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Spanien: Der Tag der Himmelsköniginnen - Palmsonntag in Sevilla (Teil 3)

Christus und Herodes - nächtliches Duell zwischen Gut und Böse
Eine halbe Stunde vor Mitternacht vor der Kirche San Ildefonso. Der klassizistische Tempel aus dem frühen 19. Jahrhundert ist hübsch anzusehen mit seiner rosa Doppelturm-Fassade und bildet die prachtvolle Hintergrundkulisse für die Prozession der 1901 gegründeten "San Roque"-Bruderschaft.


Christus von San Roque um Mitternacht vor der Kirche San Ildefonso

Die Nazarenos vom "Heiligen Felsen" tragen weiße Gewänder und violette Kapuzenmasken aus Samt, die im Kerzenschein glänzen. Auch diese Hermandad hatte im 20. Jahrhundert einige Belastungsproben zu bestehen. Im Jahre 1936 wurde ihre Kirche San Roque ein Opfer anarchistischer Zerstörungswut und stand in Flammen. Dabei wurden die beiden Pasos und alle Statuen vernichtet.

Die aktuellen Skulpturen wurden 1938/39 von Antonio Illanes und Fernández Andes nach den alten Vorbildern geschaffen. Der "Señora de Gracia y Esperanza", die nun im grünen Mantel herangetragen wird, passierte 1946 ein Missgeschick. Ein paar Tage vor der Karwoche wurde ihr damals in der Kirche ihre Krone gestohlen, so dass sie während der Prozession ungekrönt durch die Straßen Sevillas getragen werden musste.

Während der Wartezeit blättern wir in unseren Semana-Santa-Programmen, die informativ, aber nüchtern und abstrakt die Daten und Zahlen herunter beten: San Roque - 950 Nazarenos, 35 Träger für jeden Paso, 45 Minuten braucht die Prozession, um an einem Punkt vorbei zu ziehen. Dabei kommt nichts zum Ausdruck von der Magie des Augenblicks: eine im Nachtwind flackernde Kerzenflamme, die intensive Farbwärme von granatrotem Samt und Gold, das nur von Kerzenlicht angestrahlt wird, der haushohe Schatten, den der Baldachin wirft, der kurze Moment der Berauschtheit, wenn man plötzlich von einer Weihrauchwolke eingehüllt wird, die Sekunde, in der man von einem Blick stolzer Erschöpftheit eines Costaleros gestreift wird, der unter dem Paso heraufblickt, die Gänsehaut, die von den flehenden Tönen einer Saeta ausgelöst wird - diesmal gesungen von einem höchstens 12-jährigen Kind. Und zuletzt das kaum angedeutete, alles vergebende Lächeln der "Jungfrau der Anmut und Hoffnung", die so lebendig scheint, als ob sie im nächsten Moment durch die Kerzenpyramide heruntersteigen könnte, bevor die Illusion verfliegt und ihr Paso mit flackernden Lichtern verschwindet.

Mitternacht in der Calle Hernando Colón. Zwei Reihen gespenstisch weiß gekleideter Nazarenos bilden ein Spalier und halten ihre Kerzen so exakt, dass sie sich fast kreuzen. Im Hintergrund die golden angestrahlte Puerta del Perdón der Kathedrale. Diszipliniert schreitet die Prozession von "La Amargura" voran. Gegründet 1696, gehört sie zu den aristokratischen Bruderschaften und ihre Prozession gilt als die feierlichste des Tages. Jedes Detail von La Amargura ist von barocker Pracht, alles fügt sich zu einem spektakulären Gesamtkunstwerk zusammen.


Der prunkvolle Paso de Cristo
der Bruderschaft La Amargura
Als golden leuchtendes Bollwerk biegt der Paso "Christus des Schweigens vor der Verachtung des Herodes" in die Straße ein, deren Breite er fast vollständig ausfüllt. Alles an diesem Kunstensemble, das nun rasch näher getragen wird, ist sehr edel. Bei diesem Paso zeigt sich der Unterschied zwischen teurer und billiger Vergoldung.

Aber nicht der Wert des Materials, sondern die lebendige Dramatik der Figurenkonstellation ist das Faszinierende bei dieser Passionsszene. Im Vordergrund steht Jesus, weiß gekleidet, gefesselt und mit geduldigem Gesichtsausdruck, im Moment der Verurteilung durch König Herodes. Links und rechts von ihm römische Legionäre, Sklaven der imperialistischen Macht. Im Hintergrund, erhöht auf einem grotesken Thron, der Marionettenherrscher von Roms Gnaden: Herodes, der Kindermörder, mit hinterhältigem Mienenspiel.

Der hasserfüllte Blick dieses Potentaten gilt der Lichtgestalt Christi, dessen Tod er gerade beschlossen hat.

Was unbeschwert am sonnendurchfluteten Nachmittag mit dem triumphalen Einzug Jesu in Jerusalem begann, spitzt sich in der Nacht dramatisch zu. Die Spannung steigt in der Stunde des Todesurteils. Man spürt, dass hier und jetzt auch der entscheidende, seit Jahrhunderten stets wiederkehrende Kampf zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkel dargestellt wird. Konkret zeigt diese Szene das Duell zwischen dem grausamen Grinsen des Herodes und dem liebevollen Blick und stolzen Schweigen Jesu, der alles vorausahnt: die Tragödie mit gutem Ausgang.

Die Träger dieses pompösen Paso sind berühmt für ihr Können. Tatsächlich gleitet die tonnenschwere, goldglitzernde Bühne elegant und scheinbar schwerelos durch die Zuschauerreihen und wird kurz hinter uns abgesetzt. So muss der Blick statt auf dem Gesicht Jesu auf dem Thron des Herodes haften bleiben, bis alle Farben im Weihrauchnebel verschwinden.

Es folgen die Büßer mit schweren Kreuzen, dann hört man von der Kathedrale her den berühmtesten Trauermarsch der Semana Santa, eine ganze Symphonie von Gefühlen, komponiert von Font de Anta 1919 und gewidmet der "Jungfrau der Bitterkeit" (La Amargura), deren Paso gerade um die Ecke biegt. Im Hintergrund das Portal der Kathedrale, darüber das kalte Licht des Vollmonds, im Vordergrund unruhig flackernde Kerzenflammen schnell vorbeiziehender Nazarenos.

Ein paar Augenblicke später haben wir das Glück, dass sie genau vor uns zum Stehen gebracht wird. Die Virgen de la Amargura wurde wahrscheinlich im späten 17. Jahrhundert von Luisa Roldán, Spaniens bedeutendster Bildhauerin, geschaffen. Sie gehört zu den am meisten verehrten "Himmelsköniginnen" Sevillas.


Madonna der Bitterkeit
hat die größte Krone

Ihr majestätisches Gesicht wird eingerahmt von einem besonders prächtigen, mit filigraner Goldstickerei überzogenen granatroten Mantel und bekrönt von der größten Krone Sevillas, die aus reinem Gold geschmiedet wurde. Die Kerzen, die diese schöne Madonna beleuchten, sind zu bizarren Gebilden geschmolzen, manche sind abgeknickt, als ob nicht nur die Hitze, sondern auch die Wellen der Verehrung, die der Amargura auf ihrem langen Weg entgegen schlagen, Spuren hinterlassen hätten.

Diese Verehrung rettete der Amargura 1893 das "Leben". Damals geriet ihr alter Paso auf dem Rathausplatz plötzlich durch umgestürzte Kerzen in Brand und verwandelte sich binnen Sekunden in eine riesige Fackel. Aber mutige Hände rissen die kostbare Statue von diesem Scheiterhaufen. So können wir ihr melancholisches Gesicht noch heute bewundern und ihren Triumphzug durch die Nacht des Palmsonntags begleiten.

Die Invasion der schwarzen Schatten
1.00 Uhr nachts in der Gasse Chapineros nahe der Kirche El Salvador. Obwohl der Palmsonntag der fröhlichste und lichtvollste Tag der Karwoche ist, bleibt der Schlusspunkt in der Reihenfolge der Prozessionen zur Kathedrale einem finsteren und feierlichen Trauerzug vorbehalten. Was sich durch das Todesurteil des Herodes ankündigte, trifft jetzt ein. Schwarze Vorboten des Todes nähern sich als lautlose Schatten - unerbittlich. Die erste Bruderschaft, die ganz in Schwarz gekleidet ist: El Amor. Gegründet wurde sie 1508, aus Motiven der Nächstenliebe, wie ihr Name sagt: sie widmete sich ursprünglich der Betreuung eingekerkerter Gefangener und von der Gesellschaft Vergessener.

Ohne Musik und schweigend huschen die vermummten Gestalten vorbei. Alles ist schwarz bei dieser Trauerprozession - sogar die Kerzen. Doch endlich, nachdem Hunderte von Nazarenos vorbei defilierten, kündigen hohe Leuchter den glitzernden Paso des "Cristo del Amor" an. War La Amargura die prunkvollste Prozession des Tages, so ist dies hier der wichtigste Paso des Palmsonntags. Die "Bühne" aus Zedernholz ist die zweitälteste von Sevilla, 1694 von Francisco Antonio Gijón geschnitzt. Der Goldglanz dieses Paso blendet schon von weitem. Von hohen Kerzenleuchtern und vier niedlichen Englein flankiert, die Banner mit dem Motto der Bruderschaft (Amor) tragen, gleitet er wie ein Lichterschiff über der wogenden Menschenflut. Das Stimmengewirr verstummt, nur noch wenige Meter, dann schlägt der Capataz, Lenker des Paso, mit seinem Hämmerchen vorn auf den Paso das Kommando, die heilige Last abzusetzen. Genau vor unseren Augen, zum Greifen nah, senkt sich die goldene Bühne, nur eine Armlänge entfernt blickt uns eins der Amor-Englein an. Unheimliche Stille. Die hohe dichtbevölkerte Gasse wird zu einer Schlucht des Schweigens, man hört nur das keuchende Atmen der unsichtbaren Träger, die unter dem Paso verschnaufen.


Meisterwerk von Juan de
Mesa:Christus der Liebe
Unser Blick darf nicht haften bleiben auf dem Engelchen, er muss hinaufwandern - unausweichlich - um dem Tod ins Gesicht zu blicken.

Dort oben hängt ein Schatten, die Arme vor dem Nachthimmel ausgebreitet. Langsam erkennt man im Kerzenlicht die Konturen des "Christus der Liebe": ein Meisterwerk von Juan de Mesa (1620), des begabtesten Schülers von Martínez Montañés. Jede Sehne, jede Ader dieser toten Erlösergestalt scheint noch das letzte Aufbäumen des Körpers im Todeskampf zu verraten.

Jetzt ist sein Kopf regungslos auf die Brust gesunken, wir schauen das zerfurchte Antlitz des Todes. Dieser Anblick brennt sich ins Gedächtnis, ist eine stumme Anklage gegen Gewalt, man spürt fast körperlich Nägel und Dornen, die sich in diese Hände, in dieses Gesicht gebohrt haben. Es ist vollbracht.

Wie hypnotisiert bleibt der Blick unerträglich lang haften, bis ein paar Ewigkeiten später, nach dem dritten Hammerschlag des Capataz, der Paso sich in Zeitlupe hebt und davongleitet.

Eine kaum noch auszuhaltende Spannung und Ergriffenheit löst sich jetzt, ein Aufatmen geht durch die Zuschauer, als nicht mehr weit entfernt Posaunen den Paso der "Virgen del Socorro" ankündigen. Nach der entrückten Erhabenheit des Cristo del Amor sehnt sich das Volk wieder nach einer lebensnahen Darstellung. So wird zehn Minuten später die Lichterpyramide und das schöne Gesicht der "Jungfrau des immerwährenden Beistands" erleichtert begrüßt, erinnert sie doch das Publikum an den Gedanken "Alles wird gut". Sie symbolisiert Rückkehr von Licht und Leben nach dem Opfertod. Zu den dramatischen Klängen des wunderbaren Trauermarsches "La Madrugá" zieht die Mutter Jesu dahin, verlassen von den Aposteln folgt sie ihrem Sohn in nächtlicher Einsamkeit.

Pistolenschüsse auf die mutigste Madonna Sevillas
2.00 Uhr nachts. Nun wäre eigentlich alles zuende, aber die größte Prozession des Tages, an der 2000 Nazarenos teilnehmen und die schon vor El Amor durch die Kathedrale gezogen war, fehlt uns noch: La Estrella. Wir müssen einen kleinen Spurt einlegen, um sie noch einzuholen auf dem Weg zurück nach Triana, ihrem Viertel auf der anderen Seite des Flusses.

Schließlich sehen wir, wie die berühmte Stern-Madonna auf die Brücke getragen wird - hinter ihrem nachtblauen Mantel ein Strom von Menschen. Wir müssen uns durch die Menge drängen, um den Paso zu überholen und die Virgen de La Estrella von vorn zu sehen. Endlich, fast am Ende der Brücke, haben wir es geschafft, vorbei an wirbelnden Trommelschlägen, an den sechs Silberstäben, die den Baldachin tragen, haben wir uns den Weg gebahnt, bis wir direkt vor ihr stehen. Das Gesicht der Estrella sieht sehr leidend aus. Tränenüberströmt, mit niedergeschlagenem Blick und vor Schmerz gekrümmten Augenbrauen, den Mund wie zu einem Klagelied geöffnet, ist diese Madonna, eine der ältesten der Sevillaner Karwoche, ein Musterbeispiel für den barocken Hyperrealismus am Anfang des 17. Jahrhundert Vielleicht hat La Estrella das ausdrucksstärkste weibliche Gesicht der Semana Santa.

Auch deshalb wird sie dem Meister des Sevillaner Barocks, Juan Martínez Montañés, zugeschrieben. Wenn dies zutrifft, wäre es heute die einzige Dolorosa, die von seiner Hand bekannt ist. Allerdings gibt es keinen Beweis für seine Autorenschaft, die Herkunft der Estrella bleibt ein Rätsel.

Jedenfalls erfreut sich diese "Königin von Triana" größter Beliebtheit.. Keine Bruderschaft in Triana hat mehr Nazarenos als La Estrella. Und das Volk, das sie verehrt, gab ihr den Beinamen "Die Mutige" ("La Valiente") aus folgendem Grund: In dem schwärzesten Jahr für die Semana Santa, 1932, als so viele Kirchen in Sevilla in Brand gesteckt wurden, sagten alle Bruderschaften ihre Prozessionen aus Angst vor Attentaten ab - bis auf eine: La Estrella. Später wurde diese mutige Entscheidung von der Franco-Propaganda als Protest gegen die damals linke, republikanische Regierung gefeiert. Dabei war es eher im Gegenteil ein Ausscheren aus dem von rechtsgerichteten Verbänden geforderten Boykott der Semana Santa, welcher die republikanische Regierung bloßstellen und isolieren sollte. Denn La Estrella, gegründet 1560 von Töpfern und Matrosen, war keine konservativ-aristokratische, sondern stets eine Bruderschaft der "kleinen Leute" gewesen und politisch eher links gerichtet.

So zog die Madonna also am Palmsonntag 1932 als einzige durch Sevilla, und ihr Paso wurde zur Zielscheibe anarchistischer Zerstörungswut. Die Prozession war ein Spießrutenlauf durch fanatisierte Gruppen, die kurz vor einer Straßenschlacht standen. Unterwegs wurden Steine gegen den Baldachin geschleudert. Nachdem sie die Kathedrale verlassen hatte, wurden drei Pistolenschüsse auf die Jungfrau des Sterns abgefeuert, die sie nur knapp verfehlten. Unbeirrt entschieden die Verantwortlichen, die Prozession zu ihrer Kirche fortzuführen. Seitdem trägt La Estrella den Beinamen "La Valiente".

Einsam steht die mutige Madonna vor uns in der Nachtkälte, über den weißen Nelken und Kerzenlichtern, die Hände ausgebreitet, um den Schmerz der Welt aufzufangen und mit ihrer Sternenkrone Hoffnung zu verbreiten. "Stern der Meere" ("Estrella de los Mares") haben ihr die Matrosen auf ihre Krone geschrieben.

Als sie nun von der Brücke auf die Straße San Jacinto hinuntersteigt und sich ihrer Kapelle nähert, scheint die ganze Stadt diesem Stern zu folgen, verwandelt sich die Straße in einen Jubelstrom.


Die Jungfrau des Sterns:
Königin von Triana

Wir lassen uns mitreißen von der Menschenflut, werden abgedrängt, finden uns plötzlich hinter dem wallenden Mantel der Estrella wieder, rechts und links dröhnen Trommeln und Trompeten, eine Menschentraube hängt an ihrem Paso auf den letzten Metern: die Sevillaner werden zu Kindern, die gleichsam am Rockzipfel ihrer Himmelskönigin hängen. Bis der Paso um 3.00 Uhr von todmüden, aber übermütigen Trägern zum Tanzen gebracht und gedreht wird, so dass La Estrella ihren Anhängern noch einmal für Sekunden ihr leuchtendes Gesicht zeigt, bevor sie hinter den Pforten ihrer Kirche verschwindet. Bis zur "Auferstehung" im nächsten Jahr.

Text + Fotos: Berthold Volberg

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