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[art_2] Brasilien: Zukunftspflanze Zuckerrohr

Die Macheten geben jedes Mal einen singenden Klang von sich, wenn das Zuckerrohr kurz über dem Boden abgeschlagen wird. Mit der linken Hand, die in einem ledernen Schutzhandschuh steckt, greift der Cortador, der das Zuckerrohr schlägt, die Stangen, um mit der rechten den Schlag auszuführen. Dann wirft er die abgeschlagenen Stangen zur Seite und kämpft sich weiter durch das dichte, etwa zwei Meter hohe Feld.



"Gestern ist das Feld abgebrannt. Das war nicht geplant, da das Zuckerrohr eigentlich noch gar nicht zur Ernte vorgesehen war. Aber jemand hat wohl eine Zigarette weggeworfen, und so ist es abgebrannt", sagt Eduardo Silva Dutra, Ingenieur der Usina Albertina, die täglich 7,500 Tonnen Zuckerrohr verarbeitet.

Normalerweise werden die Felder nach einem vorher festgelegten Plan abgefackelt, um die Bevölkerung auf die dichten Qualmwolken vorzubereiten. Bei Anbruch der Nacht wird Feuer gelegt, und innerhalb von 10 bis 15 Minuten brennen die Blätter der Zuckerrohrpflanze ab und lassen nur die gelb-braunen Stangen zurück.

Sertãozinho ist eines der Zentren der brasilianischen Zuckerindustrie. So weit das Auge reicht, erstrecken sich die grenzenlosen Felder über die plane Ebene. Die Stadt lebt von Zucker und Alkohol. 15.000 direkte Jobs bietet das Zuckerrohr, und mindestens doppelt so viele hängen von der Produktion ab.


400 Millionen Tonnen Zuckerrohr produziert Brasilien zurzeit, aus denen 17 Milliarden Liter Alkohol und 27 Millionen Tonnen Zucker gewonnen werden. "350 Millionen Tonnen davon kommen aus der zentral südlichen Region, die den Südosten, den Süden und den Zentral-Westen umfasst", sagt Manoel Carlos Azevedo Ortolan, Präsident der beiden regionalen Pflanzerorganisationen Orplana und Canaoeste. "Die restlichen 50 Millionen Tonnen werden im Norden und Nordosten Brasiliens produziert."

Im Süden Brasiliens dauert die Ernte von April bis November oder Dezember. Im Norden und Nordosten beginnt sie im September und endet im Februar. So hat man praktisch das ganze Jahr über Erntezeit.

Hier in Sertãozinho, einer 110.000 Einwohner kleinen Stadt im Westen des Bundesstaates São Paulo,pflanzt man zwischen Februar und Mai. Dann beginnt die Ernte 15 bis 18 Monate später. Es gibt jedoch einen zweiten Zuckerrohrtyp, der innerhalb von 12 Monaten geschlagen wird. "Wir pflanzen ihn im Oktober, so dass wir ihn im Oktober oder November des nächsten Jahres ernten können", so Ortolan.


Insgesamt fünfmal kann die Pflanze abgeerntet werden, bevor neu gepflanzt werden muss. Dazwischen muss der Boden sich ein Jahr lang erholen. Dazu pflanzt man Erdnüsse oder Soja. "In der Regel bevorzugt man Erdnüsse, die etwas schneller reifen als Soja", so Eduardo Silva Dutra. "Erdnüsse sind bereits nach drei Monaten erntereif, Soja benötigt vier bis fünf Monate."

Eigentlich bieten die flachen Ebenen des zentralen Südens der Zuckerindustrie einen entscheidenden Kostenvorteil gegenüber den hügeligen Küstenregionen des Nordostens, da man Erntemaschinen einsetzen kann. Diese ersetzen die Arbeitskraft von 50 Cortadores. Die Wirklichkeit aber sieht anders aus. Viele Pflanzer weigern sich, die Maschinen einzusetzen, da sie oft die Pflanze mitsamt den Wurzeln ausreißen. Zudem ist der Boden sehr steinig, was den Einsatz der Maschinen sehr schwierig macht und sie verlangen einen hohen Kapitaleinsatz, den viele Pflanzer nicht aufbringen können.

"Die Zuckerindustrie zahlt die besten Löhne der gesamten Agrarindustrie", sagt Ortolan. "Die Arbeiter verdienen im Schnitt 900 Reais im Monat, mehr als sonst irgendwo auf dem Land." Zudem bieten die Usinas ihren Arbeitern Krankenversicherung und Fortbildungsmaßnahmen.


Auf der Usina Albertina scheint der Lohn etwas niedriger zu liegen. "Unser Lohn hängt immer davon ab, wie viel Zuckerrohr wir schneiden. Aber zwischen 500 und 600 Reais kommen immer dabei rum,"sagt Aurim. Seit 23 Jahren arbeitet der 45-jährige als Cortador. "Meine Familie lebt in Bahia, und ich sehe sie erst nach der Ernte wieder, Ende Dezember. Dort ist die Situation viel schwieriger als hier. Es gibt keine Arbeit für die Menschen. Manchmal findet man für einen Tag in der Woche Arbeit, manchmal aber auch nicht. Zudem mögen wir diese Arbeit, trotz der unerträglichen Hitze. Sie sichert unser Überleben." Wenn er lacht, sieht man die zwei Zähne, die er im Oberkiefer noch hat. Seine Schienbeine und Unterarme sind mit Metallschienen gepolstert, auf dem Kopf trägt er eine Mütze. Acht Stunden pro Tag arbeitet er auf dem Feld. Fünf Tage am Stück, dann hat er einen Tag frei.

Die Usina Albertina verarbeitet 310 Tonnen Zuckerrohr pro Stunde. Eine Tonne enthält etwa 140 Kilogramm Saccharose, aus denen entweder Zucker oder Alkohol produziert wird. Pro Erntesaison summiert sich das auf 26 Millionen Liter Alkohol und 3 Millionen 50 Kilogramm Säcke Zucker.

Pro Tag können 20.000 Sack Zucker zu jeweils 50 Kilogrammproduziert werden. Dazu kommen entweder 190.000 Liter 93%iger Alkohol, hidratado genannt, oder 110.000 Liter reiner Alkohol, anidro.


"Der hidratado ist der Sprit, mit dem in Brasilien Millionen Flexpower-Autos fahren. Er hat zwischen 92,9% und 93,5% Alkoholgehalt, der Rest ist Wasser", erklärt Eduardo Silva Dutra. "Der anidro wird dem normalen Benzin untergemischt. Er gilt zwar als 100%iger Alkohol, doch sein Gehalt liegt in Wahrheit bei etwa 99,9%."

Im Zuckerrohr sieht Ortolandie Zukunft. "In 10 Jahren werden wir in Brasilien statt 400 Millionen Tonnen 650 Millionen produzieren. Der interne Automarkt verlangt bis 2010 etwa 7 Milliarden Liter Alkohol mehr als heute. Der Export wird bei 5 Milliarden Litern liegen, 3 Milliarden mehr als heute. Und der brasilianische Zuckermarkt wird bis 2012 um 6 Millionen Tonnen wachsen."

"Die Pflanzungen werden in die Viehwirtschaftregionen Zentralbrasiliens vordringen. Wir haben etwa 220 Millionen Hektar Weideland, aber nur 180 Million Tiere – weniger als eines pro Hektar. Mit etwas Technologie könnte man die Fläche einfach halbieren. Genug Platz, um noch mehr Zuckerrohr anzupflanzen."

Fotos: Thomas Milz