caiman.de 01. ausgabe - köln, januar 2002

Schamanismus

Die uralte Tradition des Schamanismus stößt in der heutigen Zeit auf immer größeres Interesse. Gleichzeitig ist viel von dem Wissen über Funktion und Rituale des Schamanismus verloren gegangen und stellt daran interessierte Menschen vor ein Problem. Dieser Artikel befasst sich mit grundlegenden Elementen der schamanistischen Tradition und des dazugehörigen spezifischen Glaubenssystems, einem wesentlichen Bestandteil der Kultur vieler indigener Völkern Süd- und Mittelamerikas.

Ursprünglich stammt der Begriff Schamane aus der Sprache der Ewenken, tungusisch sprechende Jägern und Rentierhirten in Sibirien. Er wurde dort für das religiöse Oberhaupt der Region verwendet, der mit Hilfe spiritueller Ekstase in normalerweise nicht wahrnehmbare Wirklichkeiten der geistigen Welt gelangen konnte.
Im Laufe der Zeit hat sich die Verwendung des Begriffs ausgeweitet, Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in Nordamerika bereits alle Medizinmänner und –frauen als SchamanInnen bezeichnet. In der heutigen Zeit werden darunter all jene Personen verstanden, die in irgendeiner Form Kontakt zu anderen Bewusstseinsebenen haben und in der Lage sind, mit dort existierenden Phänomenen zu kommunizieren.

Seelenglaube
Voraussetzung für schamanistische Handlungen ist der Seelenglaube, d.h. der Glaube an die Existenz einer körperunabhängigen Seele, die den Körper nach dem Tod verlässt oder auch zu Lebzeiten verlassen kann. Dieser Seelenglaube ist bereits für die Neandertaler (Homo sapiens primigenius) des Mittelpaläolithikums (ca. 200 000 – 40 000 v. Chr.) nachgewiesen. Ihre Art der Bestattung weist darauf hin, dass schon damals an eine Existenz nach dem Tod geglaubt wurde. In der Jäger- und Sammlerkultur des späteiszeitlichen Jungpaläolithikums (Homo sapiens sapiens, ca. 40 000 – 10 000 v. Chr.) waren Fruchtbarkeit und Jagderfolg elementare Bestandteile des Lebensablaufs. Der Erfolg dieser angestrebten Ziele wurde durch kultische Handlungen oder das Tragen von Talismanen beeinflusst, worauf Funde von so genannten Venusstatuetten und Höhlenmalereien hinweisen. Auch Tieropfer sind erstmals für diese Zeit wissenschaftlich belegt.

Das schamanistische Weltbild
Der Schamanismus setzt eine dualistische Weltanschauung voraus, die zwischen dem unmittelbar erlebbaren Diesseits und dem im Hintergrund stehenden jenseitigen Bereich unterscheidet. Dort wohnen nach schamanistischem Verständnis neben den Seelen verstorbener Lebewesen auch unsterbliche Geist- und Elementarmächte, die alles Geschehen auf Erden beeinflussen.

In jedem Glaubenssystem ist das Verständnis für Geister eines der grundlegenden psychologischen und theologischen Probleme. Im schamanistischen Weltbild existieren unterschiedliche Kategorien und Geister mit individuellen Namen, Funktionen und Erscheinungsformen. Der „Geist“ oder das Wesenhafte der Erscheinungen ist im Prinzip das, was die Flasche zur Flasche und das Tier zum Tier macht. Alles, was existiert – Sonne, Mond, die Elemente, Bäume, Steine, jedes Lebewesen, Werkzeuge oder Bücher – kann nach schamanistischem Glauben eine Art Seinsgefühl besitzen, welches dem menschlichen Bewusstsein ähnelt, aber keine Ausdrucksform durch Sprache gefunden hat: das Jenseits.


Definition
Schamanismus ist keine einheitliche Religion, sondern eher eine Kultur übergreifende Form religiöser Wahrnehmung. Es existieren keine fest geschriebenen Regeln oder Dogmen, welche richtiges oder falsches Handeln unter der Doktrin des Schamanismus definieren. Aufgaben und Praktiken der Schamanen ähneln sich jedoch weltweit, so dass einige allgemeingültige Aspekte des Schamanismus bestehen.

Ein Schamane ist ein Heiler und geistiger Führer einer Gemeinschaft. Seine Hauptaufgabe besteht im Heilen schwerer, Leben bedrohender Leiden, die häufig psychischer Natur sind. Weitere Aufgaben sind seit jeher der Erhalt der Nahrungsquellen, die Sicherung des Jagderfolgs und Hilfe bei Unfruchtbarkeit. Obwohl der Schamane ein so hoch angesehenes Mitglied seiner Gesellschaft ist, nimmt er am normalen Tagesablauf genauso teil wie die anderen Gruppenmitglieder und verrichtet seinen Teil der Arbeit innerhalb der Gemeinschaft.

Grundsätzlich gehen Schamanen davon aus, dass die Seele den Körper auch zu Lebzeiten schon verlassen kann. Häufig wird davon ausgegangen, dass der Mensch mehr als eine Seele besitzt. Nämlich diejenige, die das Bewusstsein repräsentiert, und diejenige, welche die Körperfunktionen aufrechterhält. Traditionell trägt der Schamane die Verantwortung für die körperliche und seelische Verfassung der Stammesmitglieder und der Gemeinschaft als ganzes. Lediglich er hat Zugang zu dem seit Generationen weitergegebenem Wissen, und nur er besitzt die Fähigkeit, sich mittels eines Rituals (auch körperliche Todeserfahrung) in einen anderen Bewusstseinszustand, der auch als Trance oder Ekstase bezeichnet wird, zu versetzen und so durch Seelenwanderung in Kontakt mit der Geisterwelt und der anderen, unsichtbaren Wirklichkeit zu treten.
Die Arbeit als Schamane ist psychisch eine hohe Belastung, mit einem konstanten Risiko zu Krankheit und Tod, auch wenn der Schamane unter kontrollierten Bedingungen Seelenwanderungen unternimmt.

Ein Ritual ist eine religiöse Handlung, die einen festgelegten Ablauf vorschreibt. Dieser Ablauf hilft Menschen, sich innerlich in einen Zustand zu versetzen, der ihnen den Zugang zum Unbewussten und der nicht sichtbaren Welt ermöglicht. Vorgeschriebene Abläufe wurden und werden nach wie vor in Form von Gebeten, Gebetsmühlen, Rosenkranz, Wallfahrten usw. auf der ganzen Welt zelebriert.






Berufung
Da der Schamane in der Lage sein muss, jederzeit einen Kontakt zur jenseitigen Welt herzustellen, muss er über mehr als gewöhnliche Fähigkeiten verfügen. Aus diesem Grund kann man nicht selber wählen, ob man Schamane werden will oder nicht. Es erfolgt eine Art Berufung, die manchmal schon durch Geburt, häufig jedoch erst später oftmals durch eine schwere Krankheit sichtbar wird. Die Krankheit hat die Funktion des Lernens und Verstehens, um später den Ursprung von Krankheit und Unglück bekämpfen zu können. Die Berufung hat meist eine vollständige Fragmentierung der alten Persönlichkeit zur Folge. Die neuen Erfahrungen und die Verinnerlichung des schamanistischen Weltbildes werden dann in die neue Persönlichkeit integriert.
Für den zukünftigen Schamanen erfolgt nach der Annäherung an die Geisterwelt eine Phase der Schulung und Unterweisung, durch ältere Schamanen und Hilfsgeister.

Neo-Schamanismus
In der heutigen Zeit erfreut sich die Form des Neo-Schamanismus, auch Core-Schamanismus genannt, immer größerer beliebter. Hierbei werden die Grundprinzipien des Schamanismus übernommen, jedoch auf die heutige Zeit übertragen. Die Menschheit steht an einem Punkt, der eine Neuorientierung der Beziehung zu ihrer Umwelt erfordert. Das Wissen dazu war und ist vorhanden. Es setzt sich zusammen aus den alten Weisheitslehren der Naturvölker verbunden mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft. Der ganzheitliche Denkansatz, nach der das Universum als lebendiges Wesen verstanden wird, bildet das Fundament. Hiernach besitzt die Erde viele Bewusstseinschichten, wovon eine der Mensch ist. Damit der Mensch seine globale Eingebundenheit in den Gesamtkörper der Erde ganzheitlich begreift, gibt es die Schamanen bzw. den Schamanismus. Sie versuchen, durch ihre Fähigkeiten an den anderen unsichtbaren Schichten und Wirklichkeiten teilnehmen zu können, das Verhältnis zwischen dem Weltbewusstsein und der individuellen Entwicklung immer wieder neu abzustimmen.

Heute gibt es auch in unserem Kulturkreis viele Männer und Frauen, die Schamanen sind und meist im Verborgenen wirken. Doch oftmals halten sie ihre Fähigkeiten geheim. Inzwischen hat die WHO anerkannt, dass schamanistische Heilrituale von gleicher Wirksamkeit wie die der Schulmedizin sein können. Immer häufiger arbeiten weltweit Ärzte mit Schamanen zusammen.


KRISTINA WILLENBORG