caiman.de 11/2006

[kol_3] Helden Brasiliens: Adéus, Andreas. Ein Nachruf

Wie gut können zwei Menschen befreundet sein, wenn sie sich nur drei Monate kennen? Nicht besonders, wahrscheinlich. Beste Freunde sind etwas anderes.

Aber wenn man fremd ist in einer Stadt, die man nicht mag, wenn man sich alleine fühlt und weit weg von zu Hause ist, und dann taucht da ein Mensch auf, der einen genau versteht, der sich über dieselben Dinge aufregt oder lustig macht - dann kann es einem schon so vorkommen, als würde man sich ewig kennen.

Zunächst jedoch habe ich Andreas Kowalski kennengelernt, ohne ihn zu treffen - wir haben uns eine ganze Weile sporadisch geschrieben. Zwei Ethnologen, die sich für ähnliche Dinge interessierten, denselben Lehrer hatten und einen ähnlichen Werdegang, er schon einige Jahre weiter als ich.


Dann kam ich irgendwann nach Brasília, wo er mit seiner Frau und Tochter lebte, und wir sahen uns erstmals von Angesicht zu Angesicht, zwischen uns eine Flasche Bier auf einem Plastiktisch. Es hat nicht lang gebraucht, bis wir bemerkten, dass wir über vieles gleicher Meinung waren.

Das zweite Mal sahen wir uns ein paar Tage später, nachdem er bei mir auf der Arbeit angerufen und erfahren hatte, dass ich krank zuhause geblieben war. Eine halbe Stunde nach dem Anruf stand er vor meiner Tür; und weil er nicht genau wusste, was für ein Leiden mich befallen hatte, hatte er gleich ein ganzes Sortiment an Medikamenten mitgebracht.

Er hat in Marburg studiert wie ich. Er hat sich früh für Brasilien begeistert wie ich. Er hat im Nordosten des Landes mit Indianern gearbeitet und darüber geschrieben wie ich - er seine Dissertation, ich meine Magisterarbeit.

Bei den Canela in Maranhão, bei denen er gelebt hat, ist er in eine indianische Familie aufgenommen worden. So etwas finden Ethnologen im Feld meist zuerst toll, weil sie dann denken, endlich voll und ganz in der indigenen Gemeinschaft akzeptiert worden zu sein, und dann geht ihnen auf, dass mit der Einordnung in die Familienstrukturen eine Menge Pflichten einhergehen, die die neuen Verwandten nun wegen des neuen Verwandtschaftsverhältnisses auch explizit einfordern können. Oft ist eher das der Grund für eine Adoption als der gewachsene Respekt vor dem fremden Forscher. Das mag auch in Andreas’ Fall eine Rolle gespielt haben, aber dass seine indianische Familie ihn schätzte und mochte, und dass er sich Mühe gab, seinem indigenen Papa ein guter Sohn zu sein, war nicht zu übersehen, wenn wir über sie sprachen, oder wenn sie auf Besuch in Brasília waren, mit Kind und Kegel in Andreas’ kleiner Wohnung.

Ganz anders als ich hat Andreas in Brasilien geheiratet und ist dort geblieben. Er traf Dalva auf einer Geburtstagsparty in São Luis, die beiden verliebten sich ineinander, und wenig später, so erzählte er mir, hat er um ihre Hand angehalten. Weil er’s jetzt mal richtig machen wollte. Ihre gemeinsame kleine Tochter Hannah spricht ein Deutsch, in dem man genau den Tonfall ihres Vaters wiedererkennt. Ihr Portugiesisch ist wesentlich besser als seins, nur dass sie, wie er, das "r" nicht rollt.

Als es irgendwann klar war, dass ich nach Brasília kommen und ihn dort sehen würde, bat er mich, in Deutschland ein paar Besorgungen für ihn zu machen, ein paar wissenschaftliche Aufsätze und Bücher, an die in Brasilien schwer heranzukommen war, und - mit den Worten "Ich weiß, es ist dir bestimmt peinlich, so was zu kaufen, aber ich würde mich wirklich freuen" - nicht etwa einen Playboy, sondern ein Bussi-Bär-Heft. Damit Vater und Tochter an regnerischen Tagen etwas zum Basteln hätten. Er mochte es nicht besonders, wie viele brasilianische Eltern ihre Kinder erzogen - viel Plastik, wenig Substanz, sechsjährige Mädchen mit Stöckelschuhen und bauchfreien Tops - und er tat sein Bestes, es anders zu machen. Ich habe meinen Beitrag geleistet und gleich drei Bussi-Bär-Hefte gekauft.

Er hat mir viel davon berichtet, wie schwierig es sein kann, über kulturelle Grenzen hinweg verheiratet zu sein - dass man oft in Bereiche vorstößt, in denen eine Verständigung fast unmöglich ist. Und er hat mir immer wieder versichert, dass er das Richtige getan hat. Dass er glücklich ist mit seiner Frau und seiner Tochter.

Nur mit Brasília war er nicht wirklich glücklich, und das war wiederum eine Sache, die wir gemeinsam hatten. Also verbrachten wir viel Zeit damit, uns gegenseitig zu erzählen, was an Brasília hässlich und was an den Brasilianern anstrengend ist. Eine Flasche Bier zwischen uns auf immer wieder anderen Plastiktischen. Oder in den langen Gesprächen bei mir zuhause, auf dem Balkon meiner kleinen, karg möblierten Einzimmer-Junggesellenwohnung mit Blick auf ein mit Wellblech überdachtes Schwimmbad, auf dem jeder Schauer donnerte wie eine Sturzflut und jede Sturzflut wie das Ende der Welt.

Andreas hat viel Pech gehabt - nur wenig ist so gelaufen, wie er es sich gewünscht hätte. Jahrelang versuchte er, seinen deutschen Doktortitel in Brasilien anerkennen zu lassen, damit er dort eine Lehrerlaubnis bekommt. Doch die brasilianische Bürokratie, an der Kafka seine helle Freude hätte, erfand immer neue und immer absurdere Hindernisse, um sie ihm in den Weg zu stellen.

Als ich ihn traf, war er schon geraume Zeit arbeitslos und lebte mit Frau, Kind und einer angeheirateten Nichte in einer viel zu kleinen Wohnung. Die Nichte hatte irgendwann vor der Tür gestanden - sie wollte in Brasília studieren und musste irgendwo unterkommen, und Familie ist Familie. Alle vier mussten mit dem schmalen Gehalt auskommen, das Dalva als Journalistin verdiente. An größere Anschaffungen oder gar Urlaub war kaum zu denken, und es war ein großes Ereignis, als die Familie sich nach langem Sparen ein Auto leisten konnte. Auch für mich, denn ich war bei vielen Ausflügen mit eingeplant und hatte sonst wenig Möglichkeiten, aus der Stadt herauszukommen. Andreas war ein leidenschaftlicher Ausflugsplaner, auch wenn die Anzahl tatsächlich stattgefundener Ausflüge weit hinter dem zurückblieb, was wir uns ausmalten, über Straßenkarten und Reisebroschüren gebeugt.

Er zeigte mir die wenigen Orte in der Stadt, die er gerne mochte. Am besten gefiel uns beiden ein kleiner Park, in dem man einfach den ursprünglichen Bewuchs der Region hatte stehen lassen. Dort gab es verschlungene Pfade, auf denen man sich wie in der Wildnis fühlte und fast vergaß, wie nah die Hochhäuser und sechsspurigen Schnellstraßen waren. Wir schlenderten sie entlang und erzählten uns gegenseitig unsere Leben, immer wieder verblüfft über die Vielzahl der Dinge, die wir ähnlich entschieden, erlebt oder empfunden hatten. Es gab klare Bäche, vielstimmigen Vogelgesang und eine hölzerne Brücke, auf der man stehen und Schildkröten in einem kleinen Teich beobachten konnte. "Guck mal die da vorne", sagte er dann, mit verschränkten Armen auf das Geländer gestützt, und ich: "Ja, oder die da hinten."

Das zähe Ringen um die Anerkennung seiner Doktorwürde und das ewige Warten auf eine Verbesserung seiner Lage hatten Andreas zermürbt, manchmal war er depressiv und zynisch. Manchmal verstummte er mitten im Gespräch, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und schwieg. Ich weiß nicht, ob das eine Geste der Müdigkeit oder der Verzweiflung war, oder beides. Dann hob er den Kopf und machte einen Witz.

Er war ein hervorragender Zuhörer und vergaß nie, was man ihm erzählt hatte, auch wenn er manchmal erst Minuten später darauf antwortete, manchmal sogar Tage später: Er nahm das Gesagte mit nach Hause, dachte darüber nach und teilte das Gedachte bei der nächsten Gelegenheit mit mir.

Das letzte Mal, als ich von ihm hörte, hatte gerade sein antiquierter Laptop den Geist aufgegeben und dabei ein halbes Jahr intensiver Arbeit an einem Antrag für ein Forschungsprojekt, an das er viele Hoffnungen knüpfte und von dem auch ich vielleicht Teil geworden wäre, mit ins Nichts gerissen. Andreas berichtete mir davon in seinem üblichen lakonischen Tonfall: "Vorletzte Woche ist bei meinem Laptop die Festplatte kaputt gegangen. Schade. Und auch ärgerlich, da ich die letzte Sicherung der Daten im Februar vorgenommen habe. Und die vorletzte im November letzten Jahres. Aber man sagt ja, in jeder Krise stecke auch die Chance eines Neuanfangs." Ein guter Teil seiner Lebensphilosophie, jedenfalls, wie ich sie mir zusammenreime nach der wenigen Zeit, die wir uns kannten, steckt in diesen paar Sätzen. Ich musste zwischen den Zeilen nicht lange nach seiner Enttäuschung suchen. Aber ich wusste, dass er am Ende einen Witz machen und die Fäden wieder aufnehmen würde.

Am 29. September saß er als einziger Ausländer in einem Flugzeug, das auf dem Weg von Manaus zurück nach Brasília war. Ich kann immer noch nicht recht glauben, dass der allerorten zu lesende Satz "Unter den Passagieren war auch ein deutscher Wissenschaftler" bedeutet, dass mein Freund Andreas tot ist. Ich sage mir, dass er vielleicht darüber lachen würde, wie er über andere seiner Missgeschicke lachen konnte. Immerhin hat es ja schon etwas Klassisches, als Ethnologe über dem Urwald abzustürzen. Auch wenn es eine Linienmaschine auf dem Weg in die Hauptstadt war, und keine einmotorige Cessna mit Kurs auf ein unberührtes Urwalddorf.

Er hat mir mal gesagt, dass er hoffe, ich möge der Ethnologie treu bleiben, weil da mehr Leute gebraucht werden, die gut erzählen können. Das hat mir sehr geschmeichelt. Ich habe noch nie einen Nachruf geschrieben, und ich glaube, das hier ist einer. Ich hoffe, ich habe ordentlich von ihm erzählt, denn nichts anderes hat er verdient. Vielleicht sehen wir uns eines Tages im Ethnologenhimmel wieder, da kann ich ihn dann fragen. Wie mag es dort wohl aussehen? Vermutlich voller authentischer Indigener, die sich fröhlich von uns erforschen lassen und unsere Arbeit unentbehrlich für die Stärkung ihrer ethnischen Identität finden. Und alle Flugzeuge sind einmotorige Cessnas mit Kurs auf unberührte Urwalddörfer. Und keines von ihnen stürzt in den Dschungel und zerschellt.

Text + Foto: Nico Czaja