logo caiman
caiman.de archiv
 

Kolumbien: Weihnachtsalbtraum - die ganze Geschichte

Zur Freude unserer Leser haben wir uns entschlossen, die Advent Fortsetzungsgeschichte in dieser Ausgabe komplett zu veröffentlichen. Für diejenigen, denen die Geschichte insgesamt etwas verwirrend vorkommt, sei hier nochmals kurz die Entstehung erläutert:

drei Sätze eines caiman-Autors im Rahmen
einer Advent-Fortsetzungsgeschichte
jeder Autor kannte nur die drei Sätze des vor ihm Schreibenden
jeder Absatz präsentiert einen Autor

Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und überlegte, was um Himmels Willen nun zu tun sei. Die Entscheidung würde ihm sehr schwer fallen, das zumindest wusste er. Der kolumbianische Bademeister grinste ihn unverhohlen an und amüsierte sich ganz offensichtlich auf seine Kosten.

Nie war ihm Peinlicheres widerfahren. So sehr er auch grübelte und seine Wasser getränkten Gehirnzellen zu artistischen Höhenflügen antrieb, es gab keinen Ausweg. Nichts würde ihm die Schmach ersparen; die Schmach, in seiner ganzen Männlichkeit den Strand ablaufen zu müssen, vorbei an Touristen, fliegenden Händlern und der müden Polizeicrew, die das Treiben der Badenden mit halb geschlossenen Augen aus Liegestühlen heraus verfolgte.

Gut, dann reiss dich zusammen, du Horst, sagte er sich, nimm die Schultern zurück, zieh den Bauch ein und setz eine unbeteiligte Miene auf, den Strick kannst du noch nehmen, wenns schief läuft. Er entstieg den Fluten, lief langsam auf den Strand zu und das Wunder geschah: keine Sau beachtete ihn, denn noch schlimmer als eine erlittene Schmach wäre es, sich von ihr erniedrigen zu lassen. Die Strandbohemians markierten die Coolen und sahen das augenscheinlich genau so, kein Gelächter, keine Spötteleien, nicht mal eine hoch gezogene Augenbraue und schon schöpfte unser Held Mut, mit unzerfledderter Würde zu entkommen, da löste sich aus der Strandvolleyballmannschaft eine Gestalt, die er nur zu gut kannte und kam auf ihn zu.

"Hallo Horst!", brüllte der muskelbepackte, goldbraun glänzende Adonis schon von weitem – und nun schenkten ihm leider doch alle Beachboys Beachtung – "Du hast Dich ja nicht gerade zu Deinem Vorteil verändert!", fügte der König des sandigen Volleyballs nicht viel leiser hinzu. Die Vergangenheit hatte Horst eingeholt: vor 10 Jahren hatte er eine leidenschaftliche, aber kurze und vor allen Bekannten äußerst geheime Affäre mit diesem Ricardo gehabt, der jetzt – kaum verändert – selbstsicher grinsend vor ihm stand. Horst blickte an sich herab. Ja, sein Bauchumfang hatte sich im Gegensatz zu Ricardos in den letzten 10 Jahren locker verdoppelt.

Ah, die Vergangenheit, ob Mann oder Frau, Horst, Ricardo ... sie werden alle nur als Bilder in dieser Geschichte existieren. Vorteil ist dann gleich Nachteil, Affären sind vergessen, die neuen Generationen werden nicht mehr Volleyball spielen, sondern nur davon Träumen, dass Bälle einmal rund waren. Heute gibt es mehr als Sand und Königreiche, es gibt Caimane (Alligatoren und Krokodile) und das Leben und es gibt überall Tiere, die vergessen haben, dass auch sie zur Ewigkeit gehören... was man nicht versteht, ist genau das, was man nicht mit eigenen Augen sehen will... Ricardo liebte Horst, besonderes seinen Bauch, so ein weiser Mann, der seine Energie nicht verschwendete!

Unser Leben ist das Bild, das wir von ihm in unseren Köpfen entwickeln, und wenn die Bilder unseres wachen Auges denen unserer Träume zu entsprechen scheinen, lächeln wir beglückt und spüren eine Wärme, als ob wir uns an unsere Mutter erinnern, als wir bei ihr im Bauch darauf warteten, in die wache Welt zu entschlüpfen und alles gut war, keine Worte das Selbstverständliche einklagen mussten, als wir noch nicht eine Sprache benötigten, um zu schreien nach dem, was uns fehlt... Wir suchen das Vertraute, was in uns schlummert und dem wir unweigerlich zustreben, die so sehr benötigte Übereinstimmung, vollkommene Kongruenz unserer inneren und äußeren Welt. Und so verbringen wir unsere Tage damit, Mut zu sammeln, uns darauf einzulassen, wir selber zu sein.

Somit scheinen wir zu lange Zeit in dem Dämmerzustand verbracht zu haben, der uns vorgaukelt, das Sein bestimme das Bewußtsein. Es ist genau umgekehrt: Das Bewußtsein bestimmt das Sein – und wenn dem so ist, dann verschwimmt die Trennlinie zwischen Realität und Phantasie. Die Wirklichkeit besteht demnach aus einer Fülle von Geschichten, deren Autor wir selber sind.

Atemlos folgte ich den Ausführungen des Häuptlings. Plötzlich erschien mir alles klar. Die Puzzleteile fügten sich endlich zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Ich war gar nicht am Strand und mit Ricardo hatte ich nie ein Verhältnis gehabt. Die Wirkung der Drogen ließ nach. Aufgeregt sprang ich auf, bedankte mich höflich und rannte den Hügel hinab, während langsam die Sonne hinter dem Horizont versank. Mir blieb nicht mehr viel Zeit.

Als ich den Waldrand im Talgrund erreichte, war die Dämmerung schon angebrochen. Vom Pfad, den ich benutzen musste, um zurück zu meinem Boot zu kommen, war kaum mehr was zu sehen. Fluchend stolperte ich über die herausragenden Baumwurzeln, die den Weg kreuzten, und versuchte trotz dieser und anderer Hindernisse, mein hohes Lauftempo beizubehalten. Aber plötzlich war es passiert – ich trat mit dem Fuß in ein Loch, verlor das Gleichgewicht und donnerte schwungvoll mit dem Kopf gegen einen Baum. Dann verlor ich das Bewusstsein.

Helligkeit umgab mich als ich erwachte, aus der Entfernung hörte ich Vögel zwitschern. Ich musste wohl die ganze Nacht halb bewusstlos halb im Schlaf verbracht haben. Seltsamerweise war mir nicht kalt. Ich stand auf, zum Glück kein Kopfschmerz, der Fuß hatte auch keine bleibenden Schäden genommen und wollte meinen Weg wieder aufnehmen. Nach den ersten Schritten wurde mir bewusst, dass sich irgendetwas verändert hatte. Ein mildes Licht schien durch die Blätter, der Boden, den ich so uneben in Erinnerung hatte, fühlte sich weich und warm an. Der Pfad führte nicht mehr bergab, wie ich ihn in Erinnerung hatte, sondern schlängelte sich in den hellgrünen Wald hinein. Sollte der Sturz meinem Kopf mehr zugesetzt haben als ich gedacht hatte?

Ich versuchte, mich zu erinnern, wo ich war, wer ich war, doch ich sah nur das endlose Grün, das sich vor meinen Augen in der aufgehenden Sonne spiegelte. So stand ich da, fern von all dem, was mir bekannt war oder bekannt zu sein schien. Plötzlich hörte ich ein Rascheln. Ich wagte nicht mal mehr zu atmen. Ein Schatten. Schritte, die sich mir näherten. Ich war mir ganz sicher.


Dann wieder diese seltsame Ruhe, nur der Wind und das Geheule wilder Tiere. Ich war allein, verlassen und hilflos und diese Laute zerschmetterten jeden wahren Gedanken. Ich begann zu rennen, hinein in das Grün, und die Schritte wurden lauter und lauter und näherten sich immer schneller. Ich war nicht mehr allein...

Das kleine Mäuerchen, über das ich stolperte, musste ich wohl übersehen haben. Ich landete mit dem Gesicht nach unten im Schlamm, mein Fuß schmerzte und ein Krampf begann meine Beine zu lähmen. Meine Flucht war vorbei. Zur Bewegungslosigkeit verdammt, wartete ich auf das Unvermeidbare. Als er mit vollem Gewicht auf mir landete, war ich beinahe überrascht: er war leichter, als ich vermutet hatte. Den ersten Angriff hatte ich also überlebt, was aber würde nun kommen? Mein Verfolger setzte sich auf, und ich spürte das kalte Metall von Handschellen an meinen Händen und Füßen. "Wer bist du?", fragte ich ihn und meine Stimme kam mir seltsam weich vor. "Deine eigene Angst", erwiderte er rätselhaft.

Wie fremd es klang, das Wort Angst. Angst hatte ich seit Jahren nicht mehr gespürt. Sie war abgestorben angesichts des Horrors, der wilden, brillantharten Grausamkeit, die ich gesehen hatte. Damals wollte ich mir vor Schmerz die Zähne ausreißen, mich betäuben und schreien. Anschreien gegen die Bilder von abgehackten Armen, toten Körpern überall, gegen den Geruch von Seuche und langsamem Tod, den ich nicht mehr loswurde, anschreien gegen den Wahn und den Horror!

Den Horror! Endlich erwachte ich aus diesem komischen Traum: mit Ricardo, dicken Bäuchen, Bademeistern und Horror-Bildern. Wieso hatte ich so einen seltsamen langen Albtraum gehabt. Wahrscheinlich lag es am leckeren Entenbraten des Vortages und an diesem vorweihnachtlichen Stress. Ich räkelte mich im Bett, stand dann auf, um mir einen Tee und eine duftende Badewanne einzulassen, schlüpfte in meine Lieblingspantoffeln, drehte die Musik auf und setzte mich mit der Zeitung in meinen Sessel. Der Tag konnte beginnen, alle schlechten Träume gehörten der Vergangenheit an und vor mir lag ein schönes drittes Adventswochenende.

Bis es klingelte. Ich erhob mich unwillig aus meinem Lieblingssitzgerät und ging langsam, immer noch die Zeitung in Händen, zur Haustür, öffnete und machte einen Satz rückwärts, genau gegen die Badezimmertür und direkt in die Badewanne. Vor mir stand Ricardo und neben ihm eine brasilianische Schönheitskönigin.

Es ratterte in meinem Gehirn: War Ricardo der wahrhafte Nikolaus und die brasilianische – ich habe 100 Schönheitsoperationen hinter mir – Königin Knecht Ruprecht? Nein, heute war der 15., am 6. hatte ich bereits meine Stiefel bis zum Anschlag mit Chilischoten gefüllt vorgefunden. Für ein verfrühtes Himmelfahrtskommando bestehend aus Niki und Christkind taugte das Gespann nicht. Versunken in wirre Gedankenspiele sauste Ricardos Faust nieder und zertrümmerte mir das Nasenbein.

Dann, besänftigt durch die Blutfontäne, die zwischen meinen Fingern hervorsprudelte und mein Schmerzgebrüll, wandte sich die Schönheitskönigin an Ricardo und mahnte ihn zur Mäßigung. "Lass gut sein, ist doch bald Weihnachten." Sprachs und stoppte die Faust auf dem Weg zu meinem Gesicht. Man dankt. Die zerstörte Nase musste operiert werden, einen Tipp dazu könnte ich mir ja bei der gnädigen Königin holen, und mein Hirn am besten gleich dazu. Vereint in der Überzeugung, mir so richtig einen eingeschenkt zu haben, ließ mich das Himmelsfahrtkommando zurück.

Die Schwester trat in mein Zimmer und brachte mir freudestrahlend Schokolade. Doch anscheinend war meine Anwesenheit in diesem Sanatorium nicht ganz erwünscht. Denn anstatt mir die Süßigkeiten zu überreichen, die meinen Schmerz hätten stillen können, aß sie sie selbst und verließ hämisch lachend mein Zimmer. Ich hielt es nicht mehr aus, meine Nase war mir egal. Und so begab ich mich erneut auf die Flucht, in der Hoffnung endlich dieses Horrorszenario hinter mir lassen zu können. Kaum auf der Straße traf ich auf José, genannt "Die Angst", der mir im grünen Dschungel schon einmal so unendlich Angst eingejagt hatte. Seine Augen durchbohrten mich. Ich rannte los.

Dunkle Flatterwolken huschten durch das Echo meines Gedankenlabyrinths, Füße trommelten das Rattenfell der Straße. Bordcomputer? Frühstückspause! An gequetschten Wortfetzen jagte ich vorbei, Hermes gleich. Unter dem raschen Flug der Schritte verquirlten plattgedrückte Menschengesichter zu dünnem Menschenbrei. Mittelgesicht erschien darauf und furchtbar schön. Flucht. Flucht. Gib Stoff!, wirbelte das knorpelige Hämmerchen schmerzlich auf den Ohrenamboss. Und ich gab Stoff. Als der Fußwirbel im Unsichtbaren verschwand, hob es mich helikoptern ab. Armwirbel: Stabilität über algenblauem Untergrund mit Erdteilflecken. Wo ist das Mondmännchen?, lachte es fröhlich, während ich mich im Vakuum der Gedankenlosigkeit verlor. "Zwei oder drei Kugeln?", fragte mich der Eisverkäufer. Seine Miene sprach Bände.

"Gib mir direkt vier, jetzt bin ich mal hier." Ich ging zurück zum Strand, wo braungebrannte, in dünnsten Bikinistoff verstrickte Körper an mir vorbeihuschten. Während das aquamarine Meer seine Gischt in die Luft katapultierte, stellte ich mir vor, wie viele andere Menschen jetzt in ihren kalten Ländern sitzen und auf den Weihnachtsmann warten. "Bald ist es soweit", dachte ich und rutschte die Düne hinab, hinein in das sommerliche Getümmel.

Ich nickte kurz ein und überließ mich wieder einmal meinen Träumen als mir jemand auf die Schulter klopfte und mich fragte, wie es denn so mit einer Cuba wäre. Ohne die Augen zu öffnen, ließ ich mir das eiskalte Getränk in die Hand drücken, nahm einen langen Schluck, entspannte mich, öffnete nun doch die Augen und sah in das Gesicht von Rudolph; ich meine Rudolph, das Rentier! Fassungslosigkeit überfiel mich.

Verdammte Möhre! Wie konnte es ihm Jahr ein Jahr aus gelingen, den alten Caiman-Claus aufzustöbern. Rudolph, dieser ewig mit Rum betäubte Rentierverschnitt, hatte es wieder einmal geschafft. Schon wollte ich klein beigeben, mich wie jedes Mal zu Weihnachten zum rotweißen Narren tausender Grippe-statt-Gartenzwerg-Fanatiker machen zu lassen, da rauschten Michi und Gabriel, zwei der frischfröhlichsten Trinkerengel, herbei.

Der obligatorische Strandverkäufer wurde heran gewunken und das Gelage konnte beginnen. Die Engel stimmten besinnliches Liedgut an und Rudolph imitierte einen Tannenbaum. Dem Sand wurde die Rolle von Schnee zugeteilt und die Palmen wurden ignoriert.

Nun war es also soweit; die alljährliche Prozedur konnte beginnen. Rudolph stülpte mir die allseits beliebte Caiman-Claus-Kopfbedeckung über. Meine beiden Trinkerengel kippten, was das Zeug hält und halfen mir in den Rest meiner Tracht. Dann posaunten sie zum Aufbruch!

Der Arzt entriegelte die Tür und brachte mir meine Medikamente.

Text + Fotos: caiman Druckversion  

Weitere Artikel zu Venezuela findet ihr im Archiv.







 
Archiv
nach




© caiman.de - impressum - disclaimer - datenschutz pa´rriba