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Brasilien: Auf immer mehr Wegen der Sonne entgegen

Bisher begann die sommerliche Grillsaison für die urlaubenden Einwohner São Paulos damit, als Teilnehmer eines kollektiven Stauhappenings auf dem Weg zum Strand im eigenen Auto gegrillt zu werden. Ob vor 400 Jahren zu Fuß, vor 200 Jahren per Pferd bzw. Maulesel oder heutzutage eben mit dem Auto - der Weg aus den Bergen hinunter zur Küste war schon immer besonders anstrengend. Doch nun besteht Grund zu neuer Hoffnung: eine neue, auf Stelzen in den Urwald betonierte Autopiste soll dem Leid ein Ende bereiten.

Sommerferien in Brasilien; und alleine über die Weihnachtsfeiertage und Neujahr werden mehr als 1,2 Millionen Autos São Paulo in Richtung Strand verlassen. Dieser Massenexodus führte in den vergangenen Jahren stets zu einem heillosen Verkehrschaos auf den beiden Straßen "Imigrantes" und "Anchieta", die das auf einem Hochplateau gelegene São Paulo mit der nur 30 Kilometer entfernten Küste um die Städte Cubatão, Santos und São Vicente verbinden.

Auf bis zu 10 Stunden Stau musste man sich gefasst machen, wollte man zu den etwa 4 Millionen Touristen zählen, die die Strände der Umgebung während der Feiertage in menschliche Sonnen-Ölteppiche verwandeln.


Doch im Vergleich zu den Strapazen und Gefahren, die man in früheren Jahrhunderten auf sich nehmen musste, wollte man die 1000 Meter Höhenunterschied und den dichten Urwald der "Mata Atlântica" überwinden, sind 10 Stunden Stau mit Kühlboxen voll Bier und Reggae aus dem Autoradio purer Luxus. Steil abfallende Berge, unzugängliche Täler und Flüsse, die in der Regenzeit zu reißenden Strömen anschwellen: die Verbindung zwischen São Paulo und der Küste war stets mühselig.

Die Jesuiten um Manuel da Nóbrega und José de Anchieta waren die ersten, die sich 1554 von der Hafenstadt São Vicente aus mit einer Gruppe Glaubensbrüder aufmachten, einen Weg durch den dichten Dschungel hinauf in die Berge zu suchen. Anfangs folgten sie dem Fluss Mogi, der sie jedoch nahe an einen Stamm angriffslustiger Indianer führte. Um diesen zu umgehen, wählten sie das Tal Vale do Perequê, um sich einen Trampelpfad durch den dichten Wald zu schaffen. An Pflanzen und Wurzeln geklammert, zogen sie sich durch die schlammige Erde die Berge hinauf, indianische Lastenträger transportierten die schweren Proviantkisten und die in Hängematten liegenden kranken und verwundeten Europäer. Auf dem Hochplateau angelangt, gründeten die Jesuiten das Kollegium des Heiligen Paulus, die Keimzelle São Paulos. Von hier aus sollten im 17. und 18. Jahrhundert die "Bandeirantes", die "Fahnenträger", aufbrechen, um das gesamte brasilianische Hinterland bis hinauf in die Amazonasregion zu erforschen und für die portugiesische Krone in Besitz zu nehmen.

Zwar wurde der nach Anchieta benannte Trampelpfad, der Caminho do Padre José, in späteren Jahren ausgebaut, um den Transport von Truppen und Kanonen auf das Hochplateau zu ermöglichen, doch machten die in dieser Gegend üblichen häufigen Regenfälle den Pfad immer wieder unpassierbar. So ließ Bernardo José de Lorena, Gouverneur von São Paulo, Ende des 18. Jahrhunderts eine Steinstraße bauen, die Calçada do Lorena. Diese war mit 180 Kurven so geschickt angelegt, dass sie keinen einzigen der zahlreichen Wasserläufe überqueren musste und man somit auf den Bau von Brücken verzichten konnte. Reisende lobten die Straße als "die beste ganz Brasiliens, so gut, dass man selbst in Europa selten ihresgleichen findet".

Über sie wurde der im Hinterland produzierte Zucker nach Santos transportiert, um von dort aus seine Reise nach Europa anzutreten. Und auf ihr stieß Dom Pedro am 7. September 1822 den berühmten "Schrei von Ipiranga" aus, mit dem die Trennung vom portugiesischen Mutterland vollzogen wurde.

Weitere Straßenbauten folgten. So wurde der Militäringenieur Daniel Pedro Müller 1836 mit der Konstruktion einer zweiten Straße zwischen Cubatão und São Paulo beauftragt, die 1841 fertiggestellt wurde und zur Feier der Volljährigkeit des Thronfolgers Dom Pedro II. den Namen Estrada da Maioridade (Straße der Volljährigkeit) erhielt. 1862 beauftragte die Krone den Ingenieur José Vergueiro, eine Verbindung von dem "Largo da Pólvora" im Zentrum São Paulos bis hinunter nach Santos zu schaffen. Doch mit der Eröffnung der ersten Eisenbahnstrecke von Santos nach Jundiaí am 16. Februar 1867 verlor das Projekt Vergueiros vollkommen an Bedeutung. Die von ihm bereits an der Küste begonnenen Bauabschnitte wurden kurzerhand der Eisenbahnstrecke zur Verfügung gestellt. Und so galt bis zur Bezwingung der Berge durch das erste Auto im Jahre 1908 die Eisenbahn fortan als das wichtigste Transportmittel.

Die erste Autofahrt von Santos nach São Paulo dauerte noch 37 Stunden. Doch mit zunehmendem Verkehr wurde die "Estrada da Maioridade" immer weiter ausgebaut. Werkstätten, Restaurants und Hotels für die Reisenden entstanden. Im Jahr 1926 wurde sie als erste Straße Brasiliens betoniert. Bis zum Ausbau der Strecke São Paulo – Cubatão, der Via Anchieta mit jeweils zwei Pisten für die Berg- und die Talfahrt, lief der gesamte Autoverkehr über die "Estrada da Maioridade".

1976 weihte man dann die erste 3-spurige Via Imigrantes ein, die sich auf hohen Betonstelzen über 21 Kilometer durch die Täler der "Mata Atlântica" Richtung Meer schlängelt. Ihr Ausbau, weitere drei Spuren, ließ 26 Jahre auf sich warten.

Am 17. Dezember 2002 war es dann soweit: São Paulos Gouverneur Geraldo Alckmin nannte die Strecke ein "Jahrhundertwerk" und ließ sich, in einem offenen 1941er Lincoln stehend, die Straße hinunterfahren, den rechten Daumen den zahlreichen Photographen und Schaulustigen am Straßenrand entgegengestreckt. Dabei wurde er von einem 46jährigen Hobbymarathonläufer überholt, der die Strecke in 1 Stunde und 19 Minuten zurücklegte.

Von den neu geschaffenen Spuren der "Imigrantes" erhoffen sich die Einwohner der Region eine deutliche Entlastung der angespannten Verkehrslage, da nun jeweils 5 Pisten für die Berg- und Talfahrt zur Verfügung stehen – jeweils drei der Imigrantes und zwei der Anchieta. Zu Ferienbeginn wird das System auf 7 x 3 umgestellt, dass heißt, 7 Pisten (2 x 2 der "Anchieta" und 3 der "Imigrantes") werden für die Talfahrt geöffnet, während der nach São Paulo aufsteigende Verkehr über 3 Pisten der "Imigrantes" geleitet wird. Zu Ferienende, wenn Millionen von Touristen sich die Berge hoch quälen, wird das 7 x 3 System einfach in der entgegen gesetzten Richtung aktiv, bis hin zu 8 x 2, wobei 2 Pisten der "Anchieta" für die Talfahrt geöffnet werden, 8 jedoch für die nach São Paulo zurückströmenden Massen bereit stehen.

Die Verbesserung der Verkehrsanbindung der Küstenstädte an São Paulo wird wohl zu einer Steigerung der Einwohnerzahlen führen, da viele Paulistanas ihren Wohnsitz ans Meer verlegen werden. Die Immobilienspekulation hat bereits begonnen. Der Bürgermeister des Badeortes Guarujá sieht seine Stadt jetzt schon als mondänen Stadtteil São Paulos.


Der tatsächliche Nutzen der neuen Strecke ist also letztlich fraglich, da in Zukunft nicht nur zur Urlaubszeit, sondern tagtäglich Staus durch Pendler vorprogrammiert sind, die von ihren neuen Wohnorten aus nach São Paulo zur Arbeit fahren werden. Es ist eine Frage der Zeit, wie lange die Bewohner São Paulos brauchen, um auch die drei neuen Pisten zu verstopfen, stehen sie doch in dem zweifelhaften Ruf, in der Lage zu sein, jeden Ort in Kürze lahm zu legen.

P.S.: Übrigens sind sich die Stadtverwaltungen der Küstenstädte einig, dass mit den neuen Einwohnern auch die Kriminellen São Paulos die Berge hinabsteigen. Und so fragt man sich, was es einem nutzt, schneller am Strand zu sein, wenn einem dann dort das Auto geklaut wird? Da ist es doch sinnvoller, gleich in São Paulo zu bleiben und sich hier das Auto klauen zu lassen!

Text: Thomas Milz
Fotos: Tim Davies
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