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[art_1] Brasilien: Tötet die Mächtigen!
29. São Paulo Biennale - Aufregung um die Werke Gil Vicentes
 
Aufregung auf der diesjährigen São Paulo Biennale. Wer die großzügig geschwungene Rampe ins oberste Stockwerk des von Stararchitekt Oscar Niemeyer konzipierten Biennale-Gebäudes hinaufgeht, sieht sich Auge in Auge mit 10 etwa 1,5 mal 2 Meter großen Kohlezeichnungen des brasilianischen Künstlers Gil Vicente. Auf der "Inimigo" (Feind) getauften Bilderreihe ermordet der Künstler gleich reihenweise führende Persönlichkeiten des Weltgeschehens, darunter Brasiliens (Noch-) Präsident Luiz Inacio Lula da Silva, Großbritanniens Königin Elizabeth II. und Papst Bendikt XVI. Protest gegen die Provokation kam von der brasilianischen Anwaltskammer und der katholischen Kirche, doch noch immer hängen die Bilder an den Wänden des Betonbaus. Und der Verursacher freut sich über die willkommene Werbung.



Sowohl die Anwaltskammer als auch das Erzbistum, beide mit Sitz in São Paulo, taten in den letzten Tagen ihren Protest gegen die Bilder kund. Während die Anwaltsvereinigung besonders den angedeuteten Mord an Lula kritisierte, empörte sich die katholische Kirche gegen die auf Papst Benedikt XVI. gerichtete Waffe. "Die katholische Gemeinschaft ist traurig und fühlt sich angegriffen durch die Respektlosigkeit gegenüber Papst Benedikt XVI., der die Welt bereist, um seine Botschaft von Gerechtigkeit und Frieden zu verkünden", heisst es in der Stellungnahme des Erzbistums. "Gewalt gegen den Papst zu suggerieren oder sich diese vorzustellen, bereitet [uns] Traurigkeit und Empörung."

Die Anwaltskammer forderte die Kuratoren auf, die umstrittenen Werke von der Ausstellung auszuschließen. Doch der Aufruf stieß bei den Organisatoren auf taube Ohren. Was folgte, war eine in den Medien breit angelegte Diskussion über Meinungsfreiheit und darüber, was denn genau Kunst sei und was unter dem Deckmantel der Kunst erlaubt sei. Der Künstler selbst bekundet ob der Aufregung gemischte Gefühle. "All dies ist schlecht für die Biennale, weil es die Aufmerksamkeit von der Biennale selbst ablenkt", so Gil Vicente. "Für mich jedoch war dies eine wunderbare Werbung. Und zudem vollkommen kostenlos! Die Anwaltskammer jedenfalls kann sich meiner ewigen Dankbarkeit sicher sein!"



Bevor die Bilderreihe nach São Paulo kam, wurde sie bereits in mehreren Städten Brasiliens ausgestellt, doch erst hier führte sie zum "Eklat": in São Paulo überschattete die Aufregung um Vicentes Werke die Eröffnung der Biennale am letzten Wochenende. Wohl auch deshalb, weil wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen der überaus populär aus dem Amt scheidende Präsident Lula da Silva von Vicente das Messer an die Kehle gesetzt bekommt. "Diese Arbeiten sind die Früchte meiner Entrüstung über die Art und Weise, wie diese Typen die Welt führen", erklärt Vicente, die seit 2005 entstandenen Werke. Die dargestellten Personen hätten allesamt ihre Macht missbraucht, um sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen, so der aufgebrachte Künstler.

"[Kofi] Annan ließ Bush mit der UNO umspringen, wie er wollte, deshalb verdient er, dass sein Porträt Teil dieser Serie ist." Während der ehemalige UNO-Generalsekretär Annan, der ehemalige brasilianische Gouverneur Jarbas Vasconcelos und sein Nachfolger Eduardo Campos, George W. Bush, Brasiliens ehemaliger Präsident Fernando Henrique Cardoso, Queen Elizabeth II., Papst Benedikt XVI., Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad und Israels ehemaliger Premier Ariel Sharon mit einer Pistole niedergestreckt werden, wird Lula mit einem Messer bedroht. Der Mord an dem gefesselten Staatsmann sei das erste Bild der Serie gewesen. Danach, so der Künstler, kam ihm die Idee, die Waffengattung ein wenig zu variieren.



Gefragt, wieso die Bilder den Moment kurz vor den Morden zeigen, erklärt er: "Ich wollte kein Blut in meinen Bildern. Deshalb zeige ich lieber den Moment vor der Tat." Dass der Papst mit in die Bilderreihe aufgenommen wurde, habe nichts mit einer generellen Ablehnung der Religionen an sich zu tun. "Ich bin nicht gegen Religion. Aber ich bin gegen die Kirche, die die Macht hat, positiven Einfluss zu nehmen, aber das Gegenteil tut", so der Künstler. Der 1958 geborene Vicente lebt und arbeitet in Recife, im Nordosten Brasiliens. Dorthin reiste er dann auch nach der Eröffnung der Biennale , nicht ohne die Kunstwelt São Paulos verdutzt zurück zu lassen. Die 29. Biennale in São Paulo hat ihre Tore für alle Neugierigen noch bis zum 12. Dezember geöffnet.

Text + Fotos: Thomas Milz

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