spanien: Festsaal unter freiem Himmel
Repräsentative Plätze in iberischen und lateinamerikanischen Städten
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1]
brasilien: Präsidentschaftswahlen 2006
Lula geht in die Verlängerung
THOMAS MILZ
[art. 2]
el salvador: Portables Land - Erinnerung und Identität (Teil 2)
CARLOS HENRÍQUES CONSALVI
[art. 3]
mexiko: Beten für den Fairen Handel
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 4]
macht laune: Farbenfrohe Flaggenspiele für Angela
DIRK KLAIBER
[kol. 1]
grenzfall: 70 Jahre Spanischer Bürgerkrieg
Historisch-fiktive Reportage über die Ereignisse vom 7.11.1936
WOLFGANG HÄNISCH
[kol. 2]
helden brasiliens: Adéus, Andreas. Ein Nachruf
NICO CZAJA
[kol. 3]
lauschrausch: Barcelona brodelt
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Spanien: Festsaal unter freiem Himmel
Repräsentative Plätze in iberischen und lateinamerikanischen Städten

Sie sind der Treffpunkte im Herzen der Städte, und schon in der Antike flanierte man durch den öffentlichen Bezirk, deren Nachfolger man Jahrhunderte später in Spanien und Hispanoamerika "Plaza Mayor" (bzw. in Portugal/Brasilien "Praça Major") nennen würde. In jeder größeren von Menschen bewohnten Siedlung, möglichst zentral und auf meist ebenem Gelände, befindet sich ein Ort, der im wahrsten Sinne des Wortes Platz bietet für Veranstaltungen aller Art.

Schon die griechische Agora und das römische Forum hatten sowohl wirtschaftliche Bedeutung - Märkte zum Kauf, Verkauf und Tausch von Waren - als auch politische Funktion.

[Foto: Lima / Peru]

Vor allem im antiken griechischen Stadtstaat (Polis) wurden alle freien Bürger hierher zu Abstimmungen und politischen und juristischen Diskussionen zusammen gerufen. Agora und Forum übernahmen auch soziale und kommunikative Aufgaben: es wurden Reden geschwungen, denen man zuhörte oder auch nicht, es waren Orte der Begegnung, der "Freizeit" und des Kennenlernens. Freundschaften konnten hier entstehen, sogar Hochzeiten vereinbart werden, und auch der Funke für so manche Revolution oder blutigen politischen Aufruhr entzündete sich in einer empörten Menschenmenge, die sich auf dem Hauptplatz versammelt hatte. Tyrannen und Diktatoren haben solche großen Plätze aus gutem Grund schon immer gefürchtet - von Peisistratos bis Pinochet hat sich daran nichts geändert.

Die Form und Architektur der Plaza Mayor einer Stadt sagt viel aus über die politische Struktur und die Gesellschaftsordnung. Dafür liefert die Entwicklung von Plätzen auf der iberischen Halbinsel gute Beispiele.

[Foto: Salamanca / Spanien]


Schon zur Römerzeit gab es in Spanien und Portugal Foren, die ökonomische, politische, kommunikative und religiöse Funktionen übernahmen. Besonders in bedeutenden römischen Metropolen wie Emerita Augusta (Mérida), Tarraco (Tarragona), Hispalis (Sevilla), oder Liberalitas Julia (Évora) gab es ein zentral gelegenes Forum, auf dem sich die Einwohner versammelten.

In der mittelalterlichen Stadt Iberiens dann verlieren die Hauptplätze in vielen Fällen an Größe, verlieren ihren Protagonismus in der Stadtlandschaft, verschwinden manchmal sogar völlig. Dieses partielle "Aussterben" der Plaza Mayor lässt sich vor allem in der Südhälfte der Halbinsel beobachten, die Jahrhunderte lang von arabisch-islamischer Herrschaft geprägt war. Zwar mag man einen sekundären Grund für die Vernachlässigung einer weiten und offenen Anlage im Stadtzentrum auch in klimatischen Bedingungen suchen. In Andalusien und der Algarve waren städtische Plätze immer schon kleiner als im Norden oder in Kastilien. Wenn an ca. 300 Tagen im Jahr die Stadt fast den ganzen Tag im gleißenden Licht einer gnadenlos brennenden Sonne liegt, ist ein schattenloser Platz unter freiem Himmel für die Bewohner nicht wirklich der erstrebenswerteste Versammlungsort.

Der primäre Grund für das (vorübergehende) Verschwinden des Platzes in Al-Andalus war jedoch ein anderer: die arabisch-islamische Tradition verengte den öffentlichen Raum.

[Foto: Almagro / Spanien]


Fast alle Anlässe menschlicher Begegnung wurden vom öffentlichen Platz in den privaten Patio verlegt. Übertriebene Kommunikation auf einem öffentlichen Gelände war verpönt, die Architektur der Stadt wucherte organisch, wurde intimer, verschachtelte sich, schuf Schatten und überdachte Gassen, die mehr zufällig als geplant in Labyrinthen und winzigen Plätzen mündeten. Diese wiesen eher den Charakter eines privaten Patio als den einer öffentlichen Plaza auf. Soziale Kommunikation, sogar geschäftliche Treffen, fanden in Privathäusern und dort bevorzugt im Patio statt, wo man vor Sonne, Lärm und neugierigen Blicken geschützt war. Es gab auch keine politische Funktion - wie sie Agora und Forum innehatten - die ein Platz in einer andalusischen Stadt hätte übernehmen können, denn die islamische Gesellschaft war theokratisch organisiert.

An der Spitze des Staates standen der Kalif (Córdoba) oder Emir/König (Taifas) und die von ihm eingesetzten Richter; daher gab es nichts zu wählen oder abzustimmen.

[Foto: Salvador da Bahia / Brasilien]

Die größten Menschenversammlungen in islamischen Städten Iberiens fanden in Moscheen oder in mit Universitäten vergleichbaren Lehranstalten statt. Der zugehörige Platz war meist ein baumbestandener Innenhof der Moschee oder Medrese, also ein halb öffentlicher, kein säkularer Raum. Ein Platz im islamischen Spanien hatte höchstens eine wirtschaftliche Funktion (z.B. Toledo, Plaza Zocodover), aber selbst dann waren solche Basare selten offene Plätze, sondern überdachte Gassenlabyrinthe mit kleinen Läden - ähnlich den möglichen Vorbildern im Osten (Aleppo, Kairo oder Buchara).

Die außerhalb Europas vereinzelt existierenden grandiosen Gegenbeispiele für repräsentative Hauptplätze in islamischen Metropolen, entstanden erst später (16./17. Jahrhundert): der Registan in Samarkand und der Maidan in Isfahan - beide gehören zu den monumentalsten Plätzen der Welt - und der berühmte Jemaa-el-Fna von Marrakesch mit seiner atmosphärischen Magie.

Im Gegensatz zu Al-Andalus gab es in den mittelalterlichen Städten der Nordhälfte Iberiens (Galizien, Katalonien, Kastilien) zentrale Plätze, die meist von gotischem Stil dominiert wurden.

Allerdings fielen diese oft kleiner aus als in der Antike, wie etwa in Barcelona, Segovia oder Ávila)

[Foto: Ávila / Spanien]

Den völligen Mangel einer echten Plaza Mayor, die Zentrum und zugleich größter öffentlicher Raum der Stadt wäre, kann man in der iberischen Südhälfte oft bis heute beobachten. Denn obwohl Córdoba 1236, Sevilla 1248 und Granada 1492 von maurisch-islamischer zu kastilisch-katholischer Herrschaft wechselten, verfügt keine dieser drei Städte über ein unbebautes Areal, das als eindeutiger Mittelpunkt und wichtigster Versammlungsplatz anerkannt wäre. Stattdessen gibt es hier - wie schon zu islamischer Zeit - viele kleine Plätze.

Im Norden der Halbinsel und in Kastilien entstanden dagegen im 16. und 17. Jahrhundert planmäßig angelegte und prunkvoll gestaltete Plazas Mayores im Renaissance- oder Barockstil, oft mit Säulen und Arkadengängen, die nicht nur der Dekoration dienten, sondern noch heute Schatten und Regenschutz bieten. Das zweifellos vollkommenste Modell, das aus den Bauplänen des Goldenen Zeitalters hervorging, ist die barocke Plaza Mayor von Salamanca.

Dieser vielleicht schönste Platz Europas ist ganz aus goldfarbenem Sandstein erbaut, der sowohl in der Sonne als auch nachts von Lichtern angestrahlt seinen Farbton voll zur Geltung bringt.

[Foto: Salamanca / Spanien]


Wenn man ihn durchschreitet, spürt man deutlich, dass dieser öffentliche Raum keineswegs nur funktional sein sollte (Marktplatz, Gerichtsplatz, religiöse Feste), sondern zudem mit seiner Ästhetik die Einwohner erfreuen wollte. Es ist eine Art Palast ohne Dach, ein goldener Festsaal unter der Sonne. Die Architektendynastie der Churriguera hat hier zwischen 1729 und 1755 den idealen Zentralplatz geschaffen, der alles vereint, was ein solcher Ort bieten muss: eine beträchtliche Größe, einen Raum umschlossen von harmonischen, symmetrisch angeordneten Strukturen, versehen mit laternengeschmückten Arkadengängen, Aussichtsbalkonen, Gesimsen, Glocken und Statuen. Das einzige, was man noch hinzufügen könnte, wäre ein zentraler Brunnen. Zugänglich ist dieser Festsaal unter freiem Himmel durch mehrere Torbögen aus allen Himmelsrichtungen. Die salmantinische Plaza Mayor ist auch ein Musterbeispiel für einen architektonisch einheitlichen, bis in alle Details komponierten Platz, wie er so erst gegen Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts geplant wurde.

Vorher entstanden die meisten Plazas allmählich, bunt zusammen gewürfelt aus Bauten verschiedener Epochen, die sich ohne Gesamtkonzept aneinander reihten (z.B. Plaza de Triunfo in Sevilla, wo sich die arabischen Alcázarmauern aus dem 11. Jahrhundert, die gotische Kathedrale aus dem 15. Jahrhundert und die Börse aus dem 16. Jahrhundert gegenüber stehen).

Vor Salamanca gibt es wenige Plätze in Spanien, die auf dem Grundriss eines Gesamtkonzepts konzipiert wurden.

Hierzu zählen vor allem die Plaza Mayor von Almagro (Mitte 16. Jahrhundert) und die imposante Plaza Mayor von Madrid (ab 1620).

[Foto: Madrid / Spanien]

Letztere aber wirkt weniger harmonisch als ihre Nachfolgerin in Salamanca, was auch daran liegt, dass sie nach einem großen Brand im Zentrum der Hauptstadt Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend rekonstruiert werden musste. Im (Spät)barock entstanden weitere Hauptplätze mit repräsentativem Charakter auf der Iberischen Halbinsel: Santiago de Compostela (Plaza Obradoiro), León und Lissabon (Praça do Comercio).

In Lateinamerika konstruierte man die Plazas Mayores der großen Städte zeitgleich, oft sogar früher als in Spanien und Portugal, so dass Madrid und Salamanca nicht als Vorbilder gedient haben können. Und natürlich hat es in Amerika schon in vorkolumbianischer Zeit Plätze gegeben, die weitgehend dieselben Funktionen erfüllten wie in Europa: Marktplatz, politischer und religiöser Versammlungsort, Gerichtsstätte.

Bestes Beispiel ist der zentrale Platz Huaccaipata der alten Inka-Metropole Cuzco. Nach ihrer Eroberung überbauten die Spanier einfach die kolossalen Mauern der Inka mit barocken Arkaden und Kirchenkuppeln.

Das Herz von Cuzco blieb dadurch an seinem alten Platz, es erhielt nur eine barocke Verkleidung und einen neuen Namen. Bis heute ist die Plaza de Armas, dominiert von Kathedrale und Jesuitenkirche, der wohl schönste Platz Südamerikas.

[Foto: Cusco / Peru]

Er erhielt sein Gesicht, das nach Erdbeben ständig aufs Neue restauriert werden musste, im Hochbarock (um 1650).

Weiter im Norden entstand in Mexiko, auf den Grundmauern des Haupttempels der Aztekenstadt Tenochtitlán, zwischen der später größten Kathedrale Amerikas und dem Nationalpalast der Zócalo, einer der drei größten Plätze der Welt. Der Zócalo ist zu riesig und monumental, um noch von den Bewohnern als echtes "Wohnzimmer" angenommen zu werden. Schöner und menschennäher präsentieren sich die Plazas Mayores von Oaxaca oder Puebla in Mexiko, von Havanna in Kuba oder von Cartagena de Indias in Kolumbien. Die Plaza der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá erhielt erst nach der Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert ihr heutiges Aussehen.

Hier wirken Nationalpalast und Rathaus eher von französischem Klassizismus als von spanischem Barock beeinflusst.

[Foto: Bogotá / Kolumbien]

Obwohl auch im 20. Jahrhundert noch große Plätze erbaut wurden, können diese nicht mehr als ein echtes Stadtzentrum gelten. Ein gutes Beispiel für eine solche "zu späte Geburt" ist die Plaza de España von Sevilla (1915 - 1928). Architektonisch ein Highlight, musste sie vor den Toren der Altstadt und außerhalb gewachsener Strukturen entstehen und konnte daher in einer so alten Stadt wie Sevilla keinen neuen gesellschaftlichen Mittelpunkt mehr bilden. Sie blieb eine Randerscheinung.

Und so bleibt festzuhalten, dass die Plaza Mayor als architektonisches Herz einer Stadt ein gewisses Alter aufweisen und zentral gelegen sein muss, um von den Bürgern als Festsaal unter freiem Himmel angenommen zu werden.

Text: Berthold Volberg
Fotos: Berthold Volberg / Felix Hinz / Thomas Milz





[art_2] Brasilen: Präsidentschaftswahlen 2006 - Lula geht in die Verlängerung

Früher war Luiz Inácio Lula da Silva gegen eine zweite Amtszeit des Präsidenten. Eine Amtszeit sei genug, hörte man ihn und die PT-Parteikumpels noch 1998 rufen. Damals ließ der konservative Präsident Fernando Henrique Cardoso kurzerhand die Verfassung um- und die Wiederwahl in diese hineinschreiben. Aber damals war Lula ja noch nicht Präsident.

Nun ist Lula schon seit vier Jahren an der Macht, und dank der 58 Millionen Wählerstimmen darf er noch einmal weitere vier im Amt bleiben.

"Alles werden wir in dieser zweiten Amtszeit besser machen", verspricht er am Abend des 29. Oktobers in einer ersten Stellungnahme nach seinem Wahlsieg in einem Hotel in São Paulo.

Überraschend war Lula im ersten Wahlgang am 01.Oktober nicht direkt wiedergewählt worden. Bei knapp 49% blieb die Wahluhr stehen, während der als bodenlos uncharismatisch abgekanzelte Gegenkandidat Geraldo Alckmin nahezu unglaubliche 42% erlangte.

Lula hatte sich etwas vergaloppiert. Zu sicher war er sich gewesen, direkt im ersten Wahlgang im Amt bestätigt zu werden. So blieb er TV-Debatten mit seinen Gegnern einfach fern, was man ihm als Arroganz auslegte. Als dann noch am Tag vor der Wahl Bilder von haufenweise Geldscheinen auftauchten, mit denen Lulas PT angeblich belastendes Material gegen Alckmin kaufen wollte, kippte die Stimmung in Brasilien und Lula musste nachsitzen. Weitere vier Wochen anstrengendsten Wahlkampfs folgten, während dem Lulas Gesicht zunehmend faltiger und der Präsident immer dünner wurde.



Doch Lula war aufgewacht, hatte die Gefahr erkannt und begann, für sein Amt zu kämpfen. Jetzt zeigte sich in den vier TV-Debatten mit Alckmin, wie sehr er diesem rhetorisch überlegen war. Und gegen Lulas Doppeltaktik, zum einen den "Lula Friede-Freude-Eierkuchen" (Lula paz e amor) von 2002 wieder zu spielen und Alckmin gleichzeitig als üblen Neoliberalen und Privatisierer von Staatsbetrieben hinzustellen, wusste sich der gelernte Arzt mit dem schütteren Haar überhaupt nicht zu wehren. So war Lulas Sieg im zweiten Wahlsieg zum Schluss locker herausgespielt. Mehr als 20 Millionen Stimmen trennten ihm von Alckmin.

Lula hat sich für die nächsten vier Jahre viel vorgenommen. Aus den Fehlern der ersten Amtszeit habe man gelernt, und jetzt werde man Gas geben. "Über die Straßen, über die wir bisher mit 80 Kilometern in der Stunde gefahren sind, können wir jetzt mit 120 rasen. Denn jetzt kennen wir die Strecke - und können Gas geben wie Felipe Massa." Kein Projekt werde länger als 30 Tage auf seinem Schreibtisch liegen, verspricht der 61-jährige auf der improvisierten Pressekonferenz kurz nach Bekanntgabe seiner Wiederwahl.

Und ruck-zuck geht es weiter. Wenig später ist Lula auf der Avenida Paulista, wo ihm seine Partei ein rauschendes Siegesfest organisiert hat. Doch gerade einmal schlappe 5.000 Fans haben sich auf São Paulos Finanzmeile versammelt.

Vor vier Jahren, als Lula als erster Arbeiter in den Präsidentenpalast eingezogen war, lagen sich an gleicher Stelle noch 100.000 Menschen in den Armen. Jetzt hat das Ganze einen leicht melancholischen Touch.

Vorbei die klassenkämpferischen Zeiten. "Der Sieg gehört dem Volk, nicht mir oder der PT", sagt ein erschöpft und irgendwie entrückt wirkender Lula.

Zwei Jahre ununterbrochene Skandale haben ihre Spuren in der PT hinterlassen. Mit der Bingomafia soll mal angeblich gemauschelt haben, dazu noch oppositionelle Parlamentarier gekauft und viel Geld in die eigenen Taschen gesteckt haben. "Ich weiß nicht, inwieweit Lula selbst in die Korruptionsskandale verwickelt ist. Aber das ist auch gar nicht die Frage. Viel wichtiger ist, dass die Sozialprogramme weiterlaufen. Und deshalb musste Lula gewinnen." So wie diese PT-Aktivistin denken wohl viele Lula-Anhänger.

Es gibt aber auch die, die glauben, dass die Skandale von der Opposition und den mit ihnen verbündeten Medien erfunden wurden. Und so rollt man ein Transparent auf der nächtlichen Avenida Paulista auf: "Das Volk hat die Medien besiegt!"



Ein Mittfünfziger geht sogar noch weiter und erklärt Lula zum Opfer der US-Politik. "Diese Skandale sind alle von langer Hand durch die CIA vorbereitet worden. Teil eines kontinentalen Plans um Hugo Chávez zu stürzen. Und dahinter steht niemand anders als US-Außenministerin Condoleezza Rice."

"Lasst den Mann einfach weiterarbeiten", rufen die PTler. Lula scheint es gehört zu haben. Denn schon eilt er von der Bühne. Man habe viel zu tun und keine Zeit zu verlieren, rechtfertigt er seinen kurzen Auftritt bei der Wahlparty. Die Türen der verdunkelten Limousine schlagen zu, und der alte-neue Präsident rauscht davon, seiner zweiten Halbzeit als Präsident entgegen.

Zurück bleibt der harte Kern der Feierwütigen. Zu flotten Sambaklängen tanzt man auf der Paulista, eine Perkussiongruppe zieht lautstark über die nachtdunkle Meile. Einige Angetrunkene im Freudentaumel schwenken ihre Fahnen in den sternenlosen Himmel, während eine Gruppe von Obdachlosen vor den Türen einer Apotheke bereits dem Getöse entschlummert ist.

Text + Fotos: Thomas Milz





[art_3] El Salvador: Portables Land - Erinnerung und Identität (Teil 2) (Teil 1)

Das Museo de la Palabra y la Imagen (MUPI), Museum von Wort und Bild, in San Salvador beschäftigt sich mit der Erforschung und der Verbreitung salvadorianischer Geschichte und Kultur. Es umfasst einen Ausstellungs- und einen Projektionsraum sowie ein einmaliges historisches Archiv. Schwerpunkt sind Wanderausstellungen im ganzen Land um dem salvadorianischen Volk seine historische Identität und Erinnerung näher zu bringen. Das Projekt dazu entstand nach dem Bürgerkrieg, um diesen und andere historische Ereignisse aufzuarbeiten und dem Vergessen entgegen zu wirken.

Erinnerung, Identität, Erdbeben und "paramientrismo"
Als wir gerade die Cordillera del Bálsamo in einem Flugzeug der venezolanischen Solidarität überflogen, wurde das Jahrhundert von zwei Erdbeben eingeläutet. Wir sahen am Horizont die Wunden, die sie hinterlassen hatten und fragten uns: "Welche Antwort kann das MUPI auf solch eine Tragödie und den damit verbundenen Schmerz geben?" Und so kamen wir dazu uns mit dem Thema der Naturphänomene in der salvadorianischen Geschichte zu beschäftigen.

Wir fragten uns: "Welche Auswirkungen haben Überflutungen, ständige wiederkehrende Erdbeben und Erdrutsche, bis hin zu dem Tsunami, der unsere Küste 1902 heimsuchte, auf die Salvadorianer gehabt?"

Zurück in El Salvador begaben wir uns auf die Suche nach Bildern, Dokumenten und Objekten, die in einem direkten Bezug zu Naturkatastrophen in unserem Land standen. Das Ergebnis ist eine Ausstellung, der wir den Namen einer mythischen Figur aus dem Popol Vhu gaben: "Kab Rakan, die Wut der Götter". Und wir schickten diese als Wanderausstellung in abgelegene Orte El Salvadors, um der Bevölkerung vor Augen zu halten, dass sich beispielsweise das Phänomen des Erdbebens gerade in El Salvador jederzeit wiederholen kann. Wir hoffen damit auch ein Bewusstsein für präventive Maßnahmen zu schaffen und der Philosophie des "paramientrismo" (paramientras: vorübergehend), der ewigen Übergangslösung, entgegen zu wirken. Denn noch heute findet man endlos viele Plastik- und Zinkbauten aus dem Erdbebenjahr 1986, die lediglich vorübergehend (paramientras) sein sollten.

Wir glauben, dass dieses gelebte Schicksal, das Erbauen und das durch Katastrophen Zerstörte Aufbauen, dieses Auseinandernehmen und Zusammenfügen, das uns die Realität abverlangt, ein wichtiger Schlüssel im dynamischen Prozess unserer Identitätsentwicklung ist.

Erinnerung und soziale Taten
Vier Jahre lang suchten wir in abgelegenen Bezirken im Westen und Zentralsalvadors überlebende Indigenas des Massakers von 1932 auf, verübt unter der Diktatur des Generals Hernández Martínez, um zu erkennen, dass das kollektive Gedächtnis der Zeitzeugen in starkem Widerspruch zur geschriebenen Geschichte steht.

Siebzig Jahre lang wurde von den Betroffenen über die Vorkommnisse während des Völkermords nur im aller engsten Familienkreis gesprochen. Trotzdem konnten wir die Zeitzeugen dazu bewegen, uns an ihren Erinnerungen teilhaben zu lassen.

Es entstand die Dokumentation "1932 Narbe des Gedächtnisses": audiovisuelles Material, das bisher tausende von Zuschauern im ganzen Land gesehen haben. Wir hoffen, dass unsere Reihe "Erinnerung und soziale Taten" die Gemeinden dazu ermuntert, über Identität nachzudenken und kommunale Geschichte selbst festzuhalten.

Die Gemeinden haben uns gezeigt, dass die Geschichte nicht nur den hinter Bergen von offiziellen Papieren sitzenden Historikern gehört. Die gegenwärtigen Konzeptionen der Historiographie schaffen neue Ansichten des Historischen. Die Geschichte will auch denen ohne Namen gehören, jenen Anderen, die sie im Schatten erleben.

Dieses Aus-Dem-Schatten-Heraustreten schaffen immer mehr Gemeinden in ganz El Salvador, indem sie die Türen ihrer Erinnerungen öffnen und ihre Identitäten stärken, dynamisch und im ständigen Wechsel, und ihren Willen zeigen, sich weiterhin zu erfinden, um ein Land zu erbauen, das der Globalisierung des Gewissens und der postmodernen Fundamentalisten trotzt.

Vor kurzem hat das "Museo de la Palabra y la Imagen" eine Ausstellung anlässlich des hundertjährigen Jubiläums von San Antonio Abad in der Kirche der gleichnamigen Gemeinde eröffnet. Es wurden Manuskripte des 19. und 20. Jahrhunderts und Masken und Kleidungen der "Historiantes" (Geschichtenerzähler) präsentiert. Maßgeblich an diesem Projekt waren Jugendliche beteiligt, die sich weigern ihr lokales kulturelles Erbe aussterben zu lassen - und sich der universellen Wirkung des populären Theaters bedienten, das auch in dieser, vom großen San Salvador eingeschlossenen, Gemeinde weiterlebt.

An diesem Tag war das Dorf erfüllt vom Klang der Flöten und Trommeln, von tanzenden Jugendlichen, die ihre Geschichte mit Stolz in sich trugen, von Feuerwerk, das die Nacht San Salvadors erleuchtete.

Es waren diese Raketen, die aus den Händen der jungen Leute aus San Antonio Abat in den Himmel stiegen, um die imaginären Grenzen einer Gemeinde aufzuzeigen, einer Insel inmitten der Stadt, die sich weigert zu sterben, die den invasiven Tsunamis der riesigen Einkaufszentren standhält, die uns eine Kopie Miamis anbietet, um Mac Donalds oder Kentucky Fried Chicken dort zu pflanzen, wo zuvor Regenwald herrschte und vom Aussterben bedrohte Vogelarten lebten.

Inmitten der Dunkelheit zeichnet uns das Schießpulver der Feuerwerkskörper ein imaginäres Land, ein Land zum Mitnehmen, ein Land, das uns ruft.

Text + Fotos: Carlos Henríquez Consalvi (Gründer des Museo de la Palabra y la Imagen)
Übersetzung: Camila Uzquiano

Adresse des Museums
Museo de la Palabra y la Imagen
27 Av. Norte, #1140, Urb. La Esperanza
San Salvador. El Salvador

PBX: (503) 2275-4870
http://www.museo.com.sv

Der Autor
Carlos Henríquez Consalvi, besser bekannt unter dem Pseudonym "Santiago", wurde in den venezolanischen Anden geboren. In Caracas studierte er Journalismus. Nach einem längeren Aufenthalt in Nicaragua und nach dem Fall der Somoza Diktatur kam er im Dezember 1981 nach El Salvador um den Guerilla-Radiosender Venceremos zu gründen. Im Januar 1992 kehrte er aus den Bergen Morazáns in die Hauptstadt San Salvador zurück um von den Friedensverhandlungen zu berichten.





[art_4] Mexiko: Beten für den Fairen Handel

Die Sonne geht gerade erst auf, Miguel aber ist schon bei der Arbeit: Er fegt das Dach seines Hauses. Das muss richtig sauber sein, denn hier wird der Kaffee zum Trocknen ausgebreitet. Seine beiden jüngsten Kinder helfen ihm dabei, während sich der Nebel langsam über dem grünen Tal lichtet. Irgendwo kräht ein Hahn.

Kaum, dass der Kaffee versorgt ist, macht sich Miguel auf zu seinem eigentlichen Tagwerk: Honig ernten. 60 Bienenstöcke besitzt er. Um zu diesen zu kommen, muss der 32-jährige erst mal an der Straße warten und hoffen, dass ihn ein Pickup mitnimmt.


Ist dieser gefunden, so holpert dann das klapprige Gefährt eine Stunde lang über eine Waschbrettpiste durch die Berge Chiapas, bis der schmale, scheinbar undurchdringliche Pfad zu seinen Bienenstöcken erreicht ist. Mit einer Machete kämpft Miguel sich den steilen Weg zu der kleinen Lichtung frei. Dort zündet er seine Imkerpfeife an und setzt den Imkerhut auf, bevor er sich behutsam seinen Bienen nähert. Ruhe bewahren, das ist jetzt wichtig. Er öffnet eine der Kisten, bläst etwas Rauch hinein um die Bienen zu beruhigen und zieht die von goldenem Honig triefenden Waben heraus. Miguel erntet, soviel er tragen kann. Schließlich bindet er die Rahmen mit den Waben zusammen, schlingt sich den Trageriemen um die Stirn und schleppt seine 60 Kilo schwere Fracht über den schmalen Pfad zur Straße zurück. Es ist heiß und feucht, der Schweiß rinnt ihm übers Gesicht, aber er hat Glück und muss nicht allzu lange auf eine Mitfahrgelegenheit warten. Nach Stunden ist er wieder in seinem Dorf San Miguel angekommen, und es beginnt die eigentliche Arbeit: der Honig muss geschleudert, gesiebt und abgeschöpft werden.

"Das Wichtige daran, dass wir unseren Honig an den Fairen Handel verkaufen, ist nicht nur der höhere Preis, den wir bekommen, sondern vor Allem, dass wir einen festen Absatzmarkt haben. In Mexiko wäre es reine Glückssache, unseren Honig überhaupt verkaufen zu können."

Ursprünglich war Miguel nur Kaffeebauer, aber vom Kaffee alleine konnte er seine sechs Kinder nicht ernähren. Heute erzielt er die Hälfte des Familieneinkommens aus Kaffee, die andere aus Honig, beides kann er an den Fairen Handel verkaufen. "Früher musste ich meine Produkte an die Coyoten, die Aufkäufer, verkaufen, die haben die Preise bestimmt und uns ausgebeutet."

Würde er den konventionellen Markt beliefern, so hat er ausgerechnet, würde er 40 Prozent weniger verdienen. "Diese 40 Prozent machen den Unterschied zwischen Armut und einem guten Leben aus", erklärt er. Miguel ist sehr zufrieden damit, wie sich sein Leben in den letzten Jahren entwickelt hat. "Seitdem ich an den Fairen Handel verkaufe, hat sich vieles verbessert. Wir leben jetzt in einem richtigen Haus aus Stein und nicht mehr in einer Lehmhütte. Wir haben richtige Schuhe und können für die Kinder sogar neue Kleidung kaufen." Als nächstes würde Miguel gerne einen Pickup anschaffen, damit er nicht mehr darauf angewiesen ist, eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Doch so ein Auto ist teuer. Vorläufig wird es wohl doch eher ein Maultier werden.

"Wenn wir unseren Honig und Kaffee weiter an den Fairen Handel verkaufen können, dann werden wir zwar nicht reich, aber wir können von dem, was wir verdienen, gut leben." Miguel möchte auch für die Zukunft seiner sechs Kinder sorgen. "Ich möchte gerne mehr Land kaufen, damit ich jedem meiner Kinder etwas hinterlassen kann und sie nicht als abhängige Landarbeiter für einen Großgrundbesitzer arbeiten müssen." Was das bedeuten würde, sieht er täglich bei einem Nachbarn: Ein Leben in bitterer Armut.

Damit aus diesem Plan etwas wird, packt die ganze Familie mit an. Selbst die siebenjährige Lydia hilft mit, den Kaffee zu waschen. Miguels ältester Sohn Gabriel übernimmt mit seinen 16 Jahren die Verantwortung für die Kaffeeernte, wenn sein Vater wie jede Woche nach San Cristóbal fährt. Miguel ist einer der Direktoren der Kooperative Mieles del Sur und die Gemeinschaft hat sich ein großes Projekt für das nächste Jahr vorgenommen: Sie wollen ein eigenes Lagerhaus für den Honig bauen, damit kein Gebäude mehr gemietet werden muss. Das spart auf lange Sicht Geld und erhöht den Gewinn der Bauern. "Im letzten Jahr haben wir einen Lastwagen gekauft, und es macht sich jetzt schon bemerkbar, dass wir keinen mehr mieten müssen", erklärt Miguel. Gleichzeitig müssen Transport und Ausfuhrgenehmigungen organisiert werden, die Abrechnungen müssen stimmen und die Qualität des Honigs muss überprüft werden. Vor allem aber macht sich Miguel Gedanken um Schulungen für die Mitglieder der Kooperative. "Alles, was uns hilft, die Qualität unseres Honigs zu steigern und effektiver zu arbeiten, ist wichtig".

Manchmal braucht es dazu nicht viel mehr als eine gute Idee. So hat Miguel eine höchst einfache, aber sehr wirkungsvolle Methode erfunden, um Rahmen für die Bienenwaben vorzubereiten: Auf die mit Draht bespannten Holzrahmen werden Wachsplatten geklebt, an denen die Bienen dann die Waben bauen. Um die Wachsplatten möglichst fest anzubringen, legt er eine auf den Draht, erzeugt mit zwei Kabeln einen Stromkreislauf und schon ist das Wachs fest mit dem Rahmen verbunden. Die Kabel hat er selber gebastelt.

Harte Arbeit, Ideenreichtum und die Chance auf einen Fairen Preis haben Miguel und seiner Familie einen bescheidenen Wohlstand beschert, und den teilen sie mit den Bewohnern ihres Dorfes. Die kleine Gemeinde begeht das Fest zu Ehren der Heiligen Jungfrau von Guadalupe, den höchsten Festtag Mexikos.


Zu diesem Anlass schlachtet Miguel zwei Schweine, deren Fleisch sie vor der Kirche an jeden verschenken, der Hunger hat. "Es ist wunderbar, dass wir uns das leisten können", findet seine Frau Mercedes, auch wenn sie um vier Uhr in der Frühe aufstehen muss, um alles vorzubereiten.

An diesem Tag gehen alle gemeinsam zur Kirche, die Mädchen tragen Blumen. Es ist der Tag, an dem die Bauern die Heilige Jungfrau um das Wichtigste bitten: Eine gute Ernte, und "dass der Faire Handel blühen möge", fügt Miguel für sich hinzu.

Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Christian Nusch

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Peru verfasst, den ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Titel: Peru Kompakt
Autoren: Katharina Nickoleit, Kai Ferreira-Schmidt
276 Seiten
36 detaillierte Karten und Ortspläne, Umschlagkarten, Register, Griffmarken, 120 Farbfotos ISBN 3-89662-338-9
Verlag: Reise Know-How
2. Auflage 2005





[kol_1] Macht Laune: Farbenfrohe Flaggenspiele für Angela

Eine kleine Fußballfanatikerin konnte sich, so sehr sie ihre Nationalmannschaft auch liebte und verehrte, nicht mit den Farben ihre Landes schmücken. Auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Dilemma, die Zugehörigkeit zu ihrem Team, nicht zeigen zu können, ohne dass ihr übel wurde, zog sie übers Land und traf als erstes auf einen brasilianischen Fußballfan, die inbrünstig in eine Plastiktrompete blies.

"Lieber brasilianischer Fußballfan", sagte die kleine Fanatikerin, "du hast aber ein schönes Trikot an."
"Das sind die Farben Brasiliens", antwortete der brasilianische Fan:

"Es überwiegt das Grün, die Farbe des Amazonas-Dschungels, die Farbe der Natur, der saftigen Natur im Frühling, der Zeit des Wachstums allen Lebens. Und aus dem Grün heraus strahlt das Gelb der Sonne hervor. Es steht für Weisheit und Macht und in seiner reinen Form, wie sie in unserer Flagge vorkommt, für Kreativität, für höchste Ballkunst."

Begeistert von dem Zusammenspiel der beiden Farben, die in ihrer Kombination die fröhlichste Fröhlichkeit vermitteln, setzte die kleine Fußballfanatikerin ihren Weg fort und traf als nächstes auf einen mexikanischen Fußballfan, der sich im Schatten der gewaltigen steinernen Nase des aztekischen Gottes Quetzalcóatl, der gefiederten Schlange, zur Siesta niedergelassen hatte.

"Lieber mexikanischer Fußballfan", sagte die kleine Fanatikerin, "du hast aber ein schönes Trikot an. Was bedeutet denn der Adler auf deinem Trikot?"
"Einst brach das Volk der Mexica, die heute in der Literatur meist als Azteken bezeichnet werden, von dem sagenumwobenen Ort Azlán, dessen ursprüngliche Lage zumindest geografisch noch nicht bestimmt werden konnte, auf, um gen Süden zu ziehen", antwortete der Mexikaner. "Unter der Führung des Stammesgotts Huitzilopochtli wanderten sie solange, bis sie ein Zeichen der Götter erhielten: Auf einem Kaktus in Tenochtitlán sahen sie einen Adler, der in einen Kampf mit einer Schlange verwickelt war, schließlich siegen konnte und diese verschlang. Da wussten die Mexica, dass dies das Zeichen der Götter war und sie sich an dieser Stelle niederlassen sollten."

"In meinem Kulturkreis haben wir auch einen Adler als Wappentier. Er steht für Kraft, Durchsetzungsvermögen und Weitblick", dachte die kleine Fanatikern laut.

"Für uns Mexikaner ist der Adler ein Symbol für die Sonne und damit für die Schöpfung. Der weiße Hintergrund steht für das göttliche Bewusstsein, der Adler wird so zum göttlichen Boten", sagte der mexikanische Fan.

Die Gedanken der kleinen Fanatikerin kreisten als sie weiterzog um die Gründung Deutschlands. Wie gerne hätte sie sich mit einem Mythos a la mexicana geschmückt, doch außer dem deutschen Einigungsakt initiiert durch Reichskanzler Bismarck, indem der Politiker auch noch das schöne Österreich ausstach - was aber fußballtechnisch zumindest momentan wenig ins Gewicht fällt - fiel ihr keine ergreifende Geschichte ein. Gerade als sie über die jüngsten Spiele des österreichischen Nationalteams nachdachte, sah sie einen venezolanischen Fußballfan, der mit seiner Mannschaft Österreich jüngst mit 1:0 bezwungen hatte, am Strand sitzen und die verschiedenen Schattierungen des blauen Wassers beobachten.

"Hallo venezolanischer Fußballfan", sagte die kleine Fanatikerin, ein wenig verzweifelt klingend, "du hast aber ein farbenfrohes Trikot an. So eins hätte ich auch gerne, aber dann würde niemand mehr erkennen, dass mein Herz für das deutsche Team schlägt."

"Oh weh", brachte der venezolanische Fan, von einem lauten Ein- und wieder Ausatmen begleitet, hervor. "Da hast du aber ein schweres Los gezogen. Die Farbkombination Schwarz-Rot-Gold steht an der Spitze aller geschmacklichen Verirrungen in der weltweiten Flaggengeschichte. Mit keiner anderen Flagge wird das ästhetische Auge mehr beleidigt als mit eurer. Schwarz steht für Trauer und Gold ist nicht mehr als eine Verunreinigung des Gelbs; das reine Gelb wird unter der Zugabe auch nur eines Hauchs einer anderen Farbe entwertet, unschön und schmutzig. Man hätte Männer und Frauen wie Goethe, der sich in seiner Farblehre bereits über die leichte Entstellbarkeit der Farbe Gelb ausgelassen hat, zurate ziehen sollen."

Als er aufblickte, hatte die kleine Fußballfanatikerin Tränen in den Augen und ihm blutete bei diesem Anblick das Herz. Geschwind streifte er sein Trikot ab und zog es ihr über:

"Bekenne Farbe, kleine Fanatikerin! Gehe zu eurer Kanzlerin und ermahne sie ihrer ästhetischen Pflichten. Auf das dir die drei Primärfarben unserer Flagge beistehen: das Rot möge ihre Rationalität einschränken und Leidenschaft und Begierde wecken, das Gelb appelliere an ihre Weisheit, auf dass sie nicht trotzig an der seit dem Mittelalter bestehenden Farbkonstellation festhalte, und das Blau möge ihre emotionale Kälte brechen und unerfüllten Sehnsüchten, die sich komplementär zu Disziplin und Strenge verhalten, Raum einräumen."

Text: Dirk Klaiber
Fotos: Dirk Klaiber / Thomas Milz





[kol_2] Grenzfall: 70 Jahre Spanischer Bürgerkrieg
Historisch-fiktive Reportage über die Ereignisse vom 7. November 1936

Der spanische Bürgerkrieg, dessen Ausbruch sich dieses Jahr zum siebzigsten Mal jährt, war Vorgefecht des 2. Weltkriegs, der vorweggenommene Kampf zwischen dem europäischen Faschismus und den Kräften der Demokratie, des Fortschritts und des Sozialismus. "Das große Ringen zweier nicht miteinander zu vereinbarender Kulturen, Liebe kämpft gegen Hass, Frieden gegen Krieg, die Bruderschaft Christi gegen die Tyrannei der Kirche." (F.Valeras am 8.November 1936 über Radio Madrid).

Seit dem 1. November rücken die Franco Truppen, 25.000 Mann stark, auf Madrid vor. Technisch und organisatorisch sind sie den verteidigenden Republikanern weit überlegen. Am 4. November nehmen sie den Vorort Getafe ein, am 5. November dringen sie in die Vororte Alcarcon und Leganes vor; hier liegen die Endstationen einiger Buslinien und Straßenbahnen Madrids.

Die Geschichte des 7. Novembers beginnt eigentlich am 6. November. An diesem Tag versuchen die Franco-Faschisten über den Arbeitervorort Carabanchel auf die Segovia- Brücke vorzustoßen, um den Manzanares zu überschreiten und in die Innenstadt von Madrid zu gelangen. Aus den umkämpften Vororten ergießt sich ein Flüchtlingsstrom in die Innenstadtbezirke, ein langer Zug bestehend aus Menschen, Tieren und Karren.

Ein Mann aus dem Flüchtlingsstrom tritt auf uns zu: "Entschuldigen Sie, wo werden hier die Gewehre ausgegeben?"
Wir fragen zurück: "Zu welcher Organisation gehörst Du?"
"Zu keiner."
"Zu welcher Partei?"
"Zu keiner."
"Was bist Du?"
"Landarbeiter."
"Sag Kamerad. Wozu willst Du ein Gewehr?"
"Ich will mein Land verteidigen."
"Hat man es Dir weggenommen?"
"Mir? Ich hatte keines, die Volksfront hat es mir gegeben."

Es gibt an diesem 6. November auch einen Zug in die andere Richtung, in die umkämpften Stadtteile. Wir begegnen einer langen Kolonne von Männern, die vom Retiro-Park kommend in Richtung Puerta del Sol marschiert. Alle in Zivil, unbewaffnet. Wer sind sie? Wohin wollen sie?
"Es sind die Männer vom Baugewerbe und sie ziehen nach Carabanchel ."
"Ohne Waffen?"
"Sie gehen die Gefallenen abzulösen."

Zur gleichen Zeit machen sich immer mehr Alte, Frauen und auch Kinder auf den Weg an die Front. Sie wollen die Kämpfenden mit Proviant, Wasser und Decken versorgen Auch im Regierungsviertel herrscht hektische Aktivität. Deren Ziel ist aber ein ganz anderes: Die Regierung flüchtet - Verzeihung - verlegt ihren Sitz nach Valencia. Um 18.45 Uhr hat Premierminister Largo Caballero die Zustimmung des Kabinetts dafür eingeholt. Einige Minuten später sitzt er in seinem mit Koffern bepacktem Wagen.

General Miaja war als Vorsitzender einer Verteidigungsjunta, bestehend aus Vertretern aller in der Volksfront organisierten Parteien und Gewerkschaften, eingesetzt worden. Von Largo Caballero sollte er in diesen Novembertagen nichts mehr hören, abgesehen von einem Brief folgenden Inhalts, überbracht von seinem Adjutanten: In Anbetracht dessen, dass das Kriegsministerium und der Generalstab bei ihrer Abreise nicht vermocht hatten, Essgeschirr und Wäsche mitzunehmen, was sich jetzt unangenehm auswirke, bitte man, dem Überbringer Ess- und Teeservice des Kriegsministeriums auszuhändigen, einschließlich der dazugehörigen Tischtücher und Servietten; man solle auch für den notwendigen Automobiltransport zur sofortigen Übermittlung der genannten Gegenstände nach Valencia sorgen.

Währenddessen strömen immer mehr Menschen zu den Manzanares-Brücken, nach Carabanchel und in den Casa de Campo-Park. Barrikaden wachsen in den Straßen, provisorische Haufen aus Pflastersteinen und Möbelstücken. Im Casa de Campo werden Schützengräben ausgehoben. Gruppen von Frauen ziehen durch die Straßen, Gewehre geschultert und mit durchdringender Lautstärke schreiend: "Uno, dos, tres, quatro, siete. Todos los hombres al frente." Ohne jede Führung und Anweisung durch die Regierung hat Madrid sich entschlossen, sich selbst zu verteidigen.

Im Kriegsministerium: General Miaja versammelt den neuen Generalstab und die Gewerkschaftsführer um sich. Von den Gewerkschaftsführern verlangt er die Mobilisierung von 50.000 gewerkschaftlich organisierten Arbeitern innerhalb der nächsten 24 Stunden. Sie sollen die Stadt zwei Tage lang halten, bis Reserven eintreffen.

In jedem Volkshaus, ja in jedem Theater Madrids, versammeln sich die über den Rundfunk mobilisierten Gewerkschaftsmitglieder. Die Handlungsgehilfen im Theater Calderón, die Straßenkehrer im Español, die Grafiker im Comedia und die Friseure im Zarzuela Theater.

Zarzuela Theater: Fast 300 ihres Gewerbes sind hier, unter ihnen Meister, Gesellen und Lehrlinge. Es fehlen ungefähr hundert. Einige sind in Kommissionen abdelegiert worden, andere sind für die Wache in der Casa del Pueblo eingeteilt, acht sitzen im Vorzimmer des Kriegsministeriums. Andere haben verschlafen, die restlichen trudeln nach und nach ein. Alle Altersstufen sind vertreten: von fünfzehn bis achtundsechzig.

Aber es gibt nicht genug Gewehre. Die wenigen werden von Hand zu Hand weitergegeben und einige Waffenkundige erklären den Ahnungslosen, wie man das Gewehrschloss öffnet, wie man zielt etc. Jacinto Bonifaz steigt auf eine Bank und spricht zu der Menge: "Genossen, die Stunde ist gekommen. Diese faschistische Kanaille steht vor den Toren Madrids... General Miaja, der die Verteidigung Madrids übernommen hat, erwartet, dass unsere Gewerkschaft ihre Mission erfüllt, genau wie die anderen, die sich zu dieser Stunde, wie ihr wisst, an verschiedenen Orten der Stadt versammeln. Die Losung heisst schlicht und einfach: nicht zurückweichen. Wohin man uns schickt, dort bleiben wir: tot oder lebendig."

Epifanio Salcedo erhebt die Stimme: "Mit was sollen wir losziehen? Mit unseren Rasiermessern?"
"Wir haben für drei Mann je ein Gewehr", spricht Jacinto Bonifaz weiter. "Das genügt. Auf alle Fälle werden immer hundertfünfzig von uns parat sein und dafür sorgen, dass sie nicht durchkommen. Und sie werden nicht durchkommen, no pasarán! Und wenn sie durchkommen, wird es keinem von uns mehr etwas ausmachen. Falls einer es sich anders überlegt, soll er´s jetzt sagen. Bildet jetzt zu zehnt immer eine Gruppe, nach Belieben, und ernennt jeweils einen zum Anführer, und zwar einen, von dem ihr meint, dass er starke Nerven hat; und dann einen, der ihn, wenn er fällt, ersetzen soll. Und für den einen wieder einen, und so weiter."

"Hat noch jemand eine Frage?", erkundigt sich Bonifaz, bevor er von der Bank heruntersteigt. Niemand achtet auf ihn, denn sie sind bereits dabei, ihre Gruppen zu bilden. "So, dann tretet jetzt bitte in Dreierreihen an. Gleich werden die Mauser Gewehre gebracht." Ungefähr ein Drittel von ihnen hat noch nie eine Waffe in der Hand gehabt. "Bis fünf Uhr habt ihr genug Zeit zum Üben."

7. November 1936, der 19. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution. Es ist kalt, feiner Regen fällt auf Madrid. Madrid ist eine andere Stadt geworden: Jedes Haus ist eine Festung, auf den Dächern und Balkonen sind Molotowcocktails aufgereiht, bereit auf die Angreifer geworfen zu werden, die Fenster sind mit den Matratzen der Bewohner verbarrikadiert. Häuser- und Straßenkomitees sind gebildet, die den Barrikadenbau organisieren, Waffen - und seien es alte Jagdgewehre und Schrotflinten - requirieren und verteilen. Die Frauen haben das Nachschubproblem gelöst, indem sie mit der Metro oder der Straßenbahn an die Front fahren und die Kämpfenden mit allem versorgen, was sie brauchen. Die Untergangsstimmung hat sich mit der Regierung nach Valencia verzogen.

Carabanchel: Wir befinden uns an der Landstraße nach Extremadura. Einer der Milizsoldaten, Antonio Coll, erzählt uns, dass er vor dem Bürgerkrieg Amtsdiener im Marineministerium war. Seitdem kämpft er für die Republik. Vor ein paar Tagen war er im Central Kino und hat sich den Film "Tschapejew" angeschaut. Das Rasseln von Panzerketten ist zu hören. Sieben italienische Fiat Panzer rollen heran, sie walzen durch die erste Barrikade. Antonio Coll geht in einem Hauseingang in Deckung, wartet bis der erste Panzer herangekommen ist und hält seine Zigarette an die Zündschnur der Dynamitstange, die er in den Händen hält. Dann springt er aus der Deckung und wirf sie unter den ersten Panzer. Die Explosion bringt diesen zum Stehen. Handgranaten fliegen gegen den Turm, der Panzerangriff stockt, ein zweiter Panzer fängt Feuer. Die Milizionäre springen aus ihren Verstecken: "Jetzt sind wir die Angreifer!"

Eine wütende, unzureichend bewaffnete Volksmasse stürzt sich einer Brandung im Sturm gleich auf den Gegner. Aber es ist ein ungleicher Kampf. Menschen mit bloßen Händen gegen stählerne Maschinen. Auch als die Ersten fallen, gehen die anderen weiter voran. Sie beginnen zu laufen, springen über Hindernisse, Granattrichter und Erdspalten und kümmern sich nicht um die Geschossgarben, die blutige Lücken in ihre Reihen reißen; und wenn sie keine Gewehre haben, werfen sie mit Steinen.

Casa de Campo: Am Lago Casa de Campo treffen wir wieder auf Jacinto Bonifaz und seine Friseure. Hinter ihm liegt ein Mann, den er schon einmal gesehen hat, im Volkshaus. Er wartet darauf, dass sie Jacinto töten, um an sein Gewehr ranzukommen. Oder um es ihm wegzunehmen, sobald Jacinto Angst bekommt, denn so haben sie´s ausgemacht. Angst? Angst wovor? Vor den Faschistenschweinen? Das wäre ja noch schöner. Hier lässt sich niemand einschüchtern.

Rechts vor Jacinto steht Sindulfo Zambrano, vom Gewerkschaftsvorstand, links von ihm Don Pedro Gandarias, von der Plaza de la Cebada. Und hinter ihm liegen Pinto und der hinkende Juan. Und dahinter kann er noch Juan Perez und Valeriano Monzon aus der Calle de Atocha erkennen, allesamt unrasiert.

Wann hat man das schon mal gesehen? Unrasierte Friseure! Andererseits, wann hätte man je so viele Friseure auf einem Haufen gesehen, die noch dazu ein Bataillon bilden? Das Figaro-Bataillon: hört sich gut an, ein guter Name. Zweihundertfünfzig von ihnen stehen auf einem Abschnitt von 300 Metern. Und sie schießen, ohne zu zielen zwar, aber ununterbrochen. Die Marokkaner der Franco-Truppen fallen, einer nach dem anderen, wenn auch nicht unbedingt die, die man aufs Korn genommen hat. Jacinto Bonifaz zielt sorgfältig auf einen Fähnrich und trifft.

"Glück muss man haben." Das war das Letzte, was er sagte. Eine Kugel traf ihn in den Mund. (weg: und trat zum Hinterkopf wieder heraus.) So konnte er nicht einmal mehr ein "Ai!" ausstoßen. Ramiro Hinojosa nimmt sein Gewehr und pflanzt das Bajonett auf. Doch das braucht er nicht mehr. Ein Maschinengewehr, das plötzlich aus dem Nichts auftaucht, stoppt den Vormarsch der Eliteeinheiten. Aufatmen. Aber sie stehen noch an der gleichen Stelle, an der man sie bei Morgengrauen aufgestellt hat. Und es ist bereits zwölf.

Ähnliche Szenen spielen sich an diesem 7. November an vielen Stellen rund um Madrid ab. Gegen alle militärische Wahrscheinlichkeit gelingt es den Franco Truppen nicht, nach Madrid einzudringen, im Gegenteil: an einigen Stellen erzielen die Verteidiger sogar Raumgewinn. Bei einem dieser Angriffe wird ebenfalls ein italienischer Panzer zerstört. Als die tote Besatzung durchsucht wird, findet man bei dem Panzerkommandanten ein Dokument mit dem Titel: "Operationsbefehl Nr. 15". Es ist der Plan des Franco-Generals Varela für die Einnahme Madrids. General Miaja kann zwar die Verteidiger entsprechend den Angriffsplänen Francos umgruppieren, aber es fehlt an Waffen, und es fehlt vor allem an Reserven.

8. November 1936: Wir fahren Richtung Valencia. Plötzlich geht es nicht mehr weiter. Eine nicht enden wollende Kolonne von Lastwagen kommt uns entgegen. Auf ihnen, dicht gedrängt, Männer in Uniformen. Sie singen. In welcher Sprache singen sie? Es sind keine Spanier. Woher kommen sie? Unser Fahrer schreit: "Das sind Franzosen! Ich hab’s ja immer gesagt, dass Frankreich uns nicht im Stich lassen kann!"

Lastwagen und noch mehr Lastwagen. In welcher Sprache singen sie? Auf französisch, ja. Aber diese hier nicht. Diese hier singen auf italienisch. Und die dort? Ist das russisch? Deutsch? Tschechisch? Und die hier, auf englisch! Die Soldaten der internationalen Brigaden fahren hinauf nach Madrid.

Über die Prachtstraße Gran Via marschieren sie schließlich unter dem Jubel der Bevölkerung ins Universitätsviertel und den Casa de Campo. Gemeinsam mit dem Volk von Madrid halten sie dort die Stellungen gegen die Franco-Faschisten unter ungeheuren Opfern und Entbehrungen.

Madrid sollte erst am Ende des Bürgerkriegs, im April 1939, in die Hände der Franco - Truppen fallen - durch Verrat. Das "Wunder von Madrid" war nicht im Wirken eines "höheren Wesens" begründet, das "Wunder von Madrid" hatte unzählige Väter und Mütter aus Fleisch und Blut, mit all ihren Fehlern und Schwächen.

In diesen Novembertagen aber wuchsen sie über sich selbst hinaus und bestätigten eindrucksvoll, dass das Volk und nur das Volk die Triebkraft ist, die Geschichte schreibt.

Text: Wolfgang Hänisch

Anmerkung:
Diese Reportage wurde erstellt nach Motiven aus:
Die bitteren Träume von Max Aub
Spanisches Tagebuch von Michail Kolzow
Das Wunder von Madrid von Dan Kurzman
The struggle for Madrid von Robert Colodny





[kol_3] Helden Brasiliens: Adéus, Andreas. Ein Nachruf

Wie gut können zwei Menschen befreundet sein, wenn sie sich nur drei Monate kennen? Nicht besonders, wahrscheinlich. Beste Freunde sind etwas anderes.

Aber wenn man fremd ist in einer Stadt, die man nicht mag, wenn man sich alleine fühlt und weit weg von zu Hause ist, und dann taucht da ein Mensch auf, der einen genau versteht, der sich über dieselben Dinge aufregt oder lustig macht - dann kann es einem schon so vorkommen, als würde man sich ewig kennen.

Zunächst jedoch habe ich Andreas Kowalski kennengelernt, ohne ihn zu treffen - wir haben uns eine ganze Weile sporadisch geschrieben. Zwei Ethnologen, die sich für ähnliche Dinge interessierten, denselben Lehrer hatten und einen ähnlichen Werdegang, er schon einige Jahre weiter als ich.


Dann kam ich irgendwann nach Brasília, wo er mit seiner Frau und Tochter lebte, und wir sahen uns erstmals von Angesicht zu Angesicht, zwischen uns eine Flasche Bier auf einem Plastiktisch. Es hat nicht lang gebraucht, bis wir bemerkten, dass wir über vieles gleicher Meinung waren.

Das zweite Mal sahen wir uns ein paar Tage später, nachdem er bei mir auf der Arbeit angerufen und erfahren hatte, dass ich krank zuhause geblieben war. Eine halbe Stunde nach dem Anruf stand er vor meiner Tür; und weil er nicht genau wusste, was für ein Leiden mich befallen hatte, hatte er gleich ein ganzes Sortiment an Medikamenten mitgebracht.

Er hat in Marburg studiert wie ich. Er hat sich früh für Brasilien begeistert wie ich. Er hat im Nordosten des Landes mit Indianern gearbeitet und darüber geschrieben wie ich - er seine Dissertation, ich meine Magisterarbeit.

Bei den Canela in Maranhão, bei denen er gelebt hat, ist er in eine indianische Familie aufgenommen worden. So etwas finden Ethnologen im Feld meist zuerst toll, weil sie dann denken, endlich voll und ganz in der indigenen Gemeinschaft akzeptiert worden zu sein, und dann geht ihnen auf, dass mit der Einordnung in die Familienstrukturen eine Menge Pflichten einhergehen, die die neuen Verwandten nun wegen des neuen Verwandtschaftsverhältnisses auch explizit einfordern können. Oft ist eher das der Grund für eine Adoption als der gewachsene Respekt vor dem fremden Forscher. Das mag auch in Andreas’ Fall eine Rolle gespielt haben, aber dass seine indianische Familie ihn schätzte und mochte, und dass er sich Mühe gab, seinem indigenen Papa ein guter Sohn zu sein, war nicht zu übersehen, wenn wir über sie sprachen, oder wenn sie auf Besuch in Brasília waren, mit Kind und Kegel in Andreas’ kleiner Wohnung.

Ganz anders als ich hat Andreas in Brasilien geheiratet und ist dort geblieben. Er traf Dalva auf einer Geburtstagsparty in São Luis, die beiden verliebten sich ineinander, und wenig später, so erzählte er mir, hat er um ihre Hand angehalten. Weil er’s jetzt mal richtig machen wollte. Ihre gemeinsame kleine Tochter Hannah spricht ein Deutsch, in dem man genau den Tonfall ihres Vaters wiedererkennt. Ihr Portugiesisch ist wesentlich besser als seins, nur dass sie, wie er, das "r" nicht rollt.

Als es irgendwann klar war, dass ich nach Brasília kommen und ihn dort sehen würde, bat er mich, in Deutschland ein paar Besorgungen für ihn zu machen, ein paar wissenschaftliche Aufsätze und Bücher, an die in Brasilien schwer heranzukommen war, und - mit den Worten "Ich weiß, es ist dir bestimmt peinlich, so was zu kaufen, aber ich würde mich wirklich freuen" - nicht etwa einen Playboy, sondern ein Bussi-Bär-Heft. Damit Vater und Tochter an regnerischen Tagen etwas zum Basteln hätten. Er mochte es nicht besonders, wie viele brasilianische Eltern ihre Kinder erzogen - viel Plastik, wenig Substanz, sechsjährige Mädchen mit Stöckelschuhen und bauchfreien Tops - und er tat sein Bestes, es anders zu machen. Ich habe meinen Beitrag geleistet und gleich drei Bussi-Bär-Hefte gekauft.

Er hat mir viel davon berichtet, wie schwierig es sein kann, über kulturelle Grenzen hinweg verheiratet zu sein - dass man oft in Bereiche vorstößt, in denen eine Verständigung fast unmöglich ist. Und er hat mir immer wieder versichert, dass er das Richtige getan hat. Dass er glücklich ist mit seiner Frau und seiner Tochter.

Nur mit Brasília war er nicht wirklich glücklich, und das war wiederum eine Sache, die wir gemeinsam hatten. Also verbrachten wir viel Zeit damit, uns gegenseitig zu erzählen, was an Brasília hässlich und was an den Brasilianern anstrengend ist. Eine Flasche Bier zwischen uns auf immer wieder anderen Plastiktischen. Oder in den langen Gesprächen bei mir zuhause, auf dem Balkon meiner kleinen, karg möblierten Einzimmer-Junggesellenwohnung mit Blick auf ein mit Wellblech überdachtes Schwimmbad, auf dem jeder Schauer donnerte wie eine Sturzflut und jede Sturzflut wie das Ende der Welt.

Andreas hat viel Pech gehabt - nur wenig ist so gelaufen, wie er es sich gewünscht hätte. Jahrelang versuchte er, seinen deutschen Doktortitel in Brasilien anerkennen zu lassen, damit er dort eine Lehrerlaubnis bekommt. Doch die brasilianische Bürokratie, an der Kafka seine helle Freude hätte, erfand immer neue und immer absurdere Hindernisse, um sie ihm in den Weg zu stellen.

Als ich ihn traf, war er schon geraume Zeit arbeitslos und lebte mit Frau, Kind und einer angeheirateten Nichte in einer viel zu kleinen Wohnung. Die Nichte hatte irgendwann vor der Tür gestanden - sie wollte in Brasília studieren und musste irgendwo unterkommen, und Familie ist Familie. Alle vier mussten mit dem schmalen Gehalt auskommen, das Dalva als Journalistin verdiente. An größere Anschaffungen oder gar Urlaub war kaum zu denken, und es war ein großes Ereignis, als die Familie sich nach langem Sparen ein Auto leisten konnte. Auch für mich, denn ich war bei vielen Ausflügen mit eingeplant und hatte sonst wenig Möglichkeiten, aus der Stadt herauszukommen. Andreas war ein leidenschaftlicher Ausflugsplaner, auch wenn die Anzahl tatsächlich stattgefundener Ausflüge weit hinter dem zurückblieb, was wir uns ausmalten, über Straßenkarten und Reisebroschüren gebeugt.

Er zeigte mir die wenigen Orte in der Stadt, die er gerne mochte. Am besten gefiel uns beiden ein kleiner Park, in dem man einfach den ursprünglichen Bewuchs der Region hatte stehen lassen. Dort gab es verschlungene Pfade, auf denen man sich wie in der Wildnis fühlte und fast vergaß, wie nah die Hochhäuser und sechsspurigen Schnellstraßen waren. Wir schlenderten sie entlang und erzählten uns gegenseitig unsere Leben, immer wieder verblüfft über die Vielzahl der Dinge, die wir ähnlich entschieden, erlebt oder empfunden hatten. Es gab klare Bäche, vielstimmigen Vogelgesang und eine hölzerne Brücke, auf der man stehen und Schildkröten in einem kleinen Teich beobachten konnte. "Guck mal die da vorne", sagte er dann, mit verschränkten Armen auf das Geländer gestützt, und ich: "Ja, oder die da hinten."

Das zähe Ringen um die Anerkennung seiner Doktorwürde und das ewige Warten auf eine Verbesserung seiner Lage hatten Andreas zermürbt, manchmal war er depressiv und zynisch. Manchmal verstummte er mitten im Gespräch, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und schwieg. Ich weiß nicht, ob das eine Geste der Müdigkeit oder der Verzweiflung war, oder beides. Dann hob er den Kopf und machte einen Witz.

Er war ein hervorragender Zuhörer und vergaß nie, was man ihm erzählt hatte, auch wenn er manchmal erst Minuten später darauf antwortete, manchmal sogar Tage später: Er nahm das Gesagte mit nach Hause, dachte darüber nach und teilte das Gedachte bei der nächsten Gelegenheit mit mir.

Das letzte Mal, als ich von ihm hörte, hatte gerade sein antiquierter Laptop den Geist aufgegeben und dabei ein halbes Jahr intensiver Arbeit an einem Antrag für ein Forschungsprojekt, an das er viele Hoffnungen knüpfte und von dem auch ich vielleicht Teil geworden wäre, mit ins Nichts gerissen. Andreas berichtete mir davon in seinem üblichen lakonischen Tonfall: "Vorletzte Woche ist bei meinem Laptop die Festplatte kaputt gegangen. Schade. Und auch ärgerlich, da ich die letzte Sicherung der Daten im Februar vorgenommen habe. Und die vorletzte im November letzten Jahres. Aber man sagt ja, in jeder Krise stecke auch die Chance eines Neuanfangs." Ein guter Teil seiner Lebensphilosophie, jedenfalls, wie ich sie mir zusammenreime nach der wenigen Zeit, die wir uns kannten, steckt in diesen paar Sätzen. Ich musste zwischen den Zeilen nicht lange nach seiner Enttäuschung suchen. Aber ich wusste, dass er am Ende einen Witz machen und die Fäden wieder aufnehmen würde.

Am 29. September saß er als einziger Ausländer in einem Flugzeug, das auf dem Weg von Manaus zurück nach Brasília war. Ich kann immer noch nicht recht glauben, dass der allerorten zu lesende Satz "Unter den Passagieren war auch ein deutscher Wissenschaftler" bedeutet, dass mein Freund Andreas tot ist. Ich sage mir, dass er vielleicht darüber lachen würde, wie er über andere seiner Missgeschicke lachen konnte. Immerhin hat es ja schon etwas Klassisches, als Ethnologe über dem Urwald abzustürzen. Auch wenn es eine Linienmaschine auf dem Weg in die Hauptstadt war, und keine einmotorige Cessna mit Kurs auf ein unberührtes Urwalddorf.

Er hat mir mal gesagt, dass er hoffe, ich möge der Ethnologie treu bleiben, weil da mehr Leute gebraucht werden, die gut erzählen können. Das hat mir sehr geschmeichelt. Ich habe noch nie einen Nachruf geschrieben, und ich glaube, das hier ist einer. Ich hoffe, ich habe ordentlich von ihm erzählt, denn nichts anderes hat er verdient. Vielleicht sehen wir uns eines Tages im Ethnologenhimmel wieder, da kann ich ihn dann fragen. Wie mag es dort wohl aussehen? Vermutlich voller authentischer Indigener, die sich fröhlich von uns erforschen lassen und unsere Arbeit unentbehrlich für die Stärkung ihrer ethnischen Identität finden. Und alle Flugzeuge sind einmotorige Cessnas mit Kurs auf unberührte Urwalddörfer. Und keines von ihnen stürzt in den Dschungel und zerschellt.

Text + Foto: Nico Czaja





[kol_4] Lauschrausch: Barcelona brodelt

Diverse
Barcelona Raval Sessions II
Satélite K/ Exil 6622-2

Seit einigen Jahren ist der Barcelona-Mestiza-Sound angesagt und auch in diesem Sommer wird kräftig nachgelegt: Im Gegensatz zur 1. Barcelona Raval Sessions aus dem Jahre 2002 wird auf der zweiten Compilation jedoch auch Musik präsentiert, die nicht in der Stadt entstanden ist. So hört man hier Stücke von Boss Phobie aus Frankreich oder Amadou & Mariam, was die Qualität der Doppel-CD zwar nicht schmälert, aber ihren Titel unsinnig erscheinen lässt.

"Raval Sessions II" überrascht durchweg mit spritzigen und sehr tanzbaren Stücken, die aus Rhythmen und Einflüssen aller Himmelsrichtungen und "westlicher" Elektronik zusammengemixt werden,

Vertreten sind alte Bekannte wie Cheb Balowski, Ojos de Brujo oder Muchachito, aber auch viele Nachwuchsbands und DJ-Kollektive wie Radio Malanga oder Sr. Zambrana. Die Coverversion von "A forest" (The Cure) der Band 08001 ist leider weit hinter dem Möglichen zurückgeblieben.


Nubla
Voayeur
Mundo Zurdo/ Exil 6688-2

Das neue Album von Nubla - auf der Compilation mit dem schönen Caetano Veloso-Klassiker "Tigresa" vertreten - kann mich nicht begeistern:

Zwar haucht Nubla ihren Gesang mit schöner Stimme in die Elektronischen Downtempo-Klangteppiche, aber das ist nichts Neues. (vergleiche die britischen Triphoper, Bebel Gilberto u.a.) Schöne Hintergrundmusik, aber nicht mehr!


Patriarcas de la Rumba
Cosa Nostra [+DVD]
Satélite K/ Exil 6857-2

Die alten Herren der Rumbatruppe Patriarcas de la Rumba hingegen lassen in ihrem Beitrag auf Raval Sessions II den gewissen Funken überspringen. Ihre Spiel- und Gesangsfreude ist ansteckend, selbst für einen nicht so großen Rumba-Anhänger. Unterstützt werden sie von den Musikern der Gruppe Sabor de Gracia.

Und auch die Ironie in vielen der traditionellen Texte (und in den Coverfotos, die die Tios als Mafiosi darstellen sollen) macht Spaß: Katalanische gitanos in Höchstform!



Wagner Pa
Melic
Boacor/ Exil 6767-2

Nicht auf dem Sampler vertreten ist - erstaunlicherweise - der in Barcelona lebende Brasilianer Wagner Pa.

Sein neustes Werk "Melic" - Bauchnabel in català - ist eine gelungene Mischung aus Afro-Funk, Samba, Jazz, Ska und weiteren Zutaten, wie zum Beispiel dem brasilianischen Maracatú-Rhythmus in der Hommage an die Gottheit "Eleguá" oder der Salsa in "Cara Nueva".


Im ruhigeren Titel "Boomerang" schaut auch sein berühmter Kollege Chico César mal vorbei. Kaufen!

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon.de






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