ed 10/2012 : caiman.de

kultur- und reisemagazin für lateinamerika, spanien, portugal : [aktuelle ausgabe] / [startseite] / [archiv]


[kol_2] Grenzfall: Fußballtempel 2.0 - Maracanã reloaded
 
Das erste Mal Maracanã, Endspiel der "Taça Guanabara" zwischen Flamengo und Fluminense, 21. Februar 2004. Flamengo siegt mit 3:2, tolle Stimmung im Stadion. Die Eintrittskarte ist zwar angegilbt, aber ich habe sie noch: Einfacher Sitzplatz, "Cadeira Comum", Sektor A, Reihe 13, Sitzplatz 004.

Die ganze Zeit hatte ich angstvoll auf die über mir liegenden Ränge geschaut. Mein Papa hatte mir erzählt, dass die Sportfans dort lieber in eine Plastiktüte pinkeln statt den eroberten Platz für einen Toilettengang aufzugeben. Danach, so mein Dad, würden sie die prallen Tüten auf die unteren Ränge hinab schleudern.



Ich erinnere mich an die riesigen Fahnen der beiden Fanblöcke, an das Waschküchenklima. Zweimal liegt Flamengo vorne, zweimal gleicht Fluminense aus. Dann schlägt Flamengo noch einmal zu und der Hexenkessel tanzt und tobt. Ich frage mich derweil, wieso schräg hinter den Toren Telefonzellen stehen. Einmal, wenn ich mich richtig erinnere, hat Romário ein Tor geschossen und dann zum Jubel den Hörer abgenommen. Ob wohl jemand dran gewesen ist?

Danach wird der Fußballtempel Maracanã umgebaut, für die Panamerikanischen Spiele 2007. Viel Geld kostet die Modernisierung, viel Geld versickert in dunklen Kanälen. Achtmal so teuer wie geplant werden die PanSpiele. Kein gutes Omen für die Zukunft, meinen viele. In 2008 jährt sich dann zum 50. Mal der erste WM-Titel der Brasilianer. Ich treffe Mário "Lobo" Zagallo, Weltmeister als Linksaußen 1958 und 62, als Trainer Weltmeister 1970 und WM-Zweiter 1998, Weltmeister als Assistent 1994. Da kommt selbst Beckenbauer nicht mit.



Zagallo erzählt von der WM 1950 in Brasilien, zu der das Maracanã gebaut wurde. Das entscheidende Spiel Brasilien gegen Uruguay, kein Finale, wie manche glauben - der Weltmeister wurde damals unter den letzten vier Mannschaften in einer Gruppenphase ausgespielt. Brasilien hätte ein Unentschieden gereicht, um die Gruppe und damit den Titel zu gewinnen. Uruguay musste gewinnen.

200.000 Menschen drängen sich damals in dem Tempel. Zagallo ist als junger Soldat im Stadion, er soll für Sicherheit sorgen. Als Uruguay das 2:1 schießt, steht er mit dem Rücken zum Spielfeld. Er sieht das Entsetzen in den Augen der Menschen, hört die absolute Stille, die sich über das Stadion senkt. Hinter ihm muss etwas Grausames vor sich gehen. Es ist eine nationale Tragödie, bis heute. Brasiliens Nationalstolz hängt seitdem stets am seidenen Faden, nur Siege sind erlaubt.



"Estádio Jornalista Mário Filho" steht auf meiner Eintrittskarte. Offiziell ist das Maracanã nach dem Sportreporter aus den 40er und 50er Jahren benannt, damals eine Legende, Bruder des Schriftstellers Nelson Rodrigues, ebenso fußballverrückt. Rodrigues hat ihn als erster benannt, den "complexo de vira-lata", jenes Gefühl der Brasilianer, im Grunde allen anderen unterlegen zu sein. Zu diesem Schluss hatte ihn ausgerechnet die Niederlage gegen Uruguay geleitet.

Jetzt stehe ich inmitten einem halbfertigen Maracanã, unter Baukränen, neben Betonblöcken, grau in grau, die vielen Arbeiter laufen wie Ameisen in ihren blauen Arbeitsklamotten umher. Die riesige Schüssel liegt ohne Bedachung da, die soll in den nächsten Wochen aufgespannt werden, um die 79.000 Zuschauer vor dem unvermeidlichen Regen zu beschützen. Auch heute ist es grau und nieselt vor sich hin. In den Katakomben werden die VIP-Logen ausgebaut, am 28. Februar 2013 soll alles fertig sein.

Es werde eines der modernsten Stadien der Welt werden, sagen alle. Es ist wie ein Mantra. Hier soll am 13. Juli 2014 die größte Schlappe der Nation wettgemacht werden. Dann erwartet man Brasiliens Nationalteam im Endspiel. Genau hier, auf dem heiligen Rasen des Maracanã. Zuversicht rundum, klar werde man Weltmeister. Was die Uruguayer darüber wohl denken? Oder die Argentinier - ist das Land darauf vorbereitet, Messi mit dem WM-Pokal zu sehen?



Vorsorglich hat die FIFA wohl auf Drängen der Brasilianer den WM-Spielplan geändert. Ursprünglich sollte Brasilien erst in einem eventuellen Endspiel im Maracanã auflaufen. Das war wohl zu unsicher - jetzt spielt man bereits im Achtel- oder Viertelfinale in Rio. Sicher ist sicher. Nahe des Stadions vegetiert ein kleiner Kanal vor sich hin, eher ein Abwasserbecken. "Maracanã" heißt das Flüsschen, daher wohl der Name. Auf meiner Eintrittskarte von 2004 steht noch der Preis: 5 Reais, weniger als 2 Euros. Auch das wird es in Zukunft wohl nicht mehr geben.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 10/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]


© caiman.de: [impressum] / [disclaimer] / [datenschutz] / [kontakt]