caiman.de 08. ausgabe - köln, august 2001


Der brasilianische Ikarus
Über den Absturz eines Gluckspilzes

Zum letzten Mal blickt er auf das Meer von Guarujá, zieht sich den Morgenmantel über und verschwindet mit einer Krawatte im Badezimmer. Er knotet sie an die Dusche und erhängt sich.

Ob aus Schuldgefühl wegen der sich draußen abspielenden Ereignisse oder von der eigenen, langjährigen Krankheit zermürbt, weiß niemand.
Der Totenschein, erst 1956, 24 Jahre nach seinen Tod, ausgestellt, verschweigt die Todesursache. Denn ein Nationalheld bringt sich nicht um. Nicht in Zeiten des „neuen brasilianischen Menschen“, in Zeiten des Diktators Getúlio Vargas.

Die Geschichte beginnt 35 Jahre zuvor. Der junge Alberto Santos Dumont aus Palmira in Minas Gerais ist der Sohn eines wohlhabenden Kaffeebarons französischer Herkunft.

Mit 18 Jahren und seinem Erbanteil von drei Millionen Dollar hatte er sich nach Paris aufgemacht, wo er ein unbeschwertes und zielloses Leben führte, immer auf der Jagd nach den schönsten Frauen der Stadt. Er fuhr mit seinen beeindruckenden Autos vor (16 km/h, immerhin), um die weiblichen Herzen zu erobern. Der „Petitsantôs“, wie er genannt wurde, organisierte nebenbei auch noch die Autorennen im Velodrom des Parc des Princes. Zu dieser Zeit war er der Dandy der Pariser Gesellschaft, badete zusammen mit der Dame seines Herzens in Champagner und leistete sich einen Privatlehrer, der ihn in solch ungewöhnlichen Fächern wie Physik, Chemie und Elektrizitätslehre unterrichtete.

Von der Geschichte des Salomon August Andrée fasziniert, tauscht er nun das Auto gegen den Ballon. Salomon August Andrée war Schwede. Am 11. Juli 1897 stieg der Heißluftballon des Abenteurers auf und die Reise Richtung Nordpol begann. Kurz darauf verschwanden Salomon und seine zwei Begleiter. Für immer.

Zusammen mit den Erfindern Lachambre und Machuron macht sich Dumont daran, eine Flugmaschine zu entwickeln, um der Begrenztheit des menschlichen Körpers zu entfliehen. Und beeindruckt damit wieder einmal die Frauen der französischen Hauptstadt. Mit seiner Erfindung, dem steuerbaren Ballon, begibt er sich zu den diversen Stelldicheins, wobei er sein Gefährt parkt, indem er es einfach an einen Laternenpfahl vor den Cafés fixiert. 1901 erhält er dann den „Deutsch-Preis“ für die erste Umrundung des Eiffelturms. Als er das Preisgeld von 100.000 Francs den Armen der Stadt schenkt, wird er endgültig zum Helden von Paris. Mit seinen Fluggeräten, einer Kombination aus Ballon und Auto, aus der sich die ersten tauglichen Flugzeuge wie die „14 bis“ und die „Demoiselle“ entwickeln, erlangt er in den nächsten Jahren internationalen Ruhm. Und ganz Brasilien schaut voller Stolz auf den fernen Sohn.

Bei der Parade zum französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli 1903, kann es sich Alberto leisten, eine internationale Krise zu verursachen. Vom Präsidenten der französischen Republik, Émile Loubet, eingeladen, erscheint er mit seinem Ballon über dem Defilee: wenige Meter über der Tribüne des Präsidenten schwebend zieht Alberto plötzlich einen Revolver und feuert 21 Schüsse ab. Später redet er sich damit heraus, dass er nur einen Salut zu Ehren des Staatschefs abgeben wollte. Keine Spur von versuchtem Attentat. In diesen Tagen scheint das Glück des kleinen Alberto unendlich. Bis zum Jahr 1908.

In diesem Jahr stürzt er sinnbildlich vom Himmel. Und die ganze Welt über ihm zusammen. Die Ärzte stellen Multiple Sklerose fest. Er beendet seinen Traum vom Fliegen. Und als die Deutschen 1914 Frankreich überfallen, wird er unter dem Verdacht, für die boches zu spionieren, verhaftet. Welch riesige Enttäuschung für den Wahl-Franzosen! Dumont verbrennt seine Tagebücher und alle Papiere, die ihn an seine glorreiche Vergangenheit erinnern, denn diese hat nichts mehr mit seiner todkranken und finanziell nahezu ruinierten Person zu tun.

1928, schon vom Tod gezeichnet, kehrt er endgültig nach Brasilien zurück. Als das Schiff „Ca.Ancora“ in die Guanabara – Bucht von Rio de Janeiro einfährt, nähern sich Albertos engste Freunde mit einem Flugzeug, um ihn zu begrüßen. Es trägt den Namen „Santos Dumont“ und stürzt ab. Alle Insassen sterben.
Sein Name brachte niemandem mehr Glück.

Kurz darauf stirbt in Brasilien die „Alte Republik“. Getúlio Vargas übernimmt als Diktator das Steuer. In einem der letzten Kämpfe gegen die neue totalitäre Zeit erhebt sich die Stadt São Paulo gegen den selbsternannten Führer. Getúlio ordnet daraufhin die Bombardierung der Stadt an. Und so hört Alberto, der in einem Luxushotel in Guarujá nahe Santos, dem Hafen von São Paulo, abgestiegen ist, die Flugzeuge über sich und wenig später die Detonationen der Bomben. War er es nicht, der diese Maschinen erfunden hatte? Ja, aber nur um die Herzen der Frauen zu erobern, und nicht eine Stadt. Nicht, um unschuldige Menschen zu töten.

Am Morgen des 23. Juli 1932 begeht Alberto Santos Dumont Selbstmord. Als der französische Flugpionier Louis Blériot, ein alter Freund von Alberto, von dessen Tod erfährt, tauft er sein neues Flugzeug auf den Namen „Santos Dumont“. Kurz darauf fällt er damit vom Himmel und stirbt.

Es scheint, als ob Ikarus die gesamte „belle époque“ auf seinem Sturzflug mit sich riss.

Thomas Milz