caiman.de 09/2003

Grenzfall: Novalgina, Tigerinnen und silberne Kinder

Die tapsigen Laute aus dem Dach wecken mich. Den anderen, die sich vor allerlei Getier ekeln, habe ich gesagt, dass es ein harmloser kleiner caçaco sei, der dort oben wohne. Seit gestern Abend weiß ich jedoch, dass das nicht stimmt. Aber manchmal ist Schweigen besser. Ein Blick aus dem Fenster, und das grelle Sonnenlicht beißt in den verschlafenen Augen. Die Havaianas an den Füßen schützen auf dem Weg zum Brötchenholen vor dem brennenden Sand, und mir kommen Kinder auf viel zu großen Fahrrädern entgegen, barfuss, ohne T-Shirt. Irgendwie fällt jeden Tag die Schule aus. Ich trete ein in das Geschäft mit dem großen Schild "Padaria – Bäckerei". Hungrig. "Wir verkaufen neuerdings kein Brot mehr!", gibt die Verkäuferin zu bedenken. Guten Morgen Fortaleza, denke ich, und mache mich auf zum weit entfernten Supermarkt.

Der Weg führt über Sandwege, über eine fast vollkommen weggespülte Brücke, vorbei an einem Motel, das in großen Lettern verkündet: "Eingang von hinten". Das Straßenschild, das den Weg zum Flughafen anzeigt, verkündet auch, wie man zum nächsten McDonalds-Restaurant gelangt. Seltsame Verquickungen gibt es hier.

Da wird ein Naturschutzgebiet in der Nähe des berühmten "Beach Park" abgeholzt, um einem von einer hohen Mauer umgebenen Luxus-Wohnpark zu weichen. Traumblick auf Traumstrände. Wer da wohl die benötigten Genehmigungen gegeben hat? Als wir gegen Mittag an einem dieser Strände ankommen, müssen wir über Berge von Müll steigen. "Die neue Stadtverwaltung hat noch einige Anlaufschwierigkeiten, aber bis zur Badesaison ist alles wieder sauber", verspricht ein Einheimischer. Braune Flecken überziehen das Meer. Angeblich harmlose Algen. Andere sagen, dass es die Abwasser aus einer nahegelegenen Favela seien. Oder vielleicht doch nur Petroleum aus den riesigen Tanks der Petrobrás, die nicht weit weg von hier in den Himmel ragen. Aus den überdrehten Lautsprechern einer Strandbar dröhnt die Banda Kalorão. "Ela toma Novalgina – sie nimmt Novalgina (eine Tablette gegen Kopfschmerzen)", verkündet der Refrain angeblich, dabei versteht natürlich jeder "Ela toma na vágina – sie steckt ihn in ihre Vagina". War wohl auch so gemeint.

Der Blick in den Himmel, durchzogen von kleinen Wolkenstreifen am Horizont, die jetzt, gegen Abend, orange-rot leuchten. Ich will eine Kamera konstruieren, die diesen Himmel komplett auf ein Bild bannen kann, mit dem Meer und den Sanddünen als Rahmen. Ich lausche einem Freund, und ich weiß nicht, ob ich seine Geschichte von den Bewohnern des Landesinneren glauben soll, die zum ersten mal in ihrem Leben das Meer sehen und mit Meerwasser gefüllte Flaschen mit nach Hause nehmen, wo sie diese in einen See auskippen und darauf warten, dass das Wasser beginnt, Wellen zu schlagen.

Ein anderer Freund erzählt von den Geschehnissen der letzten Nacht. Um vier Uhr morgens wurde sein Haus in dem weit vor der Stadt liegenden Vorort überfallen, der Wachmann dabei niedergeschossen. Die sofort alarmierte Polizei traf erst gegen sieben Uhr ein. Man habe keine Straßenkarte gehabt, rechtfertigte sich der Polizist. Wir sitzen im Bus zurück, die Sonne geht unter, und schon kommen die ersten Moskitoschwärme von den Seen herauf. Im Hinterland der Dünen sammelt sich das Regenwasser des Sommers, und unter den Dünen bilden sich große Süßwasserblasen, die von einer ortsansässigen Mineralwasserfabrik jedoch schon weitgehend leergepumpt worden sind. Und so graben die Bewohner ihre Brunnen immer tiefer, dem verschwindenden Grundwasser hinterher.

Zu Hause läuft der Fernseher. TV Diário mit João Inácio Júnior, Moderator der João Inácio Show. Früher ein Glatzkopf, jetzt mit der wohl gruseligsten Perücke des ganzen Nordosten versehen. Die Tigresas, fünf fast nackte als Tigerinnen verkleidete Frauen, die im Hintergrund tanzen, während João Inácio immer neuen Show-Talenten eine Chance gibt, ihre Fähigkeiten im Fernsehen zu präsentieren, dazu eine Jury aus lokalen Persönlichkeiten und darunter Fortalezas schwuler Starfriseur in schrillen Frauenkleidern. Eine der fünf Tigerinnen, wurde vor einiger Zeit von dem kleinen Affen Michael gebissen. Während der Fernsehaufnahmen hatte sie ihn auf dem Arm gehalten, was dem kleinen Affen wohl so gut gefallen hat, dass er sich wild widersetzte, als der Tierdompteur ihn den Armen der Tigerin entreißen wollte. Schließlich krallte er sich an Robertas Bein fest und biss ihr in den Allerwertesten. Danach war erst einmal eine Schönheitsoperation und ein Monat Auftrittspause angesagt.

Wir machen uns auf den Weg zum Praia da Iracema, der Vergnügungsmeile Fortalezas, berühmt durch die dort ansässige Pirata-Bar, die den "wildesten Montag Brasiliens" verspricht und wo sich bei viel Forró-Musik Herren mittleren Alters, zumeist europäischer oder argentinischer Herkunft, mit den jugendlich-weiblichen Schönheiten Fortalezas treffen. Nicht nur das Stadtzentrum, sondern auch der Praia da Iracema hat in den letzten Jahren viel von seinem einstigen Charme eingebüßt. Wo man sich vor einigen Jahren noch traf, um zu auf der Gitarre gezupften Perlen der brasilianischen Musik ein erfrischendes Bier zu trinken, tummeln sich jetzt dunkle Gestalten, Drogenabhängige und Prostituierte. In einer Seitenstraße finden wir ein angenehmes Restaurant, von wo aus wir die fünf am ganzen Körper mit silbernem Lack angemalten Kinder beobachten. Außer einer Badehose tragen sie nichts, und bis in die Haarspitzen hinauf glänzen sie. Von Tisch zu Tisch gehen sie mit aufgehaltener Hand, doch die Kellner vertreiben sie. Man sieht das Erschrecken in den Augen der Gäste, sobald sich eines dieser Kinder nähert. "Vor ein paar Monaten waren französische Straßenkünstler hier in Fortaleza", erklärt ein Freund, "und sie haben sich vom Kopf bis zu den Füßen silbern angemalt, in die Fußgängerzone gestellt, starr wie Statuen. Sobald jemand an ihnen vorbeiging, haben sie die Leute erschreckt. Damit haben sie richtig Geld gemacht. Seitdem versuchen diese Kinder, es ihnen nach zu machen, malen sich jeden Tag mit silbernem Lack an und betteln. Wie lange sie das überleben werden, wer weiß?"

Zurück aus der Stadt, kehren wir noch in die kleine Bar um die Ecke ein, wo Musik von der Band "Calcinha Preta – Schwarzes Unterhöschen" aus den Lautsprechern quirlt. "Mestre da Batida" – der Meister der Mixgetränke nennt sich die Bar vielversprechend. Sogar "Batida de cebola", ein Zwiebelbatida, steht auf der Karte und macht uns neugierig. Als er zwanzig Minuten nach der Bestellung immer noch nicht serviert wird, fragen wir nach. "Den Zwiebelbatida können wir heute leider nicht machen, da uns die Erdbeeren ausgegangen sind." Verdutzt gehen wir nach Hause, wo uns schon die über die Dachlatten dahintrippelnde Mäusefamilie erwartet.

Text: Thomas Milz