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Brasilien: Quelle nationaler Freude
Chico Buarque wird sechzig

"Für Brasilien ist es eine wunderbare Sache, Chico Buarque zu haben. Er ist ein Genie, eine Fundgrube der populären brasilianischen Kultur. Großartiger Poet, großartiger Musiker, großartiger Texter, großartiger Schriftsteller, großartiger Alleskönner."
(Tom Jobim, 1994)

Man kann jede Brasilianerin fragen, wen sie für den schönsten Brasilianer hält – die Antwort wird immer Chico Buarque lauten. Egal wie alt sie ist, ob 16 oder 60, für alle ist der Sänger, Schauspieler und Schriftsteller aus Rio de Janeiro allererste Wahl.

Und wenn man nachfragt, warum er so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, werden alle sagen, dass es seine unglaublich tollen Augen sind. Witzig ist nur, dass niemand genau zu wissen scheint, welche Farbe diese so berühmten Augen denn haben. Manchmal scheinen sie grün zu sein. Manchmal ist man sich sicher, dass sie blau sind. Und andere schwören, dass sie in der Farbe des Ardosia-Steines leuchten. Außer den Augen mögen die Frauen besonders jene unnachahmliche, respektvolle Art, mit der Chico Buarque das weibliche Geschlecht in seinen Liedern feiert. Der Gentleman singt so elegant von den kleinen, alltäglichen Dinge, die die Liebe ausmachen: "Wie soll ich dich verlassen können, wenn in der Unordnung meines Kleiderschranks mein Anzug dein Abendkleid umschlingt, deine Schuhe immer noch auf meine treten. Wie soll ich dich verlassen können, wenn wir uns lieben wie zwei Ungläubige, deine Brüste noch immer in meinen Händen ruhen, sag mir, mit was für einem Gesicht sollte ich dich denn verlassen." ("Eu te amo", komponiert von Chico und Tom Jobim, 1980)

Francisco Buarque de Hollanda wurde am 19. Juli 1944 in Rio de Janeiro geboren. Das vierte von sieben Kindern des Historikers und Soziologen Sérgio Buarque de Hollanda, Autor des Klassikers "Raízes do Brasil" (Die Wurzeln Brasiliens), und von Maria Amélia Cesário Alvim. Mit zwei Jahren kam Chico mit seiner Familie nach São Paulo, wo der Vater die Leitung des Ipiranga-Museums übernahm.


Als Chico neun war, zogen sie weiter nach Rom, wo Sérgio eine zweijährige Lehrtätigkeit an der Universität bekleidete. Schon in diesem Alter wusste Chico, was er einmal werden wollte. Er schrieb seiner Großmutter eine Abschiedsbotschaft: "Omi, ich gehe nach Italien. Wenn ich zurückkomme, wirst Du schon tot sein. Aber mach Dir keine Sorgen. Ich werde ein berühmter Radiosänger. Dann brauchst Du nur das Himmelsradio anzumachen, und schon kannst Du mich hören."

Zurück in der Heimat gingen bei den Buarque de Hollandas einige der wichtigsten Köpfe des künstlerischen Lebens Brasiliens ein und aus. Unter ihnen der Poet Vinícius de Morais, ein alter Freund der Familie aus gemeinsamen Tagen in Rom, der Musiker Baden Powell, der Sänger João Gilberto und der Gitarrist und Komponist Oscar Castro Neves. Diese Begegnungen beeinflussten den jungen Chico sehr. "Wenn Vinícius zu Besuch kam, durften wir länger aufbleiben. Wir hörten gemeinsam Platten von Noel Rosa, Ismael Silva und Ataulfo Alves. Und es gab Wettbewerbe, wer die meisten Karnevalsmärsche singen konnte", erinnert sich Miúcha, eine von Chicos Schwestern. Als der Bossa-Nova aufkam, verliebte sich Chico sofort in ihn. Er vergötterte die Platte "Chega de Saudade" von João Gilberto, der Jahre später Chicos Schwester Heloisa heiratete. Chico beschloss noch als Kind, das Gitarrenspiel zu erlernen, und begann, Lieder zu schreiben. Er sagte, sein Traum sei es, wie João Gilberto zu singen, Melodien wie Tom Jobim zu komponieren und Texte zu schreiben wie Vinícius de Moraes.

Doch bevor er sich in einen der bekanntesten Sänger Brasiliens verwandelte, sah es so aus, als ob sich Chico von seinem Weg abbringen lassen würde. 1963 schrieb er sich in der Fakultät für Architektur und Urbanistik der "Universidade de São Paulo" ein. Vielleicht um seinem Vater zu gefallen, dem großen Wissenschaftler, der sich ein Leben lang in seiner Bibliothek einschloss und sich in Büchern vergrub.

Mit seinen Taschen voller französischer Bücher versuchte Chico, seine Universitätskollegen zu beeindrucken. Aber er brachte das Studium nicht zum Abschluss. Stattdessen schrieb er sich in den zahlreichen Talentwettbewerben des brasilianischen Fernsehens ein. Ab 1965 gelang es ihm, mit seinen Liedern Erfolg zu feiern, und 1966 gewann er sogar das Festival der "Música Popular Brasileira" (MPB) des Senders TV Record. Sein Lied "A banda" wurde zum großen Klassiker der MPB. Der berühmte Dichter Carlos Drummond de Andrade bezeichnete das Stück als "so tief in unserer Tradition verwurzelt, ein Marsch, der unserem Land die in Zeiten der Militärdiktatur so sehr benötigte Freude zurückbringt." Chico wurde zur "unanimidade nacional", zur "Quelle nationaler Freude" erklärt.

Am Anfang gefiel es Chico, wenn er auf der Straße erkannt wurde. Seine Schwester Ana erinnert sich, wie er einmal nach Hause kam, sich vor ihr in Pose schwang und sie fragte: "Was denkst Du, sehe ich aus wie Chico Buarque?" Aber diese verspielte Unvoreingenommenheit änderte sich mit der zunehmenden Unterdrückung durch die Militärdiktatur in den Jahren 1967 und 1968. Während Chico sich als der "liebe Junge von nebenan" präsentierte, brachten sich Caetano Veloso und Gilberto Gil mit ihrem bissigen "Tropicalismo" in Opposition zu den Generälen. Die Anhänger der Tropicalismo-Bewegung stempelten Chico als "alienado", als "Mitläufer" und Konformist ab, und seine Stücke "Bom tempo" und "Sabiá", gemeinsam mit Tom Jobim geschrieben, wurden auf den Musikfestivals ausgebuht. In diesem Klima schrieb Chico Ende 1967 sein Theaterstück "Roda viva", das bei seiner Aufführung Tumulte und Rangeleien mit der Polizei verursachte. Bestürzt von den Ereignissen begann Chico, sich gegen die staatliche Zensur aufzulehnen. Er war in der Opposition angekommen.

Zu Beginn des Jahres 1969 verließ Chico das Land, um sich in Italien ins selbst gewählte Exil zu begeben. Dort veröffentlichte er zwei Alben, die jedoch nicht erfolgreich waren. Die meiste Zeit spielte er Fußball – noch heute seine große Leidenschaft. Eineinhalb Jahre später kehrte er nach Brasilien zurück.


Von nun an veröffentlichte er Lieder, die die Diktatur offen herausforderten, wie "Apesar de você" (1970) und "Corrente" (1976). In dem Song "Cálice", aus dem Jahre 1973 spielte er mit dem biblischen Ausruf "Vater, lass diesen Kelch (cálice) an mir vorüber gehen", den er in "Vater, lass dieses `halt den Mund` (cale-se) an mir vorüber gehen" verwandelte. Und in dem Stück "Jorge Maravilha" von 1974 zeigte er seinen ausgeprägten Sarkasmus, indem er Anspielungen auf den General und Präsidenten Geisel machte, dessen Tochter erklärter Fan von Chico war. "Du kannst mich nicht leiden, aber deine Tochter mag mich." Zahlreiche Lieder wie auch das Theaterstück "Calabar" wurden zensiert. Damit seine Stücke leichter durch die Kontrolle gelangen konnten, erfand er das Pseudonym Julinho de Adelaide. Bis ein 1975 in der Zeitung Jornal do Brasil veröffentlichter Artikel das Geheimnis lüftete.

In dieser Zeit versöhnte er sich mit den Tropicalisten und trat mit Caetano Veloso gemeinsam auf. Sein verstärktes politisches Engament äußerte sich auch in Aufnahmen, die er mit Milton Nascimento für die Landlosenbewegung MST realisierte. Zu dieser Zeit arbeitete er ebenfalls verstärkt mit dem Medium Film und Theater. Er übernahm Rollen in "Quando o carnaval chegou", einem Film von Cacá Diegues aus dem Jahre 1972, und in "O mandarim". Chico schrieb weitere Theaterstücke mit starker politischer Tendenz: "Calabar" (1973), gemeinsam mit dem Filmemacher Ruy Guerra, "Gota d`água", (1975), eine Gemeinschaftsarbeit mit Paulo Pontes und die "Ópera do malandro", eine Bearbeitung der "Dreigroschenoper" von Berthold Brecht, mit der er 1978 zusammen mit Kurt Weill den Prêmio Molière-Theaterpreis ergatterte. Zudem schrieb er Filmmusiken für "Vai trabalhar vagabundo", "Bye Bye Brasil", "Eu te amo" und zusammen mit Milton Nascimento für "Dona Flor e seus dois maridos". 1984 schrieb er mit Francis Hime das Lied "Vai passar" ("Es geht vorüber"), das zur Hymne der Redemokratisierungsbewegung Diretas já wurde.

Mit dem Ende der Militärdiktatur 1985 verlor Chico ein wenig die künstlerische Orientierung. Während des Regimes war er sicherlich nicht der am meisten verfolgte Künstler gewesen, war niemals festgenommen worden, und das Exil in Italien hatte er sich freiwillig auferlegt. Aber aufgrund seines "Junge von nebenan"-Images und seiner Abstammung aus einer der angesehendsten Familien Brasiliens, erreichte sein zeitweiliges Verbot eine ungeheure Dimension.

Und niemals verkaufte er so viele Platten wie in der Zeit der Diktatur. Jetzt musste er seine Rolle als junger Held aufgeben und das "Danach" meistern, den Kampf gegen die harte und unnegierbare Realität austragen, sich den Enttäuschungen der "verlorenen Utopien" der Postdiktaturphase stellen. Mit dem Album "Chico Buraque" aus dem Jahre 1989 zeigte er sich als gereifter Künstler. Doch sein eigener immer höherer Anspruch, sein Perfektionismus und die neue künstlerische Unsicherheit, sowohl beim Komponieren wie auch auf der Bühne, beeinträchtigten immer mehr seine musikalische Produktivität. Von 1987 bis 2004 veröffentlichte er nur 4 Alben mit neuem Material. Stück für Stück verschob sich seine Kreativität von der Musik hin zur ernsthaften Literatur. Zugleich wurde er immer reservierter und verschloss sich vor der Öffentlichkeit.

1991 veröffentlichte er sein erstes "ernsthaftes" Buch, "Estorvo", die Geschichte eines Mannes, der sich in seiner Umgebung nicht mehr wohl fühlt. Das gleiche Thema nahm er in seinem zweiten Buch "Benjamim" aus dem Jahre 1995 wieder auf, das 2003 von Monique Gardenberg verfilmt wurde. Im gleichen Jahr erschien sein drittes Buch, "Budapeste", das von einem Ghostwriter handelt, der für andere Autoren Gedichte, Reportagen und Autobiografien verfasst, und der sich plötzlich, aufgrund einer technischen Panne seines Flugzeugs, in Budapest wieder findet. Dort verliert er sich in der Fremde der Stadt und beginnt, sich selber in verschiedenen Identitäten zu sehen, in einem Paralleluniversum aus Träumen und Albträumen. Kann es sein, dass Chico heute eher dieser Figur voll Unruhe und Unbehagen gleicht als der des netten Jungen von nebenan der 60er Jahre oder dem Rebell der 70er? In einem Interview erklärte Chico, dass er neidisch auf seinen Freund, den Schriftsteller Rubem Fonseca, sei, der sich vollkommen unerkannt durch die Straßen von Rio de Janeiro bewegen könne.

Bis heute haben sich seine drei Bücher "Estorvo", "Benjamim" und "Budapeste" schon mehr als 435.000 mal verkauft. Und 2005 wird "Budapeste" in weiteren 15 Ländern veröffentlicht werden. Die englische Version wird am 10. Juli für zusätzliche Aufmerksamkeit sorgen, wenn der US-amerikanische Schriftsteller Paul Auster auf dem Internationalen Literaturfestival FLIP in Paratí aus dem Werk liest.


Ebenfalls im Juli öffnet eine audiovisuelle Ausstellung über Chicos Leben in der Biblioteca Nacional von Rio de Janeiro ihre Pforten. Auch wenn es ihm sicherlich lieb wäre, er schafft es einfach nicht, sich dem Interesse der Medien und der Öffentlichkeit zu entziehen.

Mit seinen sechzig Jahren genießt er es, mit seinen besten Freunden Fußball zu spielen oder am Strand spazieren zu gehen, von Leblon bis zum Arpoador, wo er es liebt, durch die Wellen zu tauchen. An seinem Geburtstag floh er vor der Öffentlichkeit nach Paris. Er will einfach sein Privatleben leben, ungestört und außerhalb der Schlagzeilen. Viele halten ihn deshalb für schüchtern. Aber sein Vater Sérgio erklärte schon 1968, dass Chico "vom Publikum oftmals als schüchtern empfunden wird. Als netter, zurückgezogener Junge. Aber er ist nichts von alledem. Wenigstens in seiner Familie und mit seinen Freunden ist er ganz anders. Ein Scherzvogel, extrovertiert, der sich richtig gehen lassen kann. Wenn er in der Öffentlichkeit auftaucht, verändert er sich. Vielleicht aus Angst, lächerlich zu wirken…". Seine Schwester Ana wundert sich: "Chico, ein schüchterner Junge? Genau das Gegenteil ist wahr. Er war früher immer ein Vollstrecker und Scherzkeks. Heute ist er viel reservierter, was natürlich etwas anderes ist als schüchtern zu sein." Und Miúcha, seine andere Schwester, fügt hinzu: "Diese Sache mit so viel Erfolg schon als junger Mann hat ihn wohl etwas zurückgezogener und reservierter werden lassen."

Der Chico von heute ist immer noch schön. Natürlich hat die Zeit Narben hinterlassen, an der Seele wie auch am Körper. Aber etwas hat sich in all den Jahren nicht verändert: diese unglaublichen Augen.

Brief an Chico (Tom Jobim, 1969)

Chico Buarque, mein Nationalheld
Chico Buarque, Genie unserer Rasse
Chico Buarque, Rettung für Brasilien...

Du bist soviel, dass es gar nicht alles hierhin passt
Erfinder, Bewahrer, reinkarniert, wiedergeboren
Meister der Sprache
Schwarze Haare
Augen eines wilden Katers
der abstammt von den großen Wildkatzen des Waldes
Grün-blaue, leuchtende Augen
Dein unvergessliches Lächeln
Oh, Francisco, unser lieber Freund
Deine Fußballschuhe gehen eine Straße aus Staub und Hoffnung hinunter.

Text: Thomas Milz mit der Unterstützung der hervorragenden Webpage www.chicobuarque.com.br
Fotos: amazon.de

Discografie:
Seine frühen Werke, veröffentlich zwischen 1966 und 1985, mit insgesamt 21 CDs, finden sich in der Box "Construção", die 2001 veröffentlicht wurde. Seine späteren Alben, veröffentlich in den Jahren 1987 bis 2004, sind in der Box "Francisco" zusammengefasst, die zu Chicos 60. Geburtstag erschienen ist. Sie umfasst 12 CDs und 2 DVDs.


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