caiman.de, juli 2002

La Negra, Bud und Tio Rico
Choroní: Karibisches Venezuela

Seit zwei Stunden probt die 7-köpfige Gruppe venezolanischer Studenten den Aufbruch in Richtung Strand. Doch immer wieder scheinen Kleinigkeiten vergessen oder Lippen des Nachziehens bedürftig.

Mit der Zeit werden die Motivationsbemühungen einzelner Mitglieder heftiger. Und ihr energisches Winken und Pfeifen zeigt Wirkung: Das gemächliche Schlürfen der Nachzügler weicht einem angetäuschten Trippelspurt, begleitet von „voy – ich komme schon“ Rufen.

Tatsächlich ist die Gruppe alsbald abmarschbereit. Einzig Bud – er ist seinem nordamerikanischen Bundy Pendant wie aus dem Gesicht geschnitten – kann sich mit der neuen Geschwindigkeit seiner Mitstreiter nicht anfreunden. Mit aller Zeit der Welt und einer vor Zahncreme triefenden Zahnbürste überquert er den Innenhof der kleinen Posada gen Bad.
Doch die Kollegen mit ihrer Geduld am Ende. Sie setzen sich in Bewegung.

Auch wir verlassen das Szenario, widmen uns die nächsten drei Stunden dem Frühstück und setzen uns dazu bei La Negra an einen der beiden Tische vor dem Laden. Je nach Tageszeit bedienen drei bis sechs junge und ältere Frauen unterschiedlicher Couleur, von café con leche bis café negro den winzigen Tresen und die Küche. Dazu gesellen sich sporadisch balgende Kinder und Männer, die mit ihren breiten PickUps den nur zu Stoßzeiten (Ostern und Neujahr) heftigen Verkehr für Minuten zum Stillstand bringen, um ihre Ration Empanadas entgegen zu nehmen und Neuigkeiten auszutauschen.

Die Empanandas im La Negra sind exzellent, wenn auch wie überall im Land recht fettig. Wir schaffen drei, müssen jedoch dem Völlegefühl Tribut zollen und mit reichlich Saft und café con leche und negro nachspülen. Indes verdrückt der Kellner der Bar von weiter unten am Hafen gerade seine sechste frittierte Maisspeise; springt sodann auf, um der älteren Dame, die soeben das Lokal betritt, seinen Platz zu überlassen und gesellt sich an den Tresen, um weitere Empanands zu vertilgen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich eine zweite Empanadería. Diese ist beliebtes Frühstücksdomizil der mobilen Eisverkäufer, die sich zunächst ausgiebig stärken, um dann mit ihren Spezial-Handkarren der Marken EFE oder Tío Rico den Strand unsicher zu machen. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist das permanente anschubsen der im Schiebegriff integrierten Glöckchenreihe.

Schräg gegenüber, rechter Hand der Eismafia, befindet sich ein kleiner Likörladen, der von einem wundervoll Wort kargen Gespann betrieben wird. Die venzolanische Zeichensprache beherrschen die beiden, Opa und Nichte, in Perfektion. Leichtes Anheben der Nasenflügel: „Was willst du?“ Spitzen der Lippen: „Du bist an der Reihe.“ Verzerren des Blicks: „Versteh dich nicht.“

Junge Mütter stolzieren auf und ab, den Kinderwagen vor sich her schiebend oder die Kleinen auf dem Arm tragend.

Es ist ein eindruckvolles Stolzieren. Erst durch ihre Babies erlangen die Mütter vollkommene Schönheit und werden von der Umgebung auch so wahrgenommen. Kein Gedanke, das Kind könne eine, wenn auch nur vorüber gehende, Last darstellen; vielmehr wird es als Juwel verstanden, welches seiner Trägerin inneren Glanz verleiht, der nach außen strahlt.

Der dritte Kaffee verleiht uns unbändige Kraft und wir setzen unseren Weg fort; der Strand rückt näher. Schon von der Ferne macht er den Eindruck, als hätten sich sämtliche Strandliegen Riminis und Benidorms vereinigt und wären gen Karibik gezogen. Es ist halt Semana Santa.

Wir bahnen uns den Weg durch Sonnenschirme und Eisboxen, Bierverkäufer und Whiskeyflaschen, Frisbeescheiben und Schwimmflügel und stoßen nach dreihundert Metern auf eine kleine Lichtung. Dort platzieren wir die Hängematten, ergattern kaltes Polar und schaukeln beglückt ein wenig entfernt vom wilden Treiben.

Der Blick zum Wasser ist fast frei. Einzig eine mobile Polizeieinsatztruppe hat ihr Lager aufgeschlagen und hält Ausschau. Doch: Kein Streit, keine bekifften Touris, kein Hai Alarm. Die Jungs und Mädels in Uniform werden allmählich relaxter. Mützen fallen, Ärmel werden hoch geschlagen, Augenlider sinken, dem schmachtenden Schielen Richtung Bierverkäufer wird bald nachgegeben.

Einen tollen Job verrichten die Tio Rico und Efe Eisverkäufer. Mit ihren Wagen erobern sie unter unendlichem Kraftaufwand den Strand bis in den letzten Winkel. Und als ob es der Anstrengung noch nicht genug wäre, erfreuen sie potentielle Jung-Kunden durch das Offerieren von Mitfahrgelegenheiten. Nie aber vernachlässigen sie ihre Glöckchen-Reihe.
Später kommt Wind auf, und Sand weht uns ins Gesicht. Als wir Rimini passieren, hat sich der Strand gelichtet und wir treffen die Studententruppe und Bud, der, scheinbar umgehend nach seinem Eintreffen am Strand, geknebelt und dann bis zum Hals eingebuddelt wurde. Grimmig und zermürbt, böse von Sonne und Salzwasser zugerichtet, blickt er seiner Freilassung entgegen. Die Losung ist der Trödler Song, der uns bis ins Dorf nachhallt: „Ich Trödler, ich Trödler, ich bin ein großer Trödler, ich Trödler...“

Text: Dirk Klaiber