caiman.de 02/2003

Grenzfall: Brasilianische Geschmacksverirrung

Der Mann schläft auf einer Parkbank im Zentrum von São Paulo. Um seinen Hals hängt ein Schild: "Bitte wecken Sie mich um 14.00 Uhr". Ein Passant bleibt verdutzt stehen, schaut unentschlossen abwechselnd auf das Schild, seine Armbanduhr, und auf das entspannte Gesicht des friedlich Schlafenden. Schließlich geht er auf diesen zu und rüttelt ihn leicht am Arm. Keine Reaktion. Er versucht es noch einmal, doch wieder kein Anzeichen eines Erwachens. Also gibt er dem Daliegenden einen Klaps auf die Schulter und sagt halblaut: "Hey, tio". Der gerade noch Schlafende gibt einen markerschütternden Schrei von sich und springt auf. Der Passant weicht erschrocken zurück. "Was soll das, warum wecken Sie mich?", brüllt der Mann. "Ich bin hier vorbeigekommen, und Sie haben doch dieses Schild da: Wecken um 14.00 Uhr. Ich wollte Ihnen nur einen Gefallen tun", rechtfertigt sich der Angeschriene. "Und wie spät ist es jetzt?", fragt ihn der Aufgeweckte. "Viertel nach zwei." "Ja warum haben Sie mich nicht um zwei geweckt, ich habe das doch extra auf das Schild geschrieben." "Aber um zwei bin ich ja gar nicht hier vorbeigekommen", versucht sich der Passant zu verteidigen. Aber umsonst: "Wenn Sie schon nicht pünktlich sind, dann lassen sie mich gefälligst in Ruhe weiterschlafen!"

Der Passant versteht die Welt nicht mehr, aber Millionen von Fernsehzuschauern lachen sich vor ihren heimischen Apparaten über diese "Pegadinha", die Verarschung vor laufender und versteckter Kamera, schlapp. Und der Moderator João Kleber ruft dem Passanten noch ein "was für eine Trantüte!" aus dem Off hinterher. Er ist wohl derjenige, der sich bei seinen diversen Fernsehshows an meisten amüsiert. Wenn er nicht gerade seine Verarschungsshow präsentiert, testet er im Auftrag eifersüchtiger Ehefrauen die Treue ihrer Männer. Wird der brave Ehegatte wohl den heftigen Anmachversuchen des knappbekleideten Supermodels widerstehen können, welches den Ahnungslosen im Auftrag von João Kleber und vor versteckter Kamera zu einer Spritztour auf ihrer Privatyacht einlädt? Doch die Einlage mit dem Schlafenden auf der Parkbank und sogenannte Treuetests gehören zu den eher harmlosen "Pegadinhas". Viele andere überschreiten dagegen die Grenzen des guten Geschmacks und begeben sich dabei in Regionen, die man durchaus kriminell nennen könnte.

So wird eine junge Frau bei der Anprobe von Unterwäsche in der Umkleide einer Boutique gefilmt. Wenn sie gerade ein halbnacktes Stadium erreicht hat, lässt man eine ziemlich große Schlange von der Decke auf sie herunterfallen.

Auch nicht schlecht ist der Mann, der einen vorbeieilenden Passanten spontan umarmt und ruft: "Ich habe eine Million im Lotto gewonnen, lass uns zusammen feiern!" Daraufhin zündet er eine enorme Silvesterrakete an, hält sie dem verdutzten Passanten vors Gesicht und ruft: "lauf, sie explodiert gleich!". Zum Entsetzen des Passanten verfolgt der Wahnsinnige ihn dann mit dem Böller in der Hand, wild schreiend: "sie geht los, sie geht los!". Und die Fernsehzuschauer rollen sich ab vor Lachen ob der zu Tode erschreckten Oma und des alten Mannes mit dem Hund auf dem Arm, der stolpert und aufs Pflaster schlägt. In solchen Fällen beeilt man sich dann, den Verunglückten zu beruhigen: "es ist alles nur ein Scherz, Sie sind im Fernsehen". Und mit seiner aufgeschlagenen Hand winkt Opi in die Kamera und gibt ein schüchternes "Ich mag diese Sendung" von sich.

Pegadinhas finden sich mittlerweile auf allen Fernsehkanälen. Die großen Sonntagsnachmittagsshows lieben es, Prominente auf die Schippe zu nehmen. Da wird eine Musikgruppe aus Bahia zu einem angeblichen Werbefilm-Shooting bestellt, welches sich für die leichtbekleidete Tänzerin der Gruppe in einen Horrortrip verwandelt. Der Regisseur kritisiert jeden Hüftschwung und legt ihr dringend eine Diät und Tanzstunden nahe. Der Kommentar "Ich glaube, Du bist einfach schon zu alt für dieses Business", lässt das Fass schließlich überlaufen. Die Bikiniträgerin rastet vollkommen aus, bekommt abwechselnd Wein- und Wutanfälle und geht dann auf den Regisseur los, ihre Muskel bepackten Musikerkollegen gucken dabei dem ganzen einfach nur dumm aus ihren geschmacklosen Glitzerkostümen heraus zu. Während die wilde Furie von fünf Mitgliedern des Produktionsteams festgehalten wird, überbringt man ihr die wundervolle Nachricht, dass sie das Glück hat, ein Überraschungstelegramm des "Domingão do Gugu", der Großen Sonntagsshow von Moderator Gugu Liberato, bekommen zu haben. Sie wischt sich ihre Tränen aus dem Gesicht und winkt in die Kamera.

Meist enden die "Pegadinhas" damit, dass sich die eingeweihten Schauspieler mit dem hinters Licht geführten Opfer prügeln. Der junge Mann, der die auf dem Gehweg liegende 50 Real-Note aufgehoben hat, wird von zwei wild schreienden Männern attackiert, die versuchen, ihm die Note wieder abzunehmen. Man prügelt sich, und einer der zwei angreifenden Schauspieler entreißt dem jungen Mann schließlich dessen Rucksack und läuft weg.

Etwa genauso lustig ist das unsichtbare Volleyballspiel, dass drei Männer mitten auf dem Gehweg ohne Ball spielen. Versucht ein Passant, an den Männern vorbeizugehen, schreien sie ihn an: "Sehen Sie denn nicht, dass wir Volleyball spielen?". Argumentiert der Passant dann, dass man ohne Ball wohl kaum Volleyball spielen könne, wird ihm von hinten ein Ball an den Kopf geworfen. Ähnlich gut muss sich die Frau fühlen, die sich von einem Straßenhändler eine neuartige Feuchtigkeitscreme zur Probe auf Arme und Gesicht hat schmieren lassen. Plötzlich erscheint eine von heftigem Hautausschlag entstellte Blondine und greift den Straßenhändler an. "Lassen Sie sich nichts von diesem Verbrecher ins Gesicht schmieren," ruft sie, "schauen Sie, was seine Creme mit meiner Haut gemacht hat!"

Mittlerweile werden die ersten Stimmen laut, die gegen diese Geschmacklosigkeiten vorgehen. So fühlen sich besonders Homosexuelle von "Pegadinhas" wie folgender mehr als beleidigt: ein älterer Mann simuliert auf offener Straße einen Herzanfall und wirft sich um Hilfe ringend in die Arme eines vorbeigehenden jungen Mannes. Nachdem er diesen ausgiebig begrabscht hat, offenbart er ihm lächelnd: "War wohl nur ein lauwarmer Anfall" und tätschelt ihm Augen zwinkernd die Wange. "Ich bin eine Tunte, und habe gedacht, dass Du auch eine bist!" Die "Associação da Parada do Orgulho de Gays, Lésbicas, Bissexuais e Transgêneros de São Paulo" organisierte eine Protestveranstaltung für mehr "Ethik im Fernsehen" vor dem Gebäude der REDETV in São Paulo, dem Haussender von João Kleber. "Er traut sich nicht, Scherze mit Kinderarbeit oder mit Schwarzen zu machen, weil er weiß, dass es Proteste von allen Seiten hageln würde. Aber mit Homosexuellen glaubt er so umgehen zu können", sagt Renato Baldin von der "Associação". "Dabei geht es ja nicht nur um uns Homosexuelle, sondern allgemein um eine neue Ethik im Fernsehen. Die Fälle, in denen Gewalt als Zeitvertreib, als Spaß oder Verarschung angesehen wird, nehmen ständig zu. Jugendliche treten einen auf der Straße schlafenden Bettler, um ihn "zu erschrecken". Nur dass der Bettler später an den Folgen der Tritte stirbt. Oder der Fall der betrunkenen Jugendlichen in Brasília, die einen an einer Bushaltestelle schlafenden Índio mit Alkohol übergießen und dann anzünden. Sie haben gedacht, dass er ein Bettler sei, gaben sie später zu ihrer Verteidigung an. Solche "Pegadinhas" im Fernsehen bereiten den Boden für derartige Taten", fügt Renato hinzu.

Harmlos wirkt dagegen der Straßenhändler, der "4 Mangas für einen Real" anpreist. Doch "Manga" ist nicht nur die als Mango bekannte Frucht, sondern heißt im Portugiesischen auch "Ärmel". Und so bekommt die verdutzte Hausfrau statt des köstlichen Obstes vier abgeschnittene rosafarbene Hemdenärmel in die Hand gedrückt. "Was kann ich dafür, dass Sie dachten, es seien Mangos. Wenn Ihnen die Farbe nicht gefällt, können Sie sie gerne gegen hellblaue tauschen", gibt der Händler zu verstehen. "Aber Ihr Geld gebe ich Ihnen nicht zurück!" Richtig Prügel bezog dagegen der Straßenhändler, der fünf Müllsäcke für 50 Centavos verkaufte und dem Käufer dann fünf mit Abfall gefüllte Säcke in die Hand drückte. "Willst Du mich verarschen, Onkelchen", bekam er zu hören, bevor der wütende Kunde zuerst den Verkaufsstand zertrümmerte und dann mit dem hölzernen Tischbein auf den Verkäufer losging. Und auch der Autowäscher, der die Autos seiner Kunden mit Tiermist übergoss, musste während der Dreharbeiten zu dieser "Pegadinha" ordentlich einstecken. Denn niemand lässt sich wirklich gerne verarschen.

Text: Tom Milz