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brasilien

Der Tapir auf Tarzans Thron
Alternative Urwaldkunde im Amazonas
Klack, klack, klack. Unter dem metallischen Klang der Machete öffnet Gerry die Kokosnuss. „Probier mal, schmeckt gut!“ Mit der Spitze seines Buschmessers kratzt er Fruchtfleisch aus der Kokosnuss und bietet es mir an. „In jeder Kokosnuss wächst ein Wurm, der sich vom Fruchtfleisch ernährt und danach zu einem Käfer wird. Gleich suche ich mal eine ältere Nuss, da schmeckt der Wurm noch besser!“

Mir dreht sich der Magen um. Bis jetzt habe ich es immer geschafft, um den Wurm herum zu kommen. Einmal habe ich mich rechtzeitig in die Büsche zum Pinkeln verdrückt, beim nächsten mal habe ich einigen amerikanischen Touristen großzügig den Vortritt gelassen, bis kein Wurm mehr übrig blieb. Doch bei dieser Tour bin ich wohl endgültig dran.

Waschküche! Mir läuft der Schweiß in Strömen den Körper hinunter, die Kleider sind vollkommen verklebt: eine Mischung aus Schweiß, Sonnencreme, Repelente, das nicht wirklich vor den Moskitos schützt, und japanischem Öl, welches die Stiche abschwellen lassen soll.

Wir laufen hinter Gerry her, der immer wieder mit seiner Machete den Weg frei schlägt. Eigentlich sieht der Urwald viel zivilisierter und aufgeräumter aus, als man ihn sich vorstellt. Nicht wie in so manchem Hollywoodfilm, wo von allen Bäumen Schlangen herunter hängen und man ständig mit dem Kopf gegen sie stößt. Die meisten Tiere nehmen vor uns Reißaus, noch bevor wir sie wahrnehmen. Nur die Moskitos erweisen sich als äußerst zutraulich. Ab und zu sehen wir einen Tukan, und Gerry meint, dass wir vielleicht noch eine der berühmten afrikanischen Killerbienen sehen würden, "100 mal aggressiver als die harmlose europäische". Affenhorden ziehen durch die Baumwipfel, die den Blick auf den Himmel nahezu vollständig versperren.

„Die Bäume wachsen zuerst schmal nach oben, dann in die Breite; sie müssen den Kampf um die Sonnenstrahlen gewinnen. Und die Verlierer sterben ab, so wie dieser hier.“ Der Baum ist fast vollständig von Lianen umrankt.

„Hier im Urwald kämpfen drei Gewalten gegeneinander: die Bäume, die Termiten und die Lianen. Den Kampf Liane gegen Baum gewinnt die Liane in 80% der Fälle. Und in den von den Termiten ausgehöhlten Baumstümpfen leben allerhand Tiere. Wenn man da ein Feuer entfacht, wird man erstaunt sein, was so alles oben raus kommt; Opossums, Fledermäuse und vieles mehr.“

Die Vielfalt der Baumarten ist überwältigend. Hier ein mächtiger Teakbaum, „800 Dollar pro Kubikmeter“, laut Gerry. Dort ein Sucupira, dessen extrem hartes Holz für 2000 Dollar gehandelt wird. Zudem findet man Rotes Mahagoni (3000 Dollar pro Kubikmeter).

Und auch den Namensstifter Brasiliens treffen wir hier, den Pau Brasil. Sein Holz glänzt rotbraun, amberfarben, so wie auch die Haut der Indios. Im Spanischen und Portugiesischen bedeutet Glut „brasa“. Brasa - Brasilien.

Selten sieht man zwei Bäume der gleichen Art nebeneinander stehen. Oft gibt es von einer Sorte nur ein Exemplar pro Quadratkilometer. Die Erde ist so nährstoffarm, dass nur ein Exemplar überleben kann. Die starken Regengüsse und mehrmonatigen Überschwemmungen nehmen einen großen Teil der Humusschicht mit sich. Deswegen zeigen die Rodungen auch so fatale Folgen - ohne Bäume und ihre Wurzeln gibt es für die dünne organische Schicht kein Halten mehr. „Entgegen der allgemeinen Meinung sind es nicht große Konzerne, die die Bäume schlagen, sondern oftmals Verwandte von Politikern oder einflussreiche Familien, die den Edelholzhandel kontrollieren“, sagt Gerry, und mit einem gezielten Schlag seiner Machete tötet er ein Insekt, das es sich auf meinem Bein bequem gemacht hat. „Afrikanische Killerbiene“, kommentiert er kurz, um dann weiter zu erzählen.

“Brasilien besitzt 80% des Amazonasregenwaldes. Während des ersten Kautschukbooms, der bis 1901 anhielt, wurden 2% des Regenwaldes gerodet. In der zweiten Boomphase, die vom Beginn des II. Weltkrieges bis ins Jahr 1949 reichte, wurden weitere 7% vernichtet. Als dann mit dem Bau Brasílias um das Jahr 1960 die Viehwirtschaft im Landesinneren begann, wurde entlang des Rio Araguaia noch mehr Wald gerodet.

Aber den größten Anteil an der Zerstörung hatte die Militärdiktatur zwischen 1964 und 85, die von der Weltbank circa 150 Milliarden Dollar für ihre Bauprojekte erhielt. Sie erklärten Manaus zur Freihandelszone, bauten die Transamazônica in Ost-West-Richtung und legten Staudämme an, die eine Fläche unter Wasser setzten, die fünf mal der Größe Belgiens entspricht.

Zum Glück ist Brasilien seit Mitte der 80er Jahre so pleite, dass sie diese und weitere Großprojekte stoppen mussten. Glück für den Urwald." Und nach einer kleinen Pause: "Riechst Du das? Affenscheiße." Wir gehen weiter.

Gegen jede erdenkliche Krankheit findet man hier eine Pflanze, wie den Amapá-Baum, dessen Saft wie Milch mit Magnesium schmeckt. Das Gift einer Cobra verdünnt das Blut derart, dass der Mensch an inneren Blutungen stirbt. Der Saft des Amapá-Baumes verdickt das Blut wieder, tötet aber nicht das Schlangengift. „Der Körper selber muss das Gift besiegen“, erklärt Gerry.

Auch die zwei verschiedenen Mentholbäume, der Bengue und der Cuarú, besitzen eine heilende Wirkung. Aus dem Cuarú gewinnt man Tee, der Saft des Bengue hingegen ist nur zur äußeren Anwendung bestimmt, und kuriert Muskelschmerzen und Lungenentzündungen. Açaí hilft gegen Anämie, da es extrem viel Eisen besitzt. Canela Selvagem, Wilder Zimt, senkt Bluthochdruck, während die Sucuba-Pflanze gebärenden Frauen zum Schutz vor inneren Infektionen verabreicht wird. Außerdem ist sie ein Mittel gegen Hepatitis. Die Schale des Carapanauba enthält Chinin, das vor Malaria schützt. „Deswegen haben die Engländer in Afrika den ganzen Tag Gin-Tonic getrunken. Sie hatten so viel Chinin im Blut, dass der Malaria-Erreger keine Chance hatte.“ Aber auch Diabetikern kann mit dem Carapanauba geholfen werden. Aus der Cipó Jabuti Pflanze gewinnt man eine Säure, mit der man Tierhäute in 90 Tagen zu härtestem Leder gerben kann. Außerdem kann man aus der Pflanze einen halluzigenen Tee brauen, den Santo Daime. Nur gegen Tetanus gibt es keine Heil stiftende Pflanze.

Dafür findet man allerhand exotische Früchte wie die Sororoca (die wilde Banane) oder den Cacao Selvagem (wilden Kakao). Die Castanha do Pará, auch als Paranuss bekannt, wächst an einem bis zu 1000 Jahre alten Baum, und Goiaba de Anta heißt so, weil die Antas, die Tapire, sie so gerne essen.

Und ich lerne endlich den Unterschied zwischen Ananas und Abacaxi, die im englischen als Pineapple bezeichnet wird. „Die Ananas ist weiß, während der Pineapple gelb ist.“

Aus der Milch des Sorva wurde früher Kaugummi hergestellt, ein zufälliges Nebenprodukt des Kautschukbooms. Die des Gummibaumes solle ich aber bloß nicht trinken, sagt Gerry, „sonst kannst Du eine Woche lang nicht mehr aufs Klo.“

„Um das Jahr 1984 herum hat man im Amazonasgebiet zahlreiche Rohstoffe wie Öl, Bauxit, Magnesium und Uran gefunden. Zuvor ging es nur um oberirdische Reichtümer.“ Hierzu zählt das Rosewood-Öl, das als Grundsubstanz für Kosmetika und Parfums dient und ausschließlich nach Frankreich exportiert wird.

Aus den Stämmen des außen harten und innen weichen Zarabatana-Baumes bauen die Indios ihre Blasrohre. Die Stämme des nördlichen Amazonasgebietes reiben ihre Pfeile mit dem Gift der Curare-Pflanze ein, während in den südlichen Gebieten ein Gift verwendet wird, das vom Rücken eines Frosches stammt. Aus den Blättern des Pachiube basteln sie ihren Bogen, während der Arvore de Fibra zu Schnüren und Hängematten verarbeitet wird. Den Sapopémba-Baum nutzen sie als Trommel, um Signale zu senden.

Seit Stunden laufen wir jetzt schon durch den Urwald, die Moskitostiche spüre ich schon gar nicht mehr, ich habe aufgehört, mich über sie zu ärgern. Das hilft ungemein. Gerry erzählt über eine Pflanze, deren Blüten wie Seide seien und deshalb von den Vögeln zum Nestbau verwendet werden. Einmal hebt er eine andere Blüte vom Boden auf. „Prostituiertenlippe“ nennt er sie, für mich sieht das eher nach Mick Jaggers Lippen aus, aber okay.

Gerry sagt, dass die meisten Bezeichnungen der Fauna und Flora aus dem Tupi-Guarani stammen. „Pira ist der Fisch, Pira-nha ist der beißende Fisch“, und ich muss daran denken, wie ich heute morgen vor unserer Hütte im Fluss gebadet habe, umringt von Piranhas. Wir kreuzen die Straße eines Feuerameisenstammes, den Formigas do Fogo, und gelangen zu Tarzans Thron. „Setz Dich doch mal drauf“, lädt mich Gerry ein, aber den Gag kenne ich schon von der letzten Tour. Damals hätte ich mich fast auf das Saúva-Nest gesetzt, die Wohnstädte der Blattschneideameisen.

Wir suchen vergeblich nach einer Anaconda, die eigentlich Sucuri heißt, und auch den Peixe Elétrico, den elektrischen Fisch, können wir nicht aufstöbern. „Wir müssen wiederkommen, wenn der Wasserstand niedriger ist.“

Wir passieren einen Baum, der laut Gerry keinen Namen trägt. „Não tem nome não.” Noch während ich ihn deswegen auslache, bückt er sich plötzlich und hebt eine braune Kugel vom Boden auf. „Da haben wir ja eine Kokosnuss!“ Klack, klack macht die Machete. Gerry hält mir den Wurm entgegen, diesmal gibt es kein Entkommen. Wenn ich nicht so schwitzen würde, hätte ich jetzt bestimmt Angstschweiß auf der Stirn.

Ich öffne den Mund. Doch Gerry wirft den Wurm in die Büsche. „O bicho tá doente, já tá amarelo!” “Das Ding ist schlecht, schon ganz gelb. Nächstes mal finden wir bestimmt einen guten.“

„Das versprichst Du mir jedes Jahr, Gerry, und dann wird doch wieder nichts draus!“

Text und Fotos: Thomas Milz

Näheres zur Gerry:
Gerry (Gerard) Hardy ist der Sohn eines Engländers und einer Indianerin aus dem Grenzgebiet von British Guyana, Venezuela und Brasilien. Seit 20 Jahren führt er Touristen und manchmal auch Filmteams durch den um Manaus gelegenen Urwald. Sein Tagessatz inklusive Verpflegung, Transport und allen anderen Kosten beträgt 70 Dollar. Er spricht Englisch, Spanisch, Portugiesisch und die Sprache seines indianischen Stammes. Außerdem verfügt er über ein unerschöpfliches Repertoire von romantischen Liedern zur Gitarrenbegleitung und nicht jugendfreien Witzen, die er bei einem kalten Bier gerne preis gibt.

Wer den Dschungel kennen lernen möchte, sollte sich mindestens 3 bis 4 Tage Zeit nehmen und darauf gefasst sein, sich im Fluss zu waschen, in der Hängematte zu schlafen und ohne Fernsehen und Radio auszukommen. Als Belohnung wird man den klarsten Sternenhimmel sehen, den man sich – eigentlich nicht – vorstellen kann, Flussdelphine und Kaimane beobachten, leckeren Fisch essen, wunderschöne Sonnenauf- und -untergänge erleben und plötzlich feststellen, dass diese auf den ersten Blick so fremd und feindlich anmutende Welt eigentlich der friedlichste Ort auf diesem Planeten ist.

Nähere Informationen erhält man beim Brasilien Reise-Info-Service (Harald Schmidt) unter Deutschland 0221 - 760 25 59 oder Fax 0221 - 760 65 14.

Weitere Infos unter www.brasil.de oder direkt bei Gerry in Manaus unter Telefon / Telefax 0055 92 237 69 81.

Zur Lektüre sind folgende Bücher zu empfehlen:
“The decade of destruction: The Crusade to save the Amazon Rain Forest” von Adrian Cowell
“Amazon Jungle: Green hell to red desert?” von Robert J. A. Goodland und Howard Irvin

Weitere Artikel zu Brasilien findet ihr im Archiv.







 
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