caiman.de 08/2003

Helden Brasiliens: Ein Leben auf dem Grünstreifen
Der Mann außerhalb der Zeit

Seit wie vielen Jahren er nun schon sein Leben auf dem etwa drei Meter breiten Grünstreifen der Avenida Pedroso de Moraes in São Paulos Nobelviertel Alto de Pinheiros verbringt, das weiß er nicht genau. Er lebe seit Ende 1979 außerhalb des Kalenders, sagt er. Er habe auch aufgehört, das Geschehen in der Welt zu verfolgen. Seine letzte Zeitung habe er im Juni 1976 gelesen, erinnert er sich, und es folgt eine Aufzählung der damaligen Herrscher der Welt. Amerikanischer und französischer Präsident, Brasiliens Staatsoberhaupt, São Paulos Gouverneur und Bürgermeister – er erinnert sich an alle.

Meist sieht man ihn, auf einer Holzkiste sitzend, gekleidet in einer Hemd-Rock-Kombination aus etwas, das früher mal ein Kaffeesack gewesen sein könnte. Auf dem Kopf trägt er eine Krone aus einer aufgeschnittenen Plastikflasche, die mit Pappe und Metallteilen umklebt ist. Eine um den Hals geknotete schwarze Mülltüte verleiht ihm einen Hauch von Darth Vader. Seine Tage verbring er damit, zu schreiben. Gebeugt arbeitet er an seinen Tagebüchern, Stapeln aus losen Blättern, in einer zerfledderten Kartonmappe aufbewahrt. Daneben liegen die Notizen vergangener Jahre, mit einem Bindfaden verschnürt, in durchsichtige Plastiktüten eingehüllt. "Das Tagebuch eines versklavten Geistes" nennt er sie, und gerne zitiert er daraus. "Gut geschlafen, früh aufgewacht, gutes Wetter, mit Besuchern gesprochen..."

Ob er noch Verwandte hat, weiß er nicht, zu viele Jahre ist es her, dass er seine Heimat im Interior von Goias verlassen hat, um alleine loszuziehen. Das war Ende der 60er Jahre. Damals lebte er von Gelegenheitsjobs. Heute kümmere sich Gott um ihn, sagt er. Ein Netz voll frischer Limonen liegt neben ihm. Es sind Passanten und Anwohner, die ihm Essen und Trinken bringen. Manchmal kommt auch jemand, für den er einen Brief schreibt, und so kann er ein Paar Reais verdienen. Oder er verkauft seine schwer verständlichen Gedanken zum Tage, die er, fortlaufend nummeriert, auf kleine Papierfetzen notiert hat. Regnet es, so zieht er einfach eine weitere Plastikfolie über seinen Kopf und schreibt darunter weiter.

Um ihn herum brummen die Fahrzeuge des täglichen Feierabendstaus, durch geschlossene Autoscheiben beobachtet man diese seltsame Gestalt mit dem langen grauen Bart, runzlig und mit von der Sonne dunkel gegerbten Haut, ohne Schuhe, ausgestellt in einer glaslosen Vitrine.

Seine wenigen Habseligkeiten hat er unter einer schwarzen Plastikfolie aufgestapelt, um ihn herum liegen leere Plastikflaschen und Konservendosen. Vor vielen Jahren hat ihm die Polizei im paraguayischen Asuncion all seine Bücher weggenommen, dazu all die leeren Dosen und Flaschen, mit denen er damals durch die Gegend zog. Eine siebenbändige Geschichte der Welt war dabei, und noch heute erinnert er sich an den Inhalt jedes einzelnen Buches. Rausgeschmissen habe man ihn aus Paraguay, wo man ihn nicht haben wollte. Jetzt hat er seinen Platz gefunden. Inmitten des unaufhörlichen Verkehrslärms fühlt er sich sicher, kann er ruhig schlafen, unter einer Plastikfolie, die er zwischen den Bäumen auf dem schmalen Grünstreifen aufgespannt hat. Hier, vor den Augen tausender Passanten und Autofahrer, ist er nach so vielen Jahren des Herumirrens endlich zur Ruhe gekommen.

Am 01. August 2003 wird Raimundo Arruda Sobrinho 65 Jahre alt.
Herzlichen Glückwunsch!

Text: Thomas Milz