einnahmen aus den Erdölexporten reichten gerade noch zur Deckung des luxoriösen Lebenwandels der Machthabenden und Venezuela konnte den allgemeinen Lebensstandard, den man der ersten Welt zuordnete, nicht mehr halten. Mittlerweile, das heißt bei Amtsübernahme durch Chávez, ist die Mittelschicht stark geschrumpft und die Armut überall im Land präsent.

Um dem Klüngel der oberen 10.000 ein Ende zu setzen, wählte Chávez den radikalen Weg diktatorischer Maßnahmen und befahl, die Macht des Militärs im Rücken, den personellen Austausch sämtlicher wichtiger Ämter. Hierbei unterließ er es jedoch nicht, immer wieder auf seine Bestrebungen zu verweisen, schnellst möglich zur reinen Demokratie zurückzukehren. Die Intellektuellen des Landes bezogen weder gegen noch für Chávez Position. Sie erkannten die Notwendigkeit seiner radikalen Vorgehensweise, um möglichst schnell eine Basis in Parlament und wichtigen Unternehmen zu schaffen, die ihm die Umsetzung seiner sozialen Ziele, grob der Bekämpfung der Armut, demokratisch ermöglichen sollten. Blieben aber skeptisch, ob er nicht auch wie seine Vorgänger, einmal an der Macht korrumpiert werden würde.

Leider unterschätzte Chávez einen Punkt: Die Wichtigkeit des venezolanischen Erdöls für die USA.

Unbeliebt hatte sich Chávez in Washington bereits kurz nach seinem Amtsantritt gemacht, als er verlauten ließ, dass er weder die Militäraktionen gegen Afghanistan gutheiße noch sich dazu bereit erkläre, Washington im kolumbianischen „Anti-Drogen-Kampf“ zu unterstützen (der hintergründig wohl auf das Interesse Nordamerikas an den enormen noch schlummernden Ölvorkommen Kolumbiens abzielt dürfte). Gleichzeitig unterstrich er diese Position durch die Aufhebung des uneingeschränkten Nutzungsrechts des venezolanischen Luftraumes durch US-Militärflugzeuge.

Den Zorn der eng mit der nordamerikanischen Erdölindustrie verbundenen Bush-Regierung (Bush war Präsident von Abusto und Harken, Vizepräsident Cheney war Chef von Halliburton, Sicherheitsberaterin Rice saß im Aufsichtsrat von Chevron, usw.) aber löste er aus, mit der Ankündigung, die Kontingente der OPEC einzuhalten und nach Absprachen mit wichtigen OPEC-Mitgliedern, die OPEC wieder als politisches Instrument gegen die „imperiale“ Macht des Westens einsetzen zu wollen. Dies hätte zum einen den Anstieg des Ölpreises auf dem Weltmarkt zur Folge und zum anderen würde den USA – Venezuela ist für den nordamerikanischen Ölverbraucher zweitwichtigster Rohöl-Lieferant – große Mengen des nicht-arabischen Erdöls nicht mehr zur Verfügung stehen. Doch gerade in Zeiten der bevorstehenden Krise im arabischen Raum wächst die strategische Bedeutung der golffernen Erdöl-Produzenten.

Rolle der USA
Am 12.4.2002 wurde gegen die Chávez-Regierung erfolgreich geputscht. Doch bereits nach 48 Stunden verlor der zum Regierungschef auserkorene Pedro Carmona, Vorsitzender des Unternehmensverbandes, seine neue Stellung wieder an den von der Fallschirmstaffel des Militärs wieder eingesetzten Chávez. Die Rolle der USA ist in diesem Zusammenhang ungeklärt. Zwar weisen sie jegliche Beteiligung am Putsch von sich, doch war es die US-Regierung, die den Umbruch in „demokratischem“ Sinne verdächtig schnell nach dem Stürz des „diktatorischen“ Regimes Chávez` begrüßte. Zumindest aber gingen wichtige venezolanische Unternehmer, darunter auch Carmona, im Weißen Haus ein und aus. Das die Vorgehensweise des Putsches oder auch des aktuellen Generalstreiks, speziell aber des vehementen Streiks des Erdölsektors, nicht thematisiert worden sein sollen, ist eher unglaubhaft.

Wie geht’s weiter?
Wenn Chávez auch diese Krise übersteht, ist noch lange nicht gewährleistet, dass er den zu Beginn seines Amtsantritts propagierten sozialen Weg ungestört verfolgen kann, sofern er nach den Rückschlägen, April-Putsch und Generalstreik, überhaupt noch fähig dazu ist. Die Opposition im Land ist gewachsen. Große Teile der venezolanischen Presse (wie auch der Weltpresse) geben die Meinung des Weißen Hauses wider und sind gegen Chávez eingestellt.
Und die USA werden dem Einlösen seiner Versprechen bezüglich der der Erfüllung der OPEC Erdölkontingente Widerstand leisten, das zumindest scheint bis zum Aufspüren neuer Erdöl-Quellen sicher.

Alternative Kandidaten für das Amt des venezolanischen Präsidenten scheint es in den Augen des Volkes zurzeit nicht zu geben. Eher wie ein planlos zusammen gewürfelter Haufen erscheinen die am Plaza Altamira, in einer der reicheren Zonen Caracas`, in Zelten ihre Vorstellungen von Demokratie anpreisenden Oppositionellen. Und so muss die Frage nach dem „Wie geht´s weiter“ vertagt werden.

Text: Dirk Klaiber