suche



 


[kol_3] Brasilien: Land der Dicken

"Die Brasilianer werden immer dicker!" Mitten auf den reichgedeckten Frühstückstisch purzelt einem diese unglaubliche Schlagzeile entgegen. Eine neue Studie des IBGE (Brasilianisches Institut für Geografie und Statistik) hat ergeben, dass über 40% der Brasilianer zu dick sind, hingegen nur etwa 4% an Unterernährung leiden. Mir fällt der alte Spruch ein, dass Brasilien das Land ist, in dem 90% der Bevölkerung hungert und die restliche 10% Diät machen. Meist folgte auf den Ausspruch eine Runde peinlich-betroffenes Schweigen, dann ein schüchternes Lächeln und schließlich ein fatalistisch gehauchtes "ja ja, traurig traurig...". Soll das etwa alles falsch gewesen sein?

Als ich neulich erst über eine Stunde vor dem Postschalter wartete, um endlich ein paar Briefe aufgeben zu können, was dann übrigens noch einmal 30 Minuten dauerte, erklärte mir eine Freundin, dass besagte Langsamkeit bei der Ausführung motorischer Routinehandlungen höchstwahrscheinlich an der nicht ausreichenden Ernährung des Postpersonals läge.

Leicht zweifelnd betrachtete ich den Kugelbauch des Postbediensteten, wobei mir die Äußerung eines Bekannten einfiel, der mir erklärte, dass die tägliche Portion Reis die Bäuche zwar aufblähe, die Träger derselben jedoch meist unter Mangelerscheinungen leiden. Und jetzt das!

Laut IBGE sind 4% der Brasilianer unterernährt, was einer vollkommen normalen Quote entsprechen würde.

Dagegen seien 41,1% der Männer und 40% der Frauen übergewichtig, als fettsüchtig seien 8,9% der Männer und sogar 13,1% der Frauen zu bezeichnen. Zudem enthalte die tägliche Nahrung immer mehr Zucker und zunehmend weniger Früchte und Gemüse. Und in Brasiliens Süden, dessen Bevölkerung zu einem großen Teil deutsch- und italienischstämmig ist, verbraucht man fünfmal soviel Weizenmehl wie im Südosten. Das Ergebnis: unter der ländlichen Bevölkerung des Südens ist jeder zweite bereits übergewichtig.

Wie geht man mit diesen überraschenden Zahlen um? Hatte Präsident Lula bei seinem Amtsantritt nicht von 45 Millionen hungernder Brasilianer gesprochen, denen er mit seinem Programm "Fome Zero – Null Hunger" unter die ausgemergelten Arme greifen wollte? Und so dringen am Abend erste besorgte Stimmen aus den Abendnachrichten an das nach Süßem lechzende Großhirn: Was passiert denn jetzt mit den Sozialprogrammen der Regierung? Sollten sie gestoppt werden?

Lulas wütende Reaktion lässt nicht lange auf sich warten. Hunger könne man nicht in Statistiken messen, so Lula. "Die Leute schämen sich, zuzugeben, dass sie Hunger leiden." Und sein persönlicher Berater in Sozialfragen und Kampfgenosse seit den wilden 70er Jahren, Frei Beto, macht die Vorweihnachtsstimmung für das Ergebnis der Untersuchung verantwortlich: "Ich habe noch nie eine Jesusfigur gesehen, die dick ist... Aber alle Figuren des Weihnachtsmannes sind dick. Und so kommt man plötzlich zu der Erkenntnis, dass es in Brasilien keinen Hunger gibt, sondern dass alle zu dick sind." Woher jetzt Herr Lula und Herr Beto ihre überzeugenden Kenntnisse zu diesem Themenkomplex haben, bleibt fraglich, da sie ja schließlich keiner Statistik entnommen sein dürften.

Es bleibt zudem die Frage, wem man denn nun trauen soll, der Statistik oder dem untrüglichen Gespür der Politiker? Und sollte man eigentlich nicht froh sein, dass Lulas Sozialprogramme bisher nicht richtig funktioniert haben, und all den Staatsdienern, die die Essensgutscheine statt an die Bedürftigen zu verteilen selber gegen Bares eingelöst haben, letztlich dankbar dafür sein, dass sie nicht zur Verdickung der Bevölkerung beigetragen haben?


Mir kommt der verzweifelte Ausruf von Präsident Lula in den Sinn, der einst feierlich und unter Tränen versprach, erst dann wieder ruhig schlafen zu können, wenn alle Brasilianer drei Mahlzeiten am Tag zu sich nehmen würden. Na, der wird jetzt erst einmal richtig ausschlafen und sich sein Frühstück an die Hängematte bringen lassen. Währenddessen raunen sich übergewichtige Hausfrauen inmitten kalorienfreier Regalreihen des Supermarktes folgende Geschichte zu: "Da hat doch letztens ein Typ an meiner Haustür geklingelt und gemeint, dass er seit drei Tagen schon nix mehr zum Essen gehabt habe. Ich habe ihn gleich mal gefragt, wie er das nur schafft. Der Glückliche!"

Text + Fotos: Thomas Milz

© caiman.de: [impressum] / [datenschutz] / [disclaimer] // [druckversion gesamte ausgabe] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]