caiman.de 11/2006

[kol_1] Macht Laune: Farbenfrohe Flaggenspiele für Angela

Eine kleine Fußballfanatikerin konnte sich, so sehr sie ihre Nationalmannschaft auch liebte und verehrte, nicht mit den Farben ihre Landes schmücken. Auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Dilemma, die Zugehörigkeit zu ihrem Team, nicht zeigen zu können, ohne dass ihr übel wurde, zog sie übers Land und traf als erstes auf einen brasilianischen Fußballfan, die inbrünstig in eine Plastiktrompete blies.

"Lieber brasilianischer Fußballfan", sagte die kleine Fanatikerin, "du hast aber ein schönes Trikot an."
"Das sind die Farben Brasiliens", antwortete der brasilianische Fan:

"Es überwiegt das Grün, die Farbe des Amazonas-Dschungels, die Farbe der Natur, der saftigen Natur im Frühling, der Zeit des Wachstums allen Lebens. Und aus dem Grün heraus strahlt das Gelb der Sonne hervor. Es steht für Weisheit und Macht und in seiner reinen Form, wie sie in unserer Flagge vorkommt, für Kreativität, für höchste Ballkunst."

Begeistert von dem Zusammenspiel der beiden Farben, die in ihrer Kombination die fröhlichste Fröhlichkeit vermitteln, setzte die kleine Fußballfanatikerin ihren Weg fort und traf als nächstes auf einen mexikanischen Fußballfan, der sich im Schatten der gewaltigen steinernen Nase des aztekischen Gottes Quetzalcóatl, der gefiederten Schlange, zur Siesta niedergelassen hatte.

"Lieber mexikanischer Fußballfan", sagte die kleine Fanatikerin, "du hast aber ein schönes Trikot an. Was bedeutet denn der Adler auf deinem Trikot?"
"Einst brach das Volk der Mexica, die heute in der Literatur meist als Azteken bezeichnet werden, von dem sagenumwobenen Ort Azlán, dessen ursprüngliche Lage zumindest geografisch noch nicht bestimmt werden konnte, auf, um gen Süden zu ziehen", antwortete der Mexikaner. "Unter der Führung des Stammesgotts Huitzilopochtli wanderten sie solange, bis sie ein Zeichen der Götter erhielten: Auf einem Kaktus in Tenochtitlán sahen sie einen Adler, der in einen Kampf mit einer Schlange verwickelt war, schließlich siegen konnte und diese verschlang. Da wussten die Mexica, dass dies das Zeichen der Götter war und sie sich an dieser Stelle niederlassen sollten."

"In meinem Kulturkreis haben wir auch einen Adler als Wappentier. Er steht für Kraft, Durchsetzungsvermögen und Weitblick", dachte die kleine Fanatikern laut.

"Für uns Mexikaner ist der Adler ein Symbol für die Sonne und damit für die Schöpfung. Der weiße Hintergrund steht für das göttliche Bewusstsein, der Adler wird so zum göttlichen Boten", sagte der mexikanische Fan.

Die Gedanken der kleinen Fanatikerin kreisten als sie weiterzog um die Gründung Deutschlands. Wie gerne hätte sie sich mit einem Mythos a la mexicana geschmückt, doch außer dem deutschen Einigungsakt initiiert durch Reichskanzler Bismarck, indem der Politiker auch noch das schöne Österreich ausstach - was aber fußballtechnisch zumindest momentan wenig ins Gewicht fällt - fiel ihr keine ergreifende Geschichte ein. Gerade als sie über die jüngsten Spiele des österreichischen Nationalteams nachdachte, sah sie einen venezolanischen Fußballfan, der mit seiner Mannschaft Österreich jüngst mit 1:0 bezwungen hatte, am Strand sitzen und die verschiedenen Schattierungen des blauen Wassers beobachten.

"Hallo venezolanischer Fußballfan", sagte die kleine Fanatikerin, ein wenig verzweifelt klingend, "du hast aber ein farbenfrohes Trikot an. So eins hätte ich auch gerne, aber dann würde niemand mehr erkennen, dass mein Herz für das deutsche Team schlägt."

"Oh weh", brachte der venezolanische Fan, von einem lauten Ein- und wieder Ausatmen begleitet, hervor. "Da hast du aber ein schweres Los gezogen. Die Farbkombination Schwarz-Rot-Gold steht an der Spitze aller geschmacklichen Verirrungen in der weltweiten Flaggengeschichte. Mit keiner anderen Flagge wird das ästhetische Auge mehr beleidigt als mit eurer. Schwarz steht für Trauer und Gold ist nicht mehr als eine Verunreinigung des Gelbs; das reine Gelb wird unter der Zugabe auch nur eines Hauchs einer anderen Farbe entwertet, unschön und schmutzig. Man hätte Männer und Frauen wie Goethe, der sich in seiner Farblehre bereits über die leichte Entstellbarkeit der Farbe Gelb ausgelassen hat, zurate ziehen sollen."

Als er aufblickte, hatte die kleine Fußballfanatikerin Tränen in den Augen und ihm blutete bei diesem Anblick das Herz. Geschwind streifte er sein Trikot ab und zog es ihr über:

"Bekenne Farbe, kleine Fanatikerin! Gehe zu eurer Kanzlerin und ermahne sie ihrer ästhetischen Pflichten. Auf das dir die drei Primärfarben unserer Flagge beistehen: das Rot möge ihre Rationalität einschränken und Leidenschaft und Begierde wecken, das Gelb appelliere an ihre Weisheit, auf dass sie nicht trotzig an der seit dem Mittelalter bestehenden Farbkonstellation festhalte, und das Blau möge ihre emotionale Kälte brechen und unerfüllten Sehnsüchten, die sich komplementär zu Disziplin und Strenge verhalten, Raum einräumen."

Text: Dirk Klaiber
Fotos: Dirk Klaiber / Thomas Milz