caiman.de 04/2003

Brasilien: Mit Sindbad durch das Delta des Parnaíba

D„Ist schon okay, wir finden den Weg auch ohne Dich...“ Aber Sindbad besteht darauf, bis zum Hafen mitzukommen. „Ihr nehmt sonst das falsche Boot. Und die Schule fängt sowieso heute erst später an.“ Doch als unser Schiff kurz darauf ablegt, ist er mit an Bord. „Sag Mama, ich komme mit dem nächsten Boot zurück“, ruft er einem anderen kleinen Jungen zu, der am Kai zurückgeblieben ist. Schon am Abend zuvor, als wir nach einer dreistündigen Rumpelfahrt auf einem Toyota-Jeep in dem Ort angekommen waren, hatten wir Sindbad getroffen. Etwa acht Jahre alt, Badelatschen an den Füßen und von der Sonne gebleichte Haare. Er wusste immer genau Bescheid, wo das beste Essen serviert wird, welches Schiff wann von wo ablegt und welches Hotel man meidet.

Tutóia heißt das verschlafene Nest am westlichen Ausläufer des Parnaíba-Deltas an der Grenze von Maranhão und Piauí im Nordosten Brasiliens. Wer sich hierhin verläuft, ist meist unterwegs von den Traumstränden rund um Cearás Hauptstadt Fortaleza zu den Dünenlandschaften der Lençóis Maranhenses und Maranhãos historischen Städten São Luís und Alcântara. Hier zu reisen bedeutet, sich mit Booten und kleinen Toyota-Jeeps die Küste entlang zu hangeln. Oft muss man in kleinen Orten die Zeit totschlagen, da der nächste Transportmöglichkeit erst am darauffolgenden Morgen weiterfährt. Und die Meeresgezeiten sorgen dafür, dass man in der Regel nur frühmorgens ein Fährboot ergattern kann. Geduld sollte man haben, ganz grundsätzlich im Leben natürlich, aber besonders bei Reisen hier im Nordosten. Und so kann man sich in die auf dem Oberdeck aufgespannten Hängematten fläzen und die ruhige Fahrt an den kleinen Inseln des Deltas vorbei genießen.

Sindbad springt hin und her, besorgt Cola, Chips und Wasserflaschen und erteilt fachmännische Auskünfte, wo man sich befindet und welche Insel man gerade passiert. “Ich lerne immer noch dazu. Ich will mehr wissen als die anderen Touristenführer, um einen Vorteil zu haben.“ Für uns lässt sich irgendwie sowieso nicht genau unterscheiden, was Festland und was Insel ist. Oder er sitzt auf dem Bootsdach in der Sonne und baut kleine Türmchen aus den Münzen, die ihm die mitreisenden Touristen für seine Kellnertätigkeit in die Hand gedrückt haben. „Die Lehrerin ist sowieso krank“, beruhigt er mein schlechtes Gewissen. „Und mein Bruder hat ja zu Hause Bescheid gesagt, dass ich mit dem Boot mitgefahren bin. Meine Mutter kennt das schon und findet es gut, dass ich mir ein bisschen Geld als Touristenführer verdiene.“

Wir denken uns ein kleines Spielchen aus: die Münzen werden auf den Daumennagel gelegt und weggeschossen. Er wird nervös, weil er schon fast alle seine Münzen verloren hat. Wir hören auf, zu betrügen, und schnell hat er nicht nur seine, sondern auch unsere Münzen gewonnen. Glücklich erzählt er: „Ich kaufe Essen und Kleidung für meine Familie damit. Und den Rest verstecke ich in einer Kiste, die ich im Garten verbuddele. Sonst klauen mir meine Brüder alles.“ Wir spendieren ihm ein Mittagessen: Reis mit Hühnchen, Bohnen und Salat. Die abgenagten Hühnchenknochen werfe ich in die schlammbraunen Fluten. „Umweltverschmutzung ist das“, regt sich eine Urlauberin aus Südbrasilien auf. „Futter für die Krokodile“, entgegne ich ihr, worauf sie einen kleinen Schrei loslässt – „Gibt’s hier etwa Krokodile in dieser braunen Suppe?“ Nicht nur deutsche Touris sind vom Mond.

Während die einen ein Verdauungsschläfchen halten, bringen norwegische Touristen Sindbad englischen Wortschatz bei. „Ich muss die Gelegenheit nutzen, von Euch was in Deutsch und Englisch zu lernen. Wegen dem Wettbewerbsvorteil!“ Dabei bringen sie ihm nur Schimpfwörter bei. Danach ziehen sie ihm, bei 35 Grad, eine komplette Anden-Schneeuniform samt norwegischer Schneeschuhe Größe 45 an. Er grinst über die Wollmütze mit Ohrenklappen und wandert wie Robocop über das Deck. „Gefällt Euch eigentlich mein blondes Haar? Ich habe Ammoniak und Wasserstoff Stärke 20 reingeschmiert, damit es so schön wird.“ Ob Sindbad sein wirklicher Name sei, wollen wir wissen, aber diese Antwort nuschelt er in den Fahrtwind. Lieber fächert er einer seekranken Reisenden mit einem Stück Pappe etwas Wind zu.

Den ganzen Tag dauert die Fahrt von Tutóia nach Parnaíba, von morgens 10 Uhr bis abends 18 Uhr. Die meisten Reisenden kommen aus den Lençóis Maranhenses und wollen weiter nach Jericoacoara, dem sagenumwobenen Strand, der als einer der zehn schönsten der Welt bejubelt wird. Wir wollen mit dem Bus weiter nach Fortaleza, doch noch ahnen wir nichts von den anschließenden Wirren der weiteren Reise, des unter der Last von sechs Passagieren samt Gepäck zusammenbrechenden Taxis in Parnaíba, der ständigen Verzögerungen der Busfahrt, ausgelöst durch einen hektischen Busfahrer, der an Haltepunkten vorbei brezelt und von den im Nirgendwo ausgesetzten Passagieren deshalb zu Recht wüst beschimpft wird. Ganz zu schweigen von der Kuh, die er mitten in der Nacht einfach überfährt. Doch all das liegt vor uns, noch genießen wir die Landschaft aus Mangrovendickicht und Sanddünen, grüßen die uns entgegen paddelnden Fischer.

Vollkommen entspannt kommen wir in Parnaíba an, einem mittelgroßen Städtchen mit kleinem historischen Stadtkern. Hier hatte ich vor Jahren von brasilianischen Touristen gelernt, wie man einen Gastwirte über den Tisch zieht. 28 Reais betrug die Rechnung. „Ich habe kein Kleingeld, nur einen 20er oder 50er Reais-Schein. Sie können ja versuchen, den 50er klein zu machen, oder Sie akzeptieren den 20er!“ Niemand konnte wechseln, und so musste der Wirt nach einer halben Stunde vergeblicher Mühen die 20 Reais akzeptieren.

Über einfache Holzbretter verlassen wir unser Boot. „Seine Mutter macht sich doch bestimmt richtig Sorgen, wenn Sindbad einfach so durch die Gegend gondelt, oder?“, fragen wir den Kapitän. „Seine Mutter ist seit Jahren tot, und er und seine Brüder schlagen sich alleine durchs Leben“, antwortet dieser, und ein trauriges Gefühl beschleicht uns als wir noch einmal zurückblicken, winkt uns Sindbad zum Abschied.

Text:Thomas Milz