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[art_2] Spanien: Abenteuer im Zeichen der Muschel
Unterwegs auf der Vía de la Plata
 
6. Juni 2015. Diese Route, genannt Vía de la Plata, ist bei weitem nicht so populär wie der so genannte Camino Francés, der Haupt-Jakobsweg, der im Norden Spaniens von den Pyrenäendörfchen Roncesvalles oder Somport über Burgos und León nach Santiago de Compostela verläuft. Aber das Abenteuer, das an der im Boden eingravierten Muschel vor dem Südportal der Kathedrale von Sevilla beginnt, ist mit fast 1000 Kilometern immerhin der längste aller Jakobswege.

Wie fast alle, die sich an diesen entbehrungsreichen Pfad tief im Westen Spaniens, der durch immense Einsamkeiten führt, heran trauen, hatte auch ich den Camino Francés zuvor absolviert. Es sollte mir wenig nützen, denn die Vía de la Plata, die durch die Extremadura (Nomen est Omen!) führt, ist ein ganz anderes Kaliber von Pilgerweg. Der Start in der schönsten Stadt der Welt, dem besonders im heißen Juni vor Lebensfreude überquellenden Sevilla, war jedoch beschwingt und euphorisch. Denn mein Sevillaner Freundeskreis hielt sein Versprechen, mich während der ganzen ersten Tagesetappe (22 Kilometer) bis Guillena zu begleiten. Dazu gehören mein Flamenco-Lehrer Manuel, der Energieriegel-Spezialist Antonio, die in Sevilla studierende Italienerin Silvia, die Sängerin Carmen, die es sich nicht nehmen lässt, eine aztekische Trommel zur rhythmischen Begleitung ihres Gesangs mitzunehmen (sie hatte schon immer einen extravaganten Geschmack) und Angélica, die allerdings im Auto nach Guillena fahren wird, um "schon mal ein Restaurant zu reservieren" und die Truppe wieder zurück nach Sevilla zu kutschieren.

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Um 6:00 Uhr kurz vor Sonnenaufgang näherten wir uns mit unseren Muschel geschmückten Rucksäcken der Kathedrale von Sevilla. Und um 6.20 Uhr formten unsere Hände einen Kreis um die Jakobsmuschel auf der Bodenplatte vor dem Bethlehem-Portal an der Südwestecke der riesigen Kathedrale (Puerta del Nacimiento), auch Puerta de San Miguel genannt. Und hier singen wir das erste Lied aus dem von Carmen zusammen gestellten Musikprogramm. Dies ist streng genommen kein Pilgerlied, sondern ein deutsches Weihnachtslied: "Es ist ein Ros entsprungen." Damit erregen wir bei den müde über die Avenida flanierenden heimkehrenden Nachtschwärmern einiges Aufsehen und ernten neugierige, aber auch verständnislose Blicke.

Dann geht es endlich los. Wir überqueren die alte Brücke nach Triana während die Sonne hinter unserem Rücken aufgeht. In der Calle Castilla in Triana fällt ein letzter Blick auf einen schattigen Patio – da ahnte ich noch nicht, wie sehr ich die kleinste Andeutung eines Schattens während der nächsten drei Wochen vermissen würde. Am Ortsausgang von Sevilla posieren wir vor einem Graffito-Gemälde, das über dem Wappen Sevillas (No8Do) die Fassade der Kathedrale von Santiago zeigt und rechts daneben das Pilgermotto "Buen Camino!" und die gelbe Jakobsmuschel als aufgehende Sonne präsentiert.

Nach einer kurzen Durchquerung des Weltausstellungsgeländes von 1992 haben wir Sevilla erstaunlich schnell hinter uns gelassen und befinden uns mitten in der ursprünglichen Ufervegetation des Guadalquivir, umgeben von übermannshohem Schilf und Oleandergebüsch. Noch hält die Sonne ihre Gluthitze zurück, aber ab 11:00 Uhr wird die Temperatur jede Stunde um 5 Grad steigen, bis die 40° Grad Marke erreicht oder übertroffen wird. Doch vor der großen Hitze legen wir die erste Pilgerpause an einem besonders sakralen Ort ein.

Der Klosterkomplex von San Isidoro del Campo erwartet alle Besucher mit grandiosen Kunstschätzen. Von außen präsentiert sich der gotisch-mudejare Bau eher schlicht. Sobald man aber San Isidoro del Campo von innen erkundet, kann einem schwindelig werden von so unerwartet vielen erstrangigen Kunstwerken auf engstem Raum. Es ist ein Skandal, dass dieses ehemalige Kloster in einem Dorf vor den Toren Sevillas noch nicht offiziell zum Weltkulturerbe zählt. Für uns allerdings ist es ein Glücksfall, dass diese Sehenswürdigkeit von Touristen und sogar von Pilgern so wenig beachtet wird. Denn wir erleben den Luxus, ganz allein (!) durch dieses Labyrinth voller unentdeckter Schätze wandeln zu dürfen. Besonders Antonio wirkt sehr ergriffen, denn er ist zum ersten Mal hier. Wir verweilen im Kreuzgang vor dem rätselhaften Labyrinth, in dessen Zentrum ein achtstrahliger Stern prangt, der ein vierblättriges Kleeblatt umschließt und diskutieren über seine Bedeutung. Amüsiert betrachten wir danach die Engelsköpfe der Deckenfresken und die Taube des Heiligen Geistes, die sich wie eine Rakete auf uns zu stürzen scheint.

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Nebenan in der Sakristei beschließt Carmen, dass hier ein würdiger Ort sei, unser zweites Pilgerlied zu intonieren. Wir nehmen Aufstellung vor dem Altargemälde der Virgen de la Antigua und singen "Cuncti simus concanentes – Ave María". Das heißt wir anderen halten uns vornehm zurück beim Singen, damit Carmens schöne Stimme möglichst ungestört diese heilige Halle erfüllen kann.

Manuel legt einen unterwegs gesammelten Strauß Feldblumen als Opfergabe vor der Madonna nieder und als wir vom Textblatt des Pilgerliedes wieder aufblicken, haben alle Tränen in den Augen, die sakrale Atmosphäre des Klosters, gepaart mit Carmens Gesang, hat ihre Wirkung nicht verfehlt.

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Das Beste haben wir uns für den Schluss aufgehoben: den grandiosen Hochaltar von Juan Martínez Montañés, geschaffen zwischen 1609 und 1612 am Übergang von Renaissance zum Barock. Im Vertrag stand ausdrücklich, dass jede Skulptur vom Meister selbst geschaffen werden musste, ohne Mitwirkung von Assistenten. Nach langen Diskussionen tendieren die meisten Kunsthistoriker nun dazu, ihn nicht als letzten Renaissance-Altar, sondern eher als ersten Barockaltar Spaniens zu klassifizieren. Aufgrund der Harmonie seiner Proportionen und der Ausdruckskraft seiner Figuren gilt er als einer der wichtigsten Hochaltäre Europas. Wie ein goldenes Gebirge ragt er empor. Im Zentrum kniet der heilige Hieronymus als halbnackter Büßer mit rötlich schimmernder Haut, von ganz oben grüßen die mit edlen Gesichtszügen die Jungfrau Maria und die christlichen Tugenden Gerechtigkeit, Klugheit, Kraft und Mäßigung.

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Von Mäßigung kann bei den Temperaturen keine Rede mehr sein, Als wir die kühlen Kirchenhallen verlassen, laufen wir draußen gegen eine glühende Wand – und haben noch mehr als die Hälfte des Weges vor uns. Langsam schleppen wir uns schwitzend zum Ortsausgang und sehen dabei offenbar nicht sehr motiviert aus. Denn aus dem letzten Straßencafé von Santiponce gegenüber der Römerstadt Itálica tritt plötzlich ein schon leicht beschwipster Rentner hervor, der sich selbst als Philosoph des Dorfes bezeichnet, "Ánimo!", brüllt er uns zu, und ehe wir uns wehren können, hält er uns großzügig fünf gefüllte Bierkrüge zur Übernahme hin. Da greifen wir natürlich zu und vorübergehend beschleunigt sich unser Tempo, um uns kurz danach in sonnenglühende Lethargie verfallen zu lassen. Vor uns liegt jetzt eine gnadenlose Etappe, die aussieht, als würden wir uns nicht in der Provinz Sevilla, sondern schon mitten in der kastilischen Steppe befinden: eine baumlose Einöde erstreckt sich bis zum Horizont. Sehr entmutigend. Die Sonne ist so grell, dass auch die dunkelsten Sonnenbrillen nichts mehr helfen, das Wasser in unseren Plastikflaschen nähert sich der 60° Grad Marke. Erfrischung schmeckt anders! Wie komatöse Schnecken kriechen wir den staubigen Endlospfad entlang.

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Da schlägt Antonios große Stunde. Er verteilt Energieriegel auf Fruchtbasis "ganz neu, erst seit ein paar Wochen auf dem Markt, anders als alle, die ihr schon kennt!", preist er seine Entdeckung an. Ich halte dagegen mit meiner "Energiebombe" aus dem REWE, einem köstlichen marzipanigen Riegel, dessen Konsistenz durch die Hitze allerdings zu einer halbflüssigen Matsche verkommen ist. Wir bilden uns ein, dass die Riegel uns wirklich einen Energieschub liefern und erreichen den einzigen Schatten zwischen Santiponce und Guillena, ein kleines Wäldchen, wo wir uns vor dem Endspurt eine Viertelstunde ausruhen.

Die letzten drei Kilometer verlangen uns nochmal alles ab. Erneut führt der Weg durch baumlose Steppe und vorbei an Kakteen voller Spinnennetze. Der letzte Schluck heißes Wasser ist längst getrunken, als wir endlich die ersten weißen Häuserzeilen von Guillena erreichen – pünktlich zur Mittagessenszeit um 15:00 Uhr. Da klingelt Carmens Handy und unsere Freundin Angélica dirigiert uns zum Restaurant "El Poli", wo wir das wohlverdiente und sehr reichhaltige Mittagsmahl einnehmen. Das Gelage dauert Stunden und danach wäre ein Weiterwandern unmöglich gewesen.

Wir entledigen uns unserer Wanderschuhe und strecken unsere gequälten Füße unter dem Tisch aus. Angélica zückt ihren Fächer gegen die Hitze und fächelt sich mit solch eleganter Grandeza Luft zu, wie sie nur von Sevillanerinnen beherrscht wird.

Nach dem Abklingen der Siesta am frühen Abend postieren wir uns vor der leider geschlossenen Dorfkirche und intonieren das letzte Pilgerlied aus Carmens Mittelalter-Repertoire.

Diese erste Etappe von 22 Kilometern sollte eine der kürzesten bleiben und auf jeden Fall die emotionalste. Denn alle haben ihren Teil beigetragen zu diesem schönen ersten Tag: Manuel die Blumen für die Madonna in Santiponce, Carmen die Pilgerlieder und den wunderbaren Gesang, Angélica die Organisation fürs leibliche Wohl und den Rücktransport der Sevillaner, Antonio die Energieriegel, die uns über die anstrengende Etappe hinweg halfen und Silvia die Aloe Vera Salbe. Und wir waren bisher mit Sicherheit die einzige Pilgergruppe auf dem Weg nach Santiago, die zum Rhythmus einer aztekischen Trommel marschierte.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Reiseführer
Natürlich Cordula Rabe: "Vía de la Plata", Reihe Rother Wanderführer, München 2011
und Raimund Joos: "Spanien: Jakobsweg - Vía de la Plata", Conrad Stein Verlag, Welver 2014

www.sevilla.es

Kirchen
Die wichtigsten Kirchen Sevillas aufzuzählen, würde den Rahmen jedes Artikels sprengen. Neben der grandiosen Kathedrale von Sevilla (in der für Jakobspilger natürlich besonders die Santiago-Kapelle im linken Seitenschiff wichtig ist), sind die bedeutendsten Pilgerkirchen Sevillas: Iglesia del Salvador (Capilla de Jesús de la Pasión), Basilica del Gran Poder, Basilica de la Esperanza Macarena, Iglesia de San Antonio Abad, Capilla de los Marineros (Esperanza de Triana), Capilla del Patrocinio (Cristo de la Expiración).

Kirche in Santiponce:
Kloster San Isidoro del Campo: erbaut in der in Andalusien üblichen Mischung aus Gotik und Mudéjarstil, im Innern trotz vieler Verluste eine Fülle großartiger Kunstwerke: Fresken wie das gigantische Abendmahlsbild im Refektorium, die Engelsscharen der Deckenfresken oder das verschlungene Labyrinth im Kreuzgang, alles wird überstrahlt durch das frühbarocke Meisterwerk des genialen Martínez Montañés aus dem Jahr 1609 - den perfektesten Hochaltar der spanischen Kunstgeschichte.

Eintritt frei (wieso eigentlich?)

Öffnungszeiten: Von Oktober - März: montags + dienstags geschlossen, Mi. + Do. von 10:00 bis 14:00 Uhr. Fr. + Sa. von 10:00 bis 14:00 Uhr und 16:00 bis 19:00 Uhr, So. von 10 bis 15 Uhr. Von April - September: montags + dienstags geschlossen, Mi. + Do. von 10:00 bis 14:00 Uhr, Fr. + Sa. von 10:00 bis 14:00 Uhr und 17:30 bis 20:30 Uhr, So. von 10:00 bis 15:00 Uhr.

https://es.wikipedia.org/wiki/Monasterio_de_San_Isidoro_del_Campo

http://www.juntadeandalucia.es/culturaydeporte/agendaandaluciatucultura/evento/visitas-san-isidoro-del-campo

Kirche Virgen de la Granada in Guillena: bescheidene Dorfkirche im Mudéjarstil, meist geschlossen. http://www.guillena.org/opencms/opencms/Guillena2/home.jsp

Unterkünfte
Pilgerherberge in Sevilla: "Albergue Triana", C. Rodrigo de Triana, Tel. 954-459960, Groß, günstige Lage, mit Küche und Internet, freundliche Aufnahme. Übernachtung 12 Euro. www.trianabackpackers.com

Pilgerherberge in Guillena: private Herberge "Luz del Camino", an der Hauptstraße kurz vor "El Poli" (s.u.), Tel. 955-785262. Mit Küche, Waschmaschine und Trockner, Internet, Aufenthaltsraum mit Fernseher. Übernachtung mit Frühstück 12 Euro. contacto@albergueluzdelcamino.es

Verpflegung
Restaurant "El Poli" in Guillena: an der Hauptstraße oberhalb der Herberge, gutbürgerlich, besonders zu empfehlen "Berenjenas con Salmorejo" (frittierte Auberginen mit kalter Tomatencreme).



Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

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