caiman.de 11/2006

[art_2] Brasilen: Präsidentschaftswahlen 2006 - Lula geht in die Verlängerung

Früher war Luiz Inácio Lula da Silva gegen eine zweite Amtszeit des Präsidenten. Eine Amtszeit sei genug, hörte man ihn und die PT-Parteikumpels noch 1998 rufen. Damals ließ der konservative Präsident Fernando Henrique Cardoso kurzerhand die Verfassung um- und die Wiederwahl in diese hineinschreiben. Aber damals war Lula ja noch nicht Präsident.

Nun ist Lula schon seit vier Jahren an der Macht, und dank der 58 Millionen Wählerstimmen darf er noch einmal weitere vier im Amt bleiben.

"Alles werden wir in dieser zweiten Amtszeit besser machen", verspricht er am Abend des 29. Oktobers in einer ersten Stellungnahme nach seinem Wahlsieg in einem Hotel in São Paulo.

Überraschend war Lula im ersten Wahlgang am 01.Oktober nicht direkt wiedergewählt worden. Bei knapp 49% blieb die Wahluhr stehen, während der als bodenlos uncharismatisch abgekanzelte Gegenkandidat Geraldo Alckmin nahezu unglaubliche 42% erlangte.

Lula hatte sich etwas vergaloppiert. Zu sicher war er sich gewesen, direkt im ersten Wahlgang im Amt bestätigt zu werden. So blieb er TV-Debatten mit seinen Gegnern einfach fern, was man ihm als Arroganz auslegte. Als dann noch am Tag vor der Wahl Bilder von haufenweise Geldscheinen auftauchten, mit denen Lulas PT angeblich belastendes Material gegen Alckmin kaufen wollte, kippte die Stimmung in Brasilien und Lula musste nachsitzen. Weitere vier Wochen anstrengendsten Wahlkampfs folgten, während dem Lulas Gesicht zunehmend faltiger und der Präsident immer dünner wurde.



Doch Lula war aufgewacht, hatte die Gefahr erkannt und begann, für sein Amt zu kämpfen. Jetzt zeigte sich in den vier TV-Debatten mit Alckmin, wie sehr er diesem rhetorisch überlegen war. Und gegen Lulas Doppeltaktik, zum einen den "Lula Friede-Freude-Eierkuchen" (Lula paz e amor) von 2002 wieder zu spielen und Alckmin gleichzeitig als üblen Neoliberalen und Privatisierer von Staatsbetrieben hinzustellen, wusste sich der gelernte Arzt mit dem schütteren Haar überhaupt nicht zu wehren. So war Lulas Sieg im zweiten Wahlsieg zum Schluss locker herausgespielt. Mehr als 20 Millionen Stimmen trennten ihm von Alckmin.

Lula hat sich für die nächsten vier Jahre viel vorgenommen. Aus den Fehlern der ersten Amtszeit habe man gelernt, und jetzt werde man Gas geben. "Über die Straßen, über die wir bisher mit 80 Kilometern in der Stunde gefahren sind, können wir jetzt mit 120 rasen. Denn jetzt kennen wir die Strecke - und können Gas geben wie Felipe Massa." Kein Projekt werde länger als 30 Tage auf seinem Schreibtisch liegen, verspricht der 61-jährige auf der improvisierten Pressekonferenz kurz nach Bekanntgabe seiner Wiederwahl.

Und ruck-zuck geht es weiter. Wenig später ist Lula auf der Avenida Paulista, wo ihm seine Partei ein rauschendes Siegesfest organisiert hat. Doch gerade einmal schlappe 5.000 Fans haben sich auf São Paulos Finanzmeile versammelt.

Vor vier Jahren, als Lula als erster Arbeiter in den Präsidentenpalast eingezogen war, lagen sich an gleicher Stelle noch 100.000 Menschen in den Armen. Jetzt hat das Ganze einen leicht melancholischen Touch.

Vorbei die klassenkämpferischen Zeiten. "Der Sieg gehört dem Volk, nicht mir oder der PT", sagt ein erschöpft und irgendwie entrückt wirkender Lula.

Zwei Jahre ununterbrochene Skandale haben ihre Spuren in der PT hinterlassen. Mit der Bingomafia soll mal angeblich gemauschelt haben, dazu noch oppositionelle Parlamentarier gekauft und viel Geld in die eigenen Taschen gesteckt haben. "Ich weiß nicht, inwieweit Lula selbst in die Korruptionsskandale verwickelt ist. Aber das ist auch gar nicht die Frage. Viel wichtiger ist, dass die Sozialprogramme weiterlaufen. Und deshalb musste Lula gewinnen." So wie diese PT-Aktivistin denken wohl viele Lula-Anhänger.

Es gibt aber auch die, die glauben, dass die Skandale von der Opposition und den mit ihnen verbündeten Medien erfunden wurden. Und so rollt man ein Transparent auf der nächtlichen Avenida Paulista auf: "Das Volk hat die Medien besiegt!"



Ein Mittfünfziger geht sogar noch weiter und erklärt Lula zum Opfer der US-Politik. "Diese Skandale sind alle von langer Hand durch die CIA vorbereitet worden. Teil eines kontinentalen Plans um Hugo Chávez zu stürzen. Und dahinter steht niemand anders als US-Außenministerin Condoleezza Rice."

"Lasst den Mann einfach weiterarbeiten", rufen die PTler. Lula scheint es gehört zu haben. Denn schon eilt er von der Bühne. Man habe viel zu tun und keine Zeit zu verlieren, rechtfertigt er seinen kurzen Auftritt bei der Wahlparty. Die Türen der verdunkelten Limousine schlagen zu, und der alte-neue Präsident rauscht davon, seiner zweiten Halbzeit als Präsident entgegen.

Zurück bleibt der harte Kern der Feierwütigen. Zu flotten Sambaklängen tanzt man auf der Paulista, eine Perkussiongruppe zieht lautstark über die nachtdunkle Meile. Einige Angetrunkene im Freudentaumel schwenken ihre Fahnen in den sternenlosen Himmel, während eine Gruppe von Obdachlosen vor den Türen einer Apotheke bereits dem Getöse entschlummert ist.

Text + Fotos: Thomas Milz