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[art_3] Peru: Inkas im Outdooroutfit
 
Der Wecker klingelte um 3:30 Uhr, zur unmenschlichsten aller Stunden. Mit müden Augen verließen wir unser Hostal in Aguas Caliente und folgten ein paar Bahngleisen, die in die pechschwarze Nacht führten. Erst nachdem wir fast von einem Zug überfahren worden waren, bemerkten wir, dass der richtige Weg doch nicht auf den Schienen lag. Orientierungslos und schlaftrunken blickten wir zum tosenden Urubamba hinunter, der ein Dutzend Meter unter uns durch das Tal floss. Da sahen wir sie: Gruppen von Leuchtkegeln in der Dunkelheit, die geschwinden Schrittes auf einer asphaltierten Straße am Fluss entlang eilten.



Wenig später befanden auch wir uns auf der Straße und konnten kaum glauben, dass wir sie zunächst nicht gefunden hatten. Alle paar Meter wurden wir von Menschen in stylischen Outdoorklamotten überholt, die mit ihren Stirnlampen und Wanderstöcken eher zu die Olympischen Spiele als zu einer Nachtwanderung zu passen schienen. Instinktiv fragten wir uns, was diese Menschen hier eigentlich machten, so mitten in der Nacht in diesem tropisch anmutenden Nebelwaldtal. Wahrscheinlich wollten sie genau wie wir ein bisschen wie die Inkas sein, wie diese über steile Stufen auf Berge kraxeln, Natur erleben und Pachamama huldigen. Und da das Tal, das wir durchquerten, kein gewöhnliches und die Ruine, zu der wir aufsteigen wollten, keine unbekannte war, befanden wir uns in Begleitung einer Menge anderer Leute. Tausende um genau zu sein. Schließlich war das da oben auf dem Berg das weltberühmte Machu Picchu, das vermutlich in Wahrheit ganz anders hieß, aber eben von Archäologen irgendwann mal  Machu Picchu getauft wurde. Die Berühmtheit dieser am besten erhaltenen Ruine der Inkas und die fünftausend Touristen, die die Anlage jeden Tag besuchen, waren dann auch der Grund für unser frühes Aufstehen gewesen. Etwas naiv hatten wir gehofft, damit den Massen zuvorkommen zu können.

Nachdem wir zwanzig Minuten am Ufer des Urubamba entlang gegangen waren, kamen wir an eine Brücke. Auf der anderen Seite des Flusses begann der Aufstieg zur Ruine. Die Uhr zeigte 4:15. Zu unserem Erstaunen sahen wir, dass sich eine Menschentraube vor der Brücke versammelt hatte - all jene Übereifrigen, die uns überholt hatten. Nun erfuhren wir auch den Grund, warum ihr Marsch hier ein vorläufiges Ende gefunden hatte: Vor kurzem war ein Tor an der Brücke installiert worden, das erst gegen 5:00 Uhr seine Pforten öffnet.

Der erste Touristenbus aus dem Tal fährt um 5:30 Uhr los und braucht 25 Minuten bis zu den Toren Machu Picchus. Selbige öffnen sich um Punkt 6:00 Uhr. Für den Aufstieg benötigte man etwa eine Stunde. Das neue Tor am Fluss sollte also wohl sicherstellen, dass die eifrigen Wanderer nach den bequemen Busreisenden ankommen. Passenderweise konnte man mit den Busreisenden sechs Dollar verdienen - und mit den Wanderern nichts. Leicht verärgert über diese Schikane waren wir verwirrt, dass niemand um uns herum diese Einsicht zu teilen schien. Stattdessen wurden Parolen wie "Let the race begin! High Five!" ausgetauscht.



Man mag sich fragen: warum überhaupt die Eile? Die Antwort lässt sich in zwei Wörtern zusammenfassen: Wayna Picchu. Auf diesen Gipfel, der einige hundert Meter über der Ruine von Machu Picchu thront, dürfen täglich nur 400 Leute steigen - eben jene, die zuerst das Gelände betreten. Deswegen das frühe Aufstehen. Deswegen die Menschen mit ausgeklügelter Wanderausrüstung. Deswegen unser verstärkter Unmut über die Sabotage des Busboykotts.

4:55 Uhr schließlich wurde das Tor an der Brücke geöffnet. Mehrere hundert Sportfanatiker stürmten durch das Nadelöhr - und verwandelten sich größtenteils innerhalb weniger Minuten in schnaufende Schweissmonster, die offenbar ihre Kräfte überschätzt hatten. Uns Heidelberger erinnerte das Spektakel etwas an den Gang zur Thingstätte in der Walpurgisnacht, nur mit weniger Betrunkenen und mehr fanatischen US-Amerikanern.

Etwas entnervt stiegen wir also schließlich doch noch antike Stufen hinauf, die in den steilen Hang des Nebelwaldes gehauen waren. Um uns herum Menschen, die immer stiller wurden, je weiter wir stiegen. Auf halber Strecke lichtete sich das Feld und wir fühlten uns fast allein - bis auf das Klacken der Wanderstöcke auf den Stufen unter uns. Über unseren Köpfen funkelten die letzten Sterne und hinter uns verdunkelte ein riesiger Bergfelsen den Himmel, an dem bald die Sonne aufgehen sollte. Wie ein stummer Riese schien er über dem noch schlafenden Urubamba-Tal zu wachen.

Als wir gegen 5:55 Uhr am Tor von Machu Picchu ankamen, dämmerte es bereits. Durchgeschwitzt reihten wir uns in eine Schlange ein und atmeten gerade durch, als der erste Bus um die Ecke bog. Noch ehe die Busreisenden ausgestiegen waren, bekamen wir unseren Wayna-Picchu-Stempel auf unsere Eintrittskarte. Nummer 33 und Nummer 34! Das frühe Aufstehen hatte sich doch gelohnt, wir hatten es geschafft - ohne Wanderstöcke, Stirnlampe oder Touristenbus.



Machu Picchu in der Morgenröte entschädigte schließlich für die Strapazen der letzten Stunden. Gegen 6:00 Uhr befanden wir uns sozusagen allein auf der riesigen Anlage. Wir konnten uns vorstellen, wie hier vor fünfhundert Jahren das Leben erwacht war, Inkas aus ihren nach Osten ausgerichteten Fenstern geblickt und den Tag willkommen geheißen hatten.

Um 7:00 Uhr dann bestiegen wir den Wayna Picchu über steile Stufen, die zu einer irreal hoch gelegenen Wachanlage führten, auf der einst Inka-Wachposten ins 800 Meter tiefer gelegene Flusstal gespäht hatten. Spätestens jetzt hatte uns der Zauber der Ruinen in seinen Bann gezogen. Wir waren uns sicher, dass das hier beeindruckender war, als alle zuvor besichtigten Inka-Ruinen (Pisac, Ollantaytambo) zusammen.

Wir verbrachten den Rest des Tages auf der Anlage. Zwischen 10:00 Uhr und 13:00 Uhr wurde diese durchaus erwartungsgemäß von sinntflutartigen Touristenströmen überschwemmt. Wir nutzten die Zeit für ein Mittagsschläfchen in einer abgelegenen Ecke. Als wir uns nachmittags an den Abstieg machten, waren wir zwar kaputt, aber fasziniert von dieser Stätte, die uns kurz in eine Welt versetzt hatte, die so weit von unserer entfernt zu sein schien wie der Mond.

Zurück in unsere Welt katapultierte uns dann aber Aguas Caliente: Sonnenverbrannte Touristenscharen in Flipflops, die breitbeinig eine enge Fußgängerzone entlang schritten und von allen Seiten von laut auf Englisch werbenden Restaurantbesitzern bedrängt wurden. Ob sie nicht das Abendmenu für US-$ 7 wollten - Happy Hour, Happy Hour! Nachdem wir uns am Tag zuvor in eines der Restaurants hatten locken lassen und schlecht gegessen hatten, suchten wir verzweifelt nach einer Alternative zur überteuerten Massenabfertigung.

Die Inkagötter schienen unseren Hilferuf erhört zu haben, denn wir entdeckten einen kleinen Markt, an dessen Seite eine versteckte Treppe in den zweiten Stock führte. In einer Oase der Ruhe aßen hier die Einheimischen an Markständen. Den Teller mit Reis, Gemüse und Lammfleisch bereitete eine nette Marktfrau innerhalb von fünf Minuten zu. Es war das kulinarische Highlight meines Peru-Aufenthalts.



So gedachten wir der Inka, die einst 500 Meter über unseren Köpfen Kartoffeln und Kochbananen verspeist hatten, und dabei unsere Sorgen wahrhaftig für die von Marsmenschen gehalten hätten.

Text + Fotos: Robert Gast

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