caiman.de 08. ausgabe - köln, august 2001

Jenseits einer Grenze

Also, wenn wir glauben, dass wir reisen müssen, um über „Grenzen“ nachzudenken oder zu schreiben, dann täuschen meine und unsere Gedanken. Ja, es ist wahr, dass man reisend die Grenzen von Staaten, Ländern oder Städten oder überschreitet, aber vor allem überschreitet man die Grenzen der Individualität. Um über die Grenze zu schauen und mir klar zu machen, worüber ich spreche, erinnere ich mich an einen Dokumentarfilm über das Thema „Zeit“. Er bestand aus Antworten auf die Frage: Was ist Zeit?

Der erste Interviewte: ein alter Mann von 85 Jahren.
Der zweite Interviewte: eine Jugendliche von 14 Jahren.
Der dritte Interviewte: ein Börsenspekulant.
Der vierte Interviewte: ein Astronom.
Der fünfte Interviewte: ein Aidskranker.
Der sechste Interviewte: ich.

Meine Antwort?
Gute Frage! Genau deshalb schreibe ich.
Die gleiche Frage und doch so unterschiedliche Antworten. Ich halte ein und frage mich: Was ist eine Grenze?

Für einen Präsidenten der Vereinigten Staaten? Ein Schutzwall(!?)
Für einen Mexikaner? Ein Gefängnis.
Für einen Chinesen?
Für einen Tibetaner?
Für einen Europäer?
Für einen Afrikaner?

Wie viele Länder gibt es auf dieser Welt! Ich denke, dass vor diesen Grenzen der Himmel und die Erde existierten. Vielleicht hatte der Steinzeitmensch seine Grenze zwischen dem Tageslicht und der Dunkelheit der Nacht...(bis er das Feuer erfand!), während unsere Grenze zwischen Hunger und Sattsein verläuft (bis wir den nächsten McDonalds gefunden haben). Und dieser unersättliche Durst danach, die Frage zu wechseln, sobald wir auf eine Antwort stoßen.

Ja, es gibt mehr Antworten als Fragen.
Ja, es gibt mehr Grenzen als Länder.
Ja, es gibt viel mehr Reisen, die noch gemacht werden müssen; die Frage, die bleibt, ist die: reisen wir alleine?

In Zeiten des blitzschnellen Informationsaustausches, stellt das Internet ein Gefängnis oder die Erlösung dar? Und nicht zu vergessen: die Globalisierung... “superação“ (Super-Aktion und Überwindung zugleich).

Grenzen, Zeit, Gefängnis, Schutzwall, Fragen, Antworten: wir reisen niemals alleine.

Alle Individuen mögen mir vergeben. Es ist an der Zeit, weiter als nur über eine Grenze zu schauen.

Text:
Cristina Poli
Übersetzung: Thomas Milz

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