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[art_4] Brasilien: Literatur von der Leine

In Bezerros, Pernambuco, wo sich heiße Luft aus dem Sertão mit kalter aus den Bergen mischt, atmet sich der Wind, wie sich ein Kakao trinkt, der nur ganz kurz in der Mikrowelle war. Der arme Mensch, der noch nie einen Kakao nur ganz kurz in die Mikrowelle gestellt hat, kann mit diesem Vergleich nichts anfangen. Die anderen aber müssen jedenfalls des Windes wegen nicht mehr nach Bezerros fahren, weil sie das Gefühl ja schon kennen.

Warum dann die Reise auf sich nehmen? Der Ort ist alles andere als beschaulich, auch wenn einem die eine oder andere touristische Broschüre etwas anderes glauben machen will. Ein paar Häuser links und rechts der vielspurigen Bundesstraße, keine Bäume, kein Schatten, viel Asphalt - auch die vereinzelt zaghaft vertretene koloniale Architektur kann da nicht mehr viel rausreißen.


Aber ein zweiter Blick lohnt sich. Zum Beispiel - wenn es ein Blick ist, der absurde Momente zu schätzen weiß - auf den aus Werbungsgründen auf vier Metern Höhe zur Hälfte in der Wand einer Autowerkstatt versenkten gelben VW-Käfer. Oder aber - wenn es Kulturgeschichte ist, die er sucht - in die Werkstatt von José Borges, seines Zeichens cordelista von Rang und Namen.

Es ist kühl und schattig in dem luftigen alten Haus in den Ausläufern der Stadt, es riecht nach feuchter Farbe und trockenem Holz. Und die Werkstatt ist bevölkert mit Fabeltieren, Banditen, Teufeln, mit bauernschlauen Trotteln, dummen Politikern und sprechenden Eseln - mit Geschichten. Unter der Decke sind kreuz und quer Schnüre gespannt, an denen sie in frischen Drucken trocknen, die Wände sind mit unzähligen Druckstöcken behängt, von denen sie herunterschauen. Dazwischen sitzt ihr Vater José. Eduardo Galeano schreibt über ihn, dass er selbst wie einer seiner Holzschnitte aussieht. Das wäre natürlich irgendwie schön; ich kann das nicht wirklich bestätigen, aber der geneigte Leser kann sich das ja der Poesie halber gerne so vorstellen. José Borges ist Geschichtenerzähler und ein Vertreter eines Handwerks, von dem man vermutet, dass es sich um die Fortsetzung der Tradition der reisenden Troubadoure des feudalen Europa handelt; die literatura do cordel, die Literatur von der Leine.

In jüngeren Jahren machte José alles alleine: Er schrieb die gereimten Texte und setzte sie mühsam von Hand, aus bleiernen Buchstaben, die zusammen mit der 150-jährigen Druckerpresse vor langer Zeit aus Deutschland kamen. Er schnitzte die Holzschnitte für die Titelbilder, druckte und band seine Heftchen, schulterte ein paar Stapel und zog von Markflecken zu Markflecken, wo er seine Geschichten an Schnüren aufgereiht feilbot.


Die Poesie von der Leine erzählt die großen Mythen des Sertão in alten und neuen Variationen, kommentiert aber auch mit spitzer Zunge die Tagespolitik und nötigenfalls Fußballspiele, stets in Reimen: "Der Mann, der eine Eselin heiratete", "Die Rückkehr des Banditen Lampião übers Internet", "Bundesstaaten und Hauptstädte", "Brasil sil sil, fünffacher Weltmeister 2003" und "Der schmerzensreiche Streit des Osama Bin gegen Bush".

Der Krieg von Canudos an der Wende zum 20. Jahrhundert, in dem die brasilianische Regierung ganze Regimenter gegen den Wanderprediger Antônio Conselheiro und seine völlig verarmten Anhänger im tiefsten bahianischen Hinterland schickte und diese erst nach mehreren Anläufen erfolgreich restlos niedermetzeln konnte, war das erste große Ereignis brasilianischer Geschichte, das seinen Niederschlag in den Cordel-Heftchen fand - und zwar lang bevor diese wenig ruhmreiche Episode in den Geschichtsbüchern auftauchte.

In Zeiten, in denen Nachrichten noch nicht durch Fernseher ins Hinterland kamen und die wenigsten Menschen Zeitungen lesen konnten, boten die cordelistas, die in einem auf- und abschwellenden Singsang ihre Verse rezitierend auf den Märkten zu finden waren, eine wichtige Quelle von Informationen über das Geschehen im Lande ebensosehr wie willkommene Unterhaltung.

Heute werden sie manchmal zu renommierten Künstlern. Der inzwischen in Ehren ergraute José Borges ist unter Folklore-Forschern an Universitäten oder unter Besuchern von Volkskunst-Ausstellungen in Brasília und gar New York und Paris bekannter als unter den Bewohnern des Hinterlandes, von denen nicht wenige zwar immer noch nicht lesen können, denen aber heute Fernseher dabei helfen, über Fußballspiele und Osama Bin informiert zu sein.

Die Themen der Heftchen sind im Laufe der Zeit urbaner geworden - es ist jetzt ein eher städtisches, gebildeteres und kein besonders großes Publikum auf der Suche nach einer brasilianischen Identität, das sich für die literatura do cordel interessiert.

Mit großer Nonchalance erzählt Borges, wie man ihn in Paris mittelmäßig behandelt hat, in New York gut und in Texas am allerbesten, wie er die Amerikaner mag und die Franzosen nicht; wie der als Musiker mindestens genauso sehr wie als Kulturminister bekannte Gilberto Gil und der weltberühmte Autor Eduardo Galeano ihn zu seinen Freunden zählen. Borges erzählt immer noch gerne, mit einer Art von großväterlicher, kauziger Großspurigkeit, die man ihm gar nicht übel nehmen kann, und man möchte ihm stundenlang zuhören.

Seine Söhne - waren es sechs oder sieben? - sind ihm allesamt in seinem Handwerk gefolgt und haben erfolgreiche eigene Versionen des borgesianischen Stils entwickelt. Von Markt zu Markt wandern die Borges heute allerdings nicht mehr. Die Bilder und Heftchen, die sich in der Werkstatt stapeln, verkauft José nun vor allem an Sammler, Touristen und nicht zuletzt an halbseriöse Reiseschreiber wie mich. Die Literatur von der Leine ist eine Volkskunst geworden, für die sich das Volk nicht mehr recht interessiert.

Ob deswegen aber Wehmut angebracht ist, ist eine andere Frage. José jedenfalls fühlt sich sichtlich wohl in seiner Rolle als internationaler Botschafter brasilianischer Volkskultur und scheint den alten Zeiten nicht großartig nachzutrauern. Und Traditionen, die sich nicht verändern und an neue Zeiten anpassen, sind vielleicht von vornherein zum Scheitern verurteilt - und mit Sicherheit weniger interessant, finde ich jedenfalls.


Wer sich nun weder des kaltwarmen Windes, noch des halben VW-Käfers, noch der hübschen kleinen Heftchen wegen auf den Weg nach Bezerros machen, aber doch einen Blick auf die Bilderwelt von José Borges werfen möchte, dem sei die Geschichtensammlung "Wandelnde Worte" von Eduardo Galeano ans Herz gelegt - ein wunderschön gemachtes Buch, das vom Meister illustriert wurde und darüber hinaus von fast so vielen Fabelwesen und Banditen, Helden und Schurken handelt, wie sie in der Werkstatt im brasilianischen Hinterland von Wand und Decke hängen.

Text: Nico Czaja
Fotos: Ronaldo Moura + Nico Czaja

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