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[art_2] Brasilien: Chamäleon im Winterschlaf
Ein Treffen mit dem Musiker Caetano Veloso

Rio de Janeiro im brasilianischen Winter. Über dem schicken Strandviertel Leblon hängen graue Wolken, es nieselt. Caetano Veloso, Brasiliens Musiklegende, scheint an diesem späten Nachmittag gerade erst wach geworden zu sein. Er wirkt erschöpft, zerfahren. Vielleicht hat ihn seine letzte Tournee durch die USA doch mehr mitgenommen als er zugeben will. Der Mann ist immerhin Mitte Siebzig.

Zu Beginn des Gesprächs wägt er jedes Wort sorgfältig ab. Ist es Müdigkeit oder doch nur Teil der Show? Er kokettiere stets mit seinen Launen, hört man über ihn. Wie eine Diva sieht er aber eigentlich gerade nicht aus. Seine einst unzähmbaren Haare sind mittlerweile schütter und fast vollständig ergraut. Genau wie die von Gilberto Gil. Gemeinsam mit seinem engsten Freund und langjährigen musikalischen Partner zieht Caetano seit rund einem Jahr durch die Welt. "Dois amigos, um século de música" lautet das Programm, mit dem die beiden Mittsiebziger ihre bereits 50 Jahre andauernde Karriere feiern. "Mir war anfangs nicht klar, was wir machen sollten", sagt Caetano. Er habe nicht darüber nachgedacht, dass man schon so lange im Musikgeschäft sei. Ein italienischer Produzent hatte Gilberto Gil von der Idee erzählt, eine Jubiläumstour mit den beiden zu machen. Zu Beginn sei jedoch erst einmal nicht begeistert von dem Projekt gewesen. "Ich tourte da noch mit meinem letzten Album und hatte eigentlich keine Zeit, mich auf etwas Neues zu konzentrieren. Das wird nicht gehen, Gil, habe ich gesagt." Aber Gilberto Gil ließ nicht locker und Caetano willigte schließlich ein. Das Repertoire der Shows, bei denen beide lediglich mit ihren Gitarren und ohne Begleitband auftreten, besteht aus Liedern, die ihre Karrieren prägten. Und die leicht zu behalten und zu spielen seien, fügt Caetano augenzwinkernd hinzu.


Das Publikum reagierte begeistert. Trotzdem: Caetano ist von der vielen Reiserei gezeichnet. Und von dem Durcheinander in seiner Heimat niedergeschlagen, sagt er. Nie habe er Brasilien derart polarisiert erlebt wie derzeit. Seine selbst gewählte Heimatstadt Rio de Janeiro befindet sich ausgerechnet zu den Olympischen Spielen in einer schrecklichen Finanzkrise, während Brasilien politisch führungslos dahin treibt. "Zuletzt haben sich die schlechten Nachrichten ja überschlagen, furchtbare Skandale, die Sorgen bereiten." Die Situation habe ihn zeitweise sehr frustriert, er habe die Hoffnung verloren. "Bei all der Unruhe schaue ich auf mein Brasilien und dann denke ich: Ach, hier klappt einfach nichts. In Momenten wie diesen bin ich stets sehr unsicher. Aber derzeit geht es wohl allen so."

Vor einigen Wochen trat Caetano spontan im besetzten Capanema-Haus im Zentrum von Rio auf. Nach der vorläufigen Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff Mitte Mai hatten Gegner von Interimspräsident Michel Temer das einstige Erziehungsministerium besetzt. Temers Entscheidung, das Kulturministerium MinC abzuschaffen, hatte sie zu dieser Protestaktion bewegt. Trotz Caetanos Solidaritätskonzert im Capanema-Haus stellt er klar, dass er die Absetzung Rousseffs nicht als Putsch versteht. "Ich würde es nicht so einfach einen Putsch nennen. Es stimmt nicht, dass wir in Brasilien keine Demokratie mehr haben. Auch wenn Freunde, die ich sehr mag, dies behaupten."

Brasiliens Konservative hätten vielmehr Rousseffs politische Unfähigkeit als Geschenk serviert bekommen. Gleichzeitig brach der riesige Korruptionsskandal rund um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras aus. Dadurch sei der Machtzyklus der Arbeiterpartei PT zu Ende, glaubt Caetano. "Aber die gesellschaftlichen Kräfte, die die PT an die Macht gebracht haben, sind ja noch da. Und deshalb kann im linken Spektrum etwas Neues entstehen. Was das genau sein wird, weiß ich aber nicht." Caetano, der stets sensibel für gesellschaftliche Entwicklungen war und viele in der Vergangenheit sogar mit andachte, zeigt sich derzeit ratlos.

Das Licht in seinem in schlichtem Weiß gehaltenen Wohnzimmer ist gedimmt. Gedankenverloren spielt der weltweit bekannteste und einflussreichste brasilianische Musiker der letzten 50 Jahre auf seiner Gitarre. Doch ihm wollen einfach die Texte nicht einfallen. "Ich bin eigentlich kein richtiger Musiker, habe keine großartige musikalische Intuition", sagt er mit leiser Stimme. "Ich benutze die Gitarre, um meine Lieder zu komponieren und sie vorzutragen. Aber das alles auf ganz niedrigem Niveau." Bei den derzeitigen Shows sei er froh, mit Gilberto Gil aufzutreten. "Gil spielt toll Gitarre." Er lacht. Caetano im Understatement-Modus. Wohl nur ein Spielchen, das er mit dem Interviewer treibt.


Gemeinsam mit Gilberto Gil trat Caetano Anfang August bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele auf. Viel Lust dazu hatte er nicht. "Aber ich habe denen zugesagt, schlicht und einfach um nicht absagen zu müssen." Aus dem Backstage-Bereich im Maracanã-Stadion postete er dann ein Foto, auf dem er verschmitzt lächelnd ein "Fora Temer" Schild hochhält. Es heißt von Caetano, dass er keiner Polemik aus dem Weg gehe. Und sich selber gerne widerspreche, nur um andere zu verwirren.

Aus Talkshows und Interviews aus den 70er, 80er und 90er Jahren kennt man ihn so. Da antwortete er pampig auf seiner Meinung nach dumme Fragen der Journalisten. Was andere von ihm denken, schien ihm stets unbedeutend. Doch nun zeigt er sich überraschend friedfertig. Vielleicht aber auch das nur eine der vielen Facetten des Chamäleons Caetano Veloso.

Auch musikalisch war Caetano nie auszurechnen. Auf Bossa Nova folgte der Kulturmix Tropicalismo, auf Pop-Platten schwer zu ertragene Klangkollagen. Mal sang er Tangos auf Spanisch, dann Nirwana auf Englisch, dann plötzlich "Um tapinha nao dói". Nichts war zu intellektuell oder zu banal, um nicht in Caetanos Kanon aufgenommen und damit geadelt zu werden. Ob Belanglosigkeit oder eklektische Geniestreiche - über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten.

Auftritten mit Orchestern folgte der Garage-Grunge-Sound seiner letzten Band. Dann wieder trat er lediglich in Begleitung seiner Gitarre auf, die er ja angeblich nicht wirklich beherrscht. "Früher hab ich mit Orchestern, mit Celli, manchmal mit Bläsergruppen gespielt. Und dann gab es da diese tolle Perkussiongruppe aus dem Carnaval von Bahia. Da mischte ich Cool Jazz mit Perkussion und heraus kamen starke Kontraste." Seine größten Erfolge feierte Caetano jedoch mit Balladen, die er zu einer schlichter Gitarrenbegleitung vortrug, wie seine Version von Peninhas "Sozinho". "Manchmal nimmst Du nur eine Gitarre und der Song wirkt nackt, ungeschützt und anfällig. Da schaffst Du plötzlich eine richtig intime Atmosphäre."

Ihm ist doch noch ein Lied eingefallen. Er spielt an diesem grauen Wintertag "Luz do Sol". Demnächst folgen noch ein paar Shows mit Gilberto Gil, dann ist ihre Jubiläumstour vorbei. Pläne für die Zeit danach? Eine neue Platte, eine neue Tour? "Derzeit habe ich nichts geplant." Nachdenklich zupft er an den Saiten seiner Akustikgitarre. Dann grinst er plötzlich. "Aber möglich ist ja grundsätzlich stets alles."

Text + Fotos: Thomas Milz

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