logo caiman
caiman.de archiv
 

Argentinien: 20 Jahre Demokratie

Wie konnte es geschehen, dass Argentinien vom sechsten Platz unter den wohlhabenden Nationen, die es im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts eingenommen hatte, auf den Status eines "unterentwickelten" Landes zurückfiel? Dass dort die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt und Hunderttausende von Kindern Hunger leiden, obwohl Argentinien mit seinem fruchtbaren Boden das Zehnfache seiner 37 Millionen Einwohner ernähren könnte?

Die vereinigten Provinzen des Rio de la Plata erklärten1816 ihre Unabhängigkeit, doch erst nach jahrzehntelangen Wirren wurde 1853 eine liberale Verfassung verabschiedet. Dennoch blieb die Bevölkerung den kolonialen Strukturen verhaftet – die von den Idealen der Französischen Revolution inspirierte Verfassung blieb ihr weitgehend fremd. Noch heute tut man sich schwer mit der Gewaltenteilung und der Gleichheit vor dem Gesetz und richtet oftmals seine Hoffnungen auf die magischen Kräfte einer Vaterfigur.

Die junge Republik verwandelte sich ab 1880 in ein Einwandererland, bevorzugt vor allem von Spaniern und Italienern. 1916 fanden zum ersten Mal in der argentinischen Geschichte wirklich freie Präsidentenwahlen statt. Die Löhne waren niedrig, die Arbeitsbedingungen nicht immer ideal, aber Arbeitslosigkeit oder bittere Armut waren praktisch unbekannt, und die Aufstiegsmöglichkeiten des Tüchtigen nahezu uneingeschränkt. Der Analphabetismus war der niedrigste, die gesellschaftliche Mittelschicht die stärkste und gebildetste ganz Lateinamerikas.


Diese Entwicklung wurde 1930 unterbrochen, als eine durch Wirtschaftskrisen geschwächte Regierung von Generälen weg geputscht wurde. Die folgenden Wahlen brachten eine konservative Regierung ans Ruder. Seit damals pendelt das wirtschaftliche Geschehen zwischen extremem Liberalismus und Dirigismus, die Politik zwischen Konservativismus und einem als Demokratie verkleideten Populismus verschiedener Schattierungen. Eine sozialistische Partei konnte nie richtig Fuß fassen.

Die verpasste Sternstunde
Vom Zweiten Weltkrieg profitierte Argentinien: Es belieferte die halbe Welt mit Weizen, Leder und Fleisch. Trotzdem verpasste das Land in den vierziger Jahren seine mögliche Sternstunde. Das mit der Industrialisierung entstehende Proletariat bildete den Nährboden für die Demagogie eines allfälligen Volksverführers. Der stellte sich auch prompt in der Gestalt des Obersts (später Generals) Perón ein. Aus einem 1943 erfolgten Staatsstreich hervorgegangen, beherrschte er ab 1946 als gewählter Präsident die politische Szene Argentiniens: ein faschistoider, von den "hemdlosen" Massen umjubelter Machtpolitiker, der den Einfluss der ihm hörigen Gewerkschaften ausbaute, die Opposition verfolgte, das Parlament entmachtete und die öffentlichen Gelder verschleuderte. Er verschreckte die Investoren, unterwarf die Wirtschaft der staatlichen Kontrolle und stellte aufgeblasene Fünfjahrespläne auf. Straßen, Städte, sogar Provinzen wurden nach ihm und seiner Frau Evita benannt.

Da den konstanten Lohnerhöhungen keine steigende Produktivität gegenüberstand, kam es zu einer galoppierenden Inflation, die das Wirtschaftsgefüge sprengte.

Perón wurde 1951 von den Massen, die ihm ihr erwachtes Selbstgefühl verdankten, wieder gewählt, aber 1955 von den Militärs abgesetzt. Er floh ins komfortable Exil, von dem aus er weiter intrigierte. Geld hatte er genug beiseite geschafft. Dass ihn ausgerechnet die Linke noch heute als Galionsfigur benutzt, entbehrt nicht der Ironie. Zwischen 1958 und 1983 wurden gewählte, aber meist schwache Präsidenten immer wieder von Militärs aus dem Amt gejagt. Nach einem Zwischenspiel mit dem aus dem Exil wieder aufgetauchten General Perón (1973-74) und dessen indiskutabler Witwe, Maria Estela (1974-76), führten terroristische Verbände bürgerkriegsähnliche Zustände herbei: Kasernen, Fabriken und Restaurants wurden überfallen, unbeteiligte Bürger niedergemetzelt.

Als eine Militärjunta 1976 diesem Chaos ein Ende bereitete, atmete die Bevölkerung zunächst erleichtert auf. Allerdings zeigte sich bald, dass man den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben hatte. Das Parlament wurde aufgelöst, alle Parteien und Gewerkschaften verboten, der Justizapparat durch Ausnahmegesetze unterlaufen, sinnlose Konflikte mit Chile und Großbritannien heraufbeschworen, echte und angebliche Terroristen blutig verfolgt. Zehntausende meist junger Menschen verschwanden spurlos.

Nach dem Fiasko des "Malvinen"-Krieges gegen Großbritannien mussten die Generäle endlich abtreten. Aber weder der 1983 gewählte Präsident Alfonsín von der Radikalen Partei noch sein peronistischer Nachfolger Menem (ab 1989) wurden mit der Dauerkrise fertig. Unter Menems Führung versank das Land in einem Morast der Korruption. Unaufgeklärte Attentate und Mordtaten, Waffenschmuggel, Geldwäsche, Schmiergeldaffären in den höchsten Kreisen und die systematische Beugung der Gesetze gehörten genauso zum Stil seiner Regierung, wie die wilde Privatisierung der vom Staat schlecht verwalteten Dienstleistungsbetriebe. Sein "neoliberales" Wirtschaftsprogramm trieb viele Industrien in den Konkurs und förderte dadurch die Arbeitslosigkeit. Der Export erlahmte. Es war billiger, Äpfel aus Neuseeland, Nudeln aus Italien oder Leder aus Indien zu beziehen, als sich einheimischer Erzeugnisse zu bedienen. Nach zehnjähriger Regierung wurde Menem 1999 durch De la Rúa von der Radikalen Partei abgelöst, der den vorgefundenen Zuständen hilflos gegenüberstand. Als die Stunde der Wahrheit schlug, die Bankkonten eingefroren und der Peso um zwei Drittel abgewertet wurde, kamen Hunderttausende um ihre Ersparnisse und die Unternehmen um ihr Betriebskapital. Von Aktivisten angezettelte Straßenkrawalle zwangen ihn zum Rücktritt. Interimspräsidenten gaben kurze Gastspiele, bis es dem "Peronisten" Duhalde gelang, das Land einigermaßen ins Lot zu bringen und den Weg für die Wahl des aktuellen Präsidenten Kirchner freizumachen.

Hoffnungsträger Néstor Kirchner?
Kirchner verdankt seinen Posten den Launen der argentinischen Politik. Bis vor Kurzem war er nichts weiter als der Gouverneur einer relativ unbedeutenden Provinz in Patagonien, ohne eigenes Gewicht auf nationaler Ebene. Sowohl er wie seine Frau, die Senatorin Cristina Fernández, entstammen den Kreisen der seiner Zeit von den Militärs verfolgten, sozial engagierten "Jungperonisten".

Er genießt den Ruf der Integrität und pflegt einen bescheidenen Lebensstil - zwei Eigenschaften, durch die er sich angenehm von dem korrupten, mit orientalischem Prunk auftretenden Carlos Menem unterscheidet. Der ließ nichts unversucht, um seinem Rivalen Steine in den Weg zu legen. Trotzdem bescheinigten die Meinungsumfragen Kirchner im Dezember 2003 das Vertrauen von etwa 85 Prozent der Argentinier! Aber erst wenn er die ihm noch bevorstehenden Machtproben im Kongress, bei den Partei- und Gewerkschaftsbonzen, den Bank- und Industrieverbänden bestanden hat, kann er eine Volkstümlichkeit beanspruchen, die mehr darstellt als die wankelmütige Hoffnung auf den Weihnachtsmann.

.
Begrüßenswert ist der Elan, mit dem er sich in den Kampf gegen die Korruption stürzt. Dass er sich darum bemüht, den verrufenen Obersten Gerichtshof mit unabhängigen Richtern neu zu besetzen und die nicht weniger verrufene Polizei zu säubern, wird als positives Zeichen gewertet. Die Bewältigung der hausgemachten Probleme steht ihm noch bevor: die horrende Auslandsverschuldung, die beängstigende Unsicherheit auf den Straßen, die landesweite Bestechlichkeit, der aufgeblähte Beamtenapparat. Neue Arbeitsplätze müssen geschaffen werden. Der Wiederaufbau des daniederliegenden Erziehungs- und Gesundheitswesens muss in Angriff genommen werden, ebenso die Steuerreform und die Dezentralisierung des Landes. Dazu kommt die dringend erforderliche Modernisierung des höchst undemokratischen politischen Systems: Das "Wahlvieh" kann nur für geschlossene Listen optieren, die Finanzierung der Parteien ist undurchsichtig. Der Protest der Bevölkerung gegen dieses Zerrbild einer Demokratie kommt im ohnmächtigen Ausruf "¡qué se vayan todos!" zum Ausdruck.

Noch gehen die ungebildeten Massen dem von Perón eingeführten Populismus auf den Leim, dessen Schlagworte verschwommen genug sind, um allen etwas zu bieten. So zum Beispiel der "Justicialismo", der sich ableitet vom Begriff einer sozialen Gerechtigkeit, die sich auf panem et circenses beschränkt. Evita Perón verteilte zu Jahresende Sidra und Pan dulce (Apfelschaumwein und Weihnachtskuchen) unter "ihren" Armen. Die Stimmen der Wähler sind billig. Momentan verschenkt die Exekutive an über zwei Millionen Familienoberhäupter, die unterhalb der Armutsgrenze leben, den Gegenwert von etwa 50 US Dollar monatlich - zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Nicht alle dieser Zuwendungen gelangen an die richtige Adresse.

Der unvoreingenommene Tourist muss erkennen, dass etwas nicht stimmt in unserer unheilen Welt, wenn er die "cartoneros" beobachtet, die allabendlich das weggeworfene Verpackungsmaterial aus den Mülltonnen klauben.

Oder wenn er Kindern begegnet, die in der U-Bahn Heiligenbilder anbieten oder, mit kleinen Ziehharmonikas ausgestattet, das Mitleid der Passanten erregen wollen, anstatt regelmäßig die Schule zu besuchen. Allzu krass ist der Kontrast zur Pracht der Shopping Malls, zu den gut besuchten Luxusrestaurants oder zu den protzigen Villen in den von hohen Mauern umgebenen Countryclubs. Um wirklich soziale Gerechtigkeit zu ermöglichen, sind verantwortungsvolle Politiker und ein langfristiges Programm erforderlich.

Immerhin - allmählich kommt der Wirtschaftsapparat wieder in Gang, wenn auch um den Preis einer steigenden Inflation: Der Export hat sich in kurzer Zeit vervielfacht, die Bautätigkeit und der jahrelang vernachlässigte Tourismus ziehen an, die Steuereinnahmen nehmen zu. Es liegt in der Luft: Trotz der täglichen Demonstrationen scheint sich der Gemütszustand der Bevölkerung langsam zu ändern und einem vorsichtigen Optimismus zu weichen.

Wenn sich Kirchner als der Katalysator erweist, der diese Kräfte aktivieren kann, dann kann das Land in kürzester Zeit den Aufschwung erleben, um den es durch die unheilvolle politische Entwicklung ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts betrogen wurde. Wenn...

Text: Robert Schopflocher
Fotos: amazon.de

Dieser Artikel ist erschienen in der aktuellen Matices. Diese erhaltet ihr bei:
Projektgruppe Matices e.V., Melchiorstraße 3, 50670 Köln, Tel.: 0221-9727595

Weitere Artikel zu Argentinien findet ihr im Archiv.







 
Archiv
nach




© caiman.de - impressum - disclaimer - datenschutz pa´rriba