caiman.de märz 2002

Die poetische Avantgarde Lateinamerikas: César Vallejo

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutet für die Poesie Lateinamerikas einen fundamentalen Einschnitt.
Neue Formen der lyrischen Metrik, die Innovation der poetischen Sprache und die Einführung auf sozialer Realität basierender Themen, läuten eine neue Epoche in der Ästhetik der Lateinamerikanischen Poesie ein. Die Avantgarde entsteht und lässt die klassische Poesie hinter sich, die größtenteils von der spanischen und europäischen Metrik beeinflusst war.

Namen wie Vicente Huidrobo, José Luis Borges, Pablo Neruda, Juan Gris vertreten die neue poetische und literarische Bewegung. Unter ihnen aber existiert einer, bereit zu linguistischen Verwegenheiten, der als die revolutionärste und bedeutendste Figur der Poesie Lateinamerikas gilt: der Peruaner Cesár Vallejo.

Vallejos Werk ist außergewöhnlich. Er bricht mit den klassischen Normen der alltäglichen Poesie in Bezug auf die Grammatik, Syntax und Kohärenz des poetischen Inhalts. Und so wird selbst für Muttersprachler die Erschließung der Botschaft, die der Autor uns zu übermitteln versucht, schwer.

Im März 1892 wird der „Cholo“ Vallejo, als Sohn einer Kinder reichen und armen Familie indianisch-spanischer Herkunft, im Anden-Hochland von Santiago de Chuco (Nord-Ost Perus) geboren. Er studiert an der Universität zu Trujillo bis er 1917 nach Lima übersiedelt. Ein Jahr später veröffentlicht er sein erstes Buch, Los Heraldos Negros (Die schwarzen Boten, 1918), ein typisches Werk des Post-Modernismus (Anfangsphase seines gesamten poetischen Werks). Hier erfährt man zum ersten mal seine emotionale Kraft unter einem traurigen und pessimistischen Zustand; ein typisches Merkmal seines gesamten literarischen Schaffens.

Die existentielle Dialektik zwischen dem Mensch und seiner Umgebung beschäftigt und quält Vallejo so sehr, so dass er schließlich gezwungen ist, einen Kompromiss finden:

Hay golpes en la vida, tan fuertes... Yo no sé!
golpes como del odio de Dios; como si ante ellos,
la resaca de todo lo sufrido
se empozara en el alma... Yo no sé!

Es gibt im Leben so schwere Schläge ... ich kann es nicht verstehen!
Schläge wie Gottes Zorn. Als ob vor ihnen alles,
das Treibgut jedes Leids,
in den Brunnen der Seele schwemmte ... Ich kann es nicht verstehen!

Aufgrund seiner Herkunft ein echter Mestize, schafft es Vallejo, wie wenige zuvor, die Seele der peruanische Denkweise zu vermitteln. Sie ist voller Sehnsucht, verbunden mit der typischen familiären Atmosphäre.

Qué estará haciendo esta hora mi andina y dulce Rita
de junco y capulí;
ahora que me asfixia Bizancio, y que dormita
la sangre, como flojo cognac, dentro de mí.

Was konnte in dieser Zeit, meine aus Bambus und Capulí
Andinische und süße Rita, tun.
Jetzt, wenn Byzanz mich erstickt, und das Blut schläft,
wie wäßriger Cognac, in mir.

Vallejo wird politisch verfolgt und wandert 1920 für drei Monaten ins Gefängnis. Diese Erfahrung prägt sein Leben und sein Werk. Die Veröffentlichung von Trilce (1922) führt zur einer Revolutionierung der poetischen Sprache Hispanoamerikas. Vallejo entwickelt in Trilce einen neuen und persönlichen Stil, der auf neuen syntaktischen und lexikalischen Konstruktionen, recht komplizierten Wortspielen und Themen über den menschlichen Zustand wie Leiden, Verzweiflung, Einsamkeit und Gottverlassenheit basiert.

Er selbst gibt diese poetische Widerspenstigkeit zu: “Das Buch ist in einer tiefen Leere geboren worden. Ich bin dafür verantwortlich, ich übernehme durch seine Ästhetik die ganze Verantwortung. (...) Ich will frei sein, dadurch lasse ich mich opfern. Um frei zu sein, fühle ich mich oft in schreckliche Lächerlichkeit eingehüllt, wie ein Kind, wenn ihm beim Essen der Löffel an die Nase stößt“.

Im Jahr 1923 emigriert Vallejo nach Paris, wo er bis zu seinem Tod 1938 residiert. Sein europäischer Aufenthalt ist von der Armut und der Unsicherheit eines illegalen, intellektuellen Südamerikaners geprägt. Um zu überleben, arbeitet er als Journalist, seine poetische Schöpfung stagniert. César Vallejo stirbt einsamkeit in einem Pariser Krankenhauses. Er, der schon prophezeite...

Qué estará haciendo esta hora mi andina y dulce Rita
de junco y capulí;
ahora que me asfixia Bizancio, y que dormita
la sangre, como flojo cognac, dentro de mí.

Ich werde in Paris sterben im Regen,
an einem Tag, den ich jetzt schon zu kennen scheine.
Ich werde in Paris sterben – und laufe nicht weg -
Vielleicht an einem Donnerstag, wie heute, im Herbst.

Nach seinem Tod erscheint sein gesamtes in Europa verfasstes Werk unter dem Titel Poemas Humanos (Menschliche Gedichte, 1939) und España, aparta de mí este cáliz (Spanien, nimm diesen Kelch von mir, 1939). Historische Ereignisse, wie die spanische Bürger Krieg und Vallejos Kampf für soziale Gerechtigkeit, sind überwiegend Themen dieser letzten schöpferischen Etappe.

Aufgrund seines frühen Todes und dem anspruchsvollen Inhalt seiner Werke bleibt der Peruaner lange Zeit unverstanden. Erst in den 50er Jahren entdeckt die literarische Welt das Talent Vallejos. Heute gilt er als eine der ursprünglichsten Stimmen Hispanoamerikas und Vorbild für zeitgenössische Dichter der spanischen Sprache.

Text: Juan Carlos Castro Diaz