caiman.de 10/2004

macht laune: Moctezumas Rache


Die Waage belügt mich. Dieses Monster. Dieses verlogene Miststück. Ich gerate in Wut. Das wird sie mir büßen. Ich werde sie auf ewig aus dem Bad verbannen. Im Keller soll sie schmoren. Schmoren bis sie bereut. Bis sie sich nicht einmal mehr erinnern kann, wie schön die Zeit war. Als sie allmorgendlich meine zarten, frisch der Dusche entstiegenen Füße spüren und deren sanfte Belastung mit einem zaghaften Ausschlag ihrer Nadel kontern durfte. Sie wird auf ewig schmoren unter dem ganzen anderen sinnlosen Plunder, den der Keller beherbergt. Jetzt gleich will ich sie ins Verlies stecken. Jetzt gleich. Wenn nur mein Magen nicht so voll wäre. Wenn ich doch bloß die Finger von den 500 Gramm Spaghetti gelassen hätte. Ich fühle mich träge, viel zu träge.

Dieses Spiel geht nun schon seit Tagen oder gar Wochen so. Doch diese Mal ist das Maximum der seelischen Belastbarkeit erreicht. Im Kiosk greife ich eine handvoll Lifestylemagazine und wähle die erst beste Diät. Gewissenhaft liste ich die Zutaten für die erste Woche, die mich um mindestens drei Kilo erleichtern soll, auf einen Zettel auf. Wild entschlossen und frohen Mutes betrete ich den Supermarkt. Kapituliere aber zwei Stunden später, weil sich nicht einmal die Hälfte der Artikel, von denen ich teilweise noch nicht einmal im Ansatz etwas gehört habe, in meinem Einkaufswagen befindet.

Zur Hölle mit Dr. Abspecks und Weight Wixers Gewicht reduzierenden Weisheiten. Mach ich es halt alleine. Schließlich reicht ein wenig Selbstdisziplin. Und so meditiere ich im Schneidersitz, die Handflächen vor der Brust aneinander gedrückt vor einem pervers gut duftenden Brathähnchen. Zunächst scheine ich die Fresslust im Griff zu haben, dann aber rinnt mir Sabber übers Kinn und von kalten Schweißausbrüchen begleitete Panikattacken führen meine Hände. Sie erwischen einen Schenkel. Vielleicht hätte ich die Kochsendung im Fernsehen zumindest während der Meditationsphase abschalten sollen.

Zwei Stunden später bin ich ein seelisches, sich unwohl fühlendes Wrack. Mit freiem Oberkörper stehe ich vor dem Spiegel und dicke Tränen nehmen die weiße Brust hinab rasend Speed auf, flutschen über den Schanzenbauch und landen am Spiegel, wo sie auseinander bersten.

Das ist der Moment, in dem du einen wirklich guten Freund brauchst. Meine Freunde oder besser meine Superhelden sind die mexikanischen Götter und Halbgötter des aztekischen Reiches. Unter dem Kopfkissen ziehe ich die Bilder von CUATLIQUE, der Muttergöttin und Spenderin allen Lebens, von HUITZILOPOCHTLI, dem blutdürstigen Kriegsgott, von MOCTEZUMA II., dem Untergangsherrscher, und von TLALOC, dem langnasigen Regengott hervor. Ich platziere ihre Bildkarten im Viereck, stelle ein auf den Kopf gedrehtes Glas in ihre Mitte, lege meinen Zeigefinger sanft auf dessen Rand und rufe ihre schlummernden Seelen.

Bei CUATLIQUE regt sich zunächst gar nichts. Auch die Signale von HUITZILOPOCHTLI und TLALOC lassen auf wenig Kommunikationsbereitschaft schließen. MOCTEZUMA aber reagiert prompt und so wandert das Glas eindeutig in die Richtung seiner Karte. Doch kurz bevor eine Leitung besteht, die das Übermitteln verständlicher Worte erlaubt, bündelt CUATLIQUE alle Energieströme und reißt das Glas an sich. Dann vernehme ich ihre Worte: „Begebe dich nach der Stadt Mitlán, in der das Volk der Azteken seinen Ursprung hat. Dort frage nach dem Hause QUETZALCOATLs. Man wird dir ohne Worte zu gebrauchen einen bitteren Drink aus der Kakaopflanze be...“ Hier bricht die Verbindung abrupt ab und das Glas scheint sich plötzlich in einem Feld absoluter Hochspannung zu befinden, denn es schießt fortan zwischen der Karte CUATLIQUEs und der MOCTEZUMAs, der sich nun ganz offensichtlich wieder zu Wort melden will, hin und her, bis es plötzlich über das Bild MOCTEZUMAs hinausschießt und an der Wand zerbricht. In das Klirren der Splitter hinein ertönt ein schauriges Lachen. Dann herrscht Stille und kein neues Glas vermag weitere Verbindungen zu meinen Superhelden aufzubauen.

Was solls? Die wichtigsten Informationen sind rüber gekommen. Wenn auch das Aufspüren des Sagen umwobene Mitláns, das auf keiner Karte verzeichnet ist, vielleicht nicht die einfachste Prüfung sein wird. Aber im Gegensatz zu unseren Gefilden sind in Lateinamerika die Sprache an sich und der Umgang der Menschen miteinander durch Leidenschaft, Liebe und Mystifizierung geprägt. Inhalte finden sich zwischen den Worten oder einfach nur in Gestik und Mimik. Und, sind wir doch mal ehrlich: Was kann mir schlimmsten Falls passieren. Ich werde Mitlán nicht finden und verbringe stattdessen einige Wochen zwischen Pyramiden und Karibik, und erliege wohl leider doch den köstlichen aber gewichtigen Tacos.

48 Stunden später landet mein Flieger in Mexiko-Stadt. Ich nehme ein Taxi zu einem alten Bekannten und bitte ihn mir einen Kontakt zu einem Orakel herzustellen. Am nächsten Morgen besucht uns Nezahualpili, der Weise. „Mein Junge“ eröffnet er seine Ausführungen. „Mitlán ist überall und nirgendwo. Suche in der Stadt. Speise an den einfachsten Comedores. Dort wirst du vereinzelt auf Nachkommen QUETZALCOATLs stoßen, die allesamt das Kochhandwerk erlernt haben.“

Allein die Vorstellung, ich müsste von QUETZALCOATLs Speisen kosten, dreht mir den Magen um. Der Sage nach war QUETZALCOATL abgrundtief hässlich. So hässlich, dass der Halbgott, wenn er sich unter Menschen begab, immer eine Maske aus grünem Jadestein trug. Niemand hat jemals sein Gesicht zu Gesicht bekommen. Bis auf einmal. Eines Tages vor vielen hundert Jahren gab sich QUETZALCOATL in nie gekannter Art und Weise dem Alkoholkonsum hin. Er fiel aus der Kneipe direkt in die Gosse. Irgendwer entwendete ihm dann des Nachts seine Maske. Als er am nächsten Morgen ohne zu merken, dass ihm die Maske abhanden gekommen war, durch das Dorf marschierte, wurde er aufgrund seiner abgrundtiefen Hässlichkeit zum Gespött der Leute. Mit dieser Schmach aber wollte er nicht mehr in gewohnter Umgebung leben. Frustriert und zornig entfernte er sich von den Menschen seiner Umgebung, drohte aber zugleich, dass er eines Tages zurückkehren würde. Laut der aztekischen Zeitrechnung markierte das Jahr 1519 einen möglichen Zeitpunkt für die angekündigte Rückkehr. Doch nicht QUETZALCOATL sondern die Spanier kamen in diesem Jahr und vernichteten das aztekische Volk.

Jedenfalls stelle ich mir an diesem herrlichen mexikanischen Morgen die Nachkommen QUETZALCOATLs ebenfalls äußerst unansehnlich vor. Und hoffe inständig, dass sie beim Kochen ihres berühmten Vorbilds gedenken und eine Maske tragen mögen. Die düsteren Gedanken verfliegen schnell angesichts der nach den bezaubernsten Knospen duftenden Vielfalt mexikanischer Speisen, die es am Straßenrand zu erwerben gibt.

Als erstes treffe ich auf einen Stand, der den Namen TLAZOLTEOTL, Gott der Lüsternheit und Freizügigkeit, trägt. Hier gibt es nur ein Gericht, dass eine äußerst aphrodisierende Wirkung haben soll: qicklebendig durcheinander springende, schwarze Muscheln. Der nächste Stand heißt EHECATL. Der Gott der sich im Wind verflüchtigenden Liebesseufzer, der Verführer von sterblichen Frauen, die wie einst sein erstes Opfer Mayahuel nach dem Akt der Liebe in den sauren Apfel beißen müssen. EHECATL offeriert Enchiladas, Teigtaschen mit Käse und Jalapeños gefüllt.

Zwei Straßen weiter fällt mein vom Herzen beflügelter Blick auf XOCHIQUETZAL, die Göttin der Schönheit und Liebe. Und nur ihr Cocktail de Camarrones mit Avocado verfeinert, vermag den Blick von ihrer Herrlichkeit zu lösen, um die Schönheit der Meeresspeise zu umgarnen.

Durchaus froh bin ich, dass mir nach all der Wonne fürs Auge nicht QUETZALCOATL begegnet, sondern der nächste Straßenstand von COYOLXAUHQUI. Sie ist die hübsche Tochter CUATLIQUEs und seit ihrer Enthauptung durch ihren Bruder HUITZILOPOCHTLI leuchtet ihr Anlitz, das von der Mutter aus Liebe in den Himmel gesetzt wurde, als Göttin des Mondes auf die Menschen herab, damit sie nie in Vergessenheit gerate. Ihr Name bedeutet goldene Glocken. Und wahrhaft, ihre Hausmannskost, schwarze Bohnen mit Reis und Platanoscheiben wird mich wie die süße Melodie ihres Namens auf Ewig begleiten.

Gleich gegenüber prangert ein Hand gemaltes Schild, das den Gott des Sports, der ärztlichen Betreuung der Spieler sowie deren ausgewogene Ernährung ausweist: IXTLILTON. Sein Faible gilt vor allem den Kids und so wundert es mich nicht, dass die Speisekarte der Auswahl eines gewöhnlichen Fastfoodetablissements entspricht. Hier passe ich bereits nach dem ersten Tacoburger und das aus göttlicher Fügung, wie sich herausstellt. Denn im nächsten Comedor kocht XOCHIPILLI, die Gottheit der Festgelage, höchst persönlich. Nach der Fischplatte: Handgroße Langostinos, Muscheln aller Art, Krebse, Langustenschwänze, Zander, Zackenbarschfilet und Austern, zieht es mich auf einen Tequila zu MACUILXOCHITL, dem Gott der Musik und des Tanzes. Doch wie kann es anders sein? HUIXTOCIHUATL, Schutzpatron der zügellosen Frauen und des salzigen Wassers, treibt im Hinterhof sein Unwesen und ich koste von seinem anrüchigen Ceviche, Stücke von rohem Fisch- und Muschelfleisch in Limonensaft mariniert. Und da ich mich nun schon einmal in die Welt der Hinterhöfe vorgewagt habe, die es laut Reiseführer tunlichst zu meiden gilt, statte ich ITZPAPALOTL, dem Schmetterling aus Obsidianstein, der Göttin der bösen Hexen und Hexenmeister, einen Besuch ab, was sich mehr als lohnt, da ihre Sopa de lima, die konzentrierte Fleischbrühe aus zartestem Rinderfilet gekocht und mit Limonensaft abgeschmeckt, das Köstlichste ist, das ich an diesem paradiesischen, Diät motivierten Tag meinem Gaumen zuführen darf.

Danach bin ich eigentlich für heute schon im Begriff, die Fühler einzuziehen und Flügel zu streichen, doch da leuchtet zwischen Spelunken und zwielichtigen Lokalitäten die Leuchtreklame der Unterwelt auf, MICTLAN, und verspricht einen bitteren Schokodrink nach altaztekischem Rezept. Ich wähne mich am Ziel. Und wie von CUATLIQUE prophezeit, wird mir der Drink ohne Worte gereicht. Zudem schmeckt das schaumige Gebräu aus der Kakaobohne mit Maismehl aufgekocht und Chili abgeschmeckt eher gewöhnungsbedürftig. Mehr kulinarische Fähigkeit habe ich dem hässlichen QUETZALCOATL sowieso nicht zugetraut.

Kaum, dass das Glas geleert ist, beginnt es in meinen Venen zu brodeln und mein Magen explodiert innerlich. Bevor ich fluchtartig das Lokal verlasse, werfe ich einen Blick in die Küche, um meine Vermutung endgültig zu bestätigen. Doch es ist nicht Jademaske QUETZALCOATL sondern MOCTEZUMA II., der da steht, grinst und mich die nächsten drei Wochen seine Rache spüren lässt: „Du wirst die Toilette deine Heimat nennen!“ Und wieder ertönt dieses schaurige Lachen.

Immerhin kann ich eine gewisse positive Wirkung der Rache MOCTEZUMAs nicht absprechen: Meine Waage und ich sind wieder die besten Freunde und da ich auch die nächsten Monate dazu verdammt bin, ernährungstechnisch auf Magen schonenden Zwieback und Tee zurückzugreifen, blicken wir gemeinsam in eine goldene Zukunft.

Text: Dirk Klaiber