caiman.de 10/2006

[kol_3] Amor: Grau in Grau

Der alte Mann scheint auf jemanden zu warten. Oder zumindest auf irgendetwas. Reglos sitzt er auf einem hölzernen Stuhl im Halbdunkel des Eingangsbereiches des Hostals und starrt auf die Schwingtür vor ihm. Ein Bein hat er auf die Zwischensprosse gestellt und seine Hände sind gefaltet. Als ob er gerade beten würde. Die Augen in seinem wettergegerbten Gesicht glänzen und ab und an fällt eine Träne auf sein Knie herab. Im Haus ist es still. Man hört kein Zimmermädchen, keine Köchin, ja selbst die umtriebige Inhaberin lässt sich nicht blicken. Dem Mann scheint dies alles nichts auszumachen. Er sitzt aufrecht in seiner Position und wartet, dass die Tür endlich aufgehen mag. Dennoch, nichts dergleichen geschieht. Nur die tickende Wanduhr durchbricht die Stille. Was wohl in ihm vorgehen mag?

Seinen Körper durchfährt ein heftiges Zucken, als es draußen plötzlich knallt. Er erhebt sich und bewegt sich langsam auf die Schwingtür zu. Greift nach der Klinke, drückt sie nach unten und öffnet einen Flügel.

Ein angenehm kühler Luftzug dringt in den Innenraum und er tritt hinaus ins Freie. Die Morgensonne blendet, aber seine alten Augen gewöhnen sich recht schnell daran. Doch unmittelbar vor dem Haus ist nichts zu sehen. Was den Knall wohl ausgelöst hat, bleibt ihm verborgen bleiben.

Er macht sich auf den Weg, durchquert den Vorgarten zum Tor. Der morgendliche Duft erinnert ihn an seine Jugend. Wie gerne war er morgens mit seiner Frau Spazieren gegangen, doch seit sie tot ist, fehlt ihm jede Lust dazu. Und jemand anderen zu suchen, um mit diesem gemeinsam zu erleben, was vormals seiner Frau vorbehalten war, wollte er noch nicht. Durch das schmiedeiserne Tor gelangt er auf die sandige Straße und bemerkt sogleich den unablässigen Staub in seine Nase dringen. Er hält ihn am Leben. Die Kleinigkeiten, die man nie vergisst, die immer da waren und die immer da sein werden, geben ihm die Kraft und seinem Leben den Sinn, auch wenn die Zeiten sicherlich nicht einfacher geworden sind.

Er lässt sich treiben. Er begegnet einigen Arbeitern auf der Straße, die den grauhaarigen Mann freundlich grüßen und allmählich scheint auch der restliche Ort zu erwachen. An einer Straßenecke sieht er Campesinos, einfache Bauern, die versuchen, einen Esel zum Arbeiten zu bewegen. Er schaut dem Treiben eine Weile lang zu und entschließt sich, dieser Szenerie beizuwohnen. Ruhig fragt er die beiden jungen Arbeiter, ob er vielleicht helfen könne.

Die Jungen wissen nicht genau, ob sie seine Hilfe annehmen sollen, aber schließlich bleibt ihnen keine andere Wahl, denn sie schaffen es partout nicht, das Tier auch nur einen Millimeter zu bewegen. Sie willigen ein.

Der alte Mann beginnt zu erzählen. Von seiner Jugend, von seiner Frau und auch davon, dass er immer in der Glaserei gewesen sei, wo er zusammen mit seinem Vater gearbeitet habe. Mit Tieren kenne er sich aus, sagt er noch. Er habe selbst so einige störrische Tiere zum Laufen gebracht, sie dabei aber nie geschlagen. Es gibt immer andere, bessere Methoden. Das hat er sich stets geschworen, nachdem er einmal einem Stierkampf beiwohnen musste und er zu dem einfachen Resultat kam, dass fünf tote Stiere in zwei Stunden zu viel seien. Der Mensch scheint daran gefallen zu finden, immer und immer wieder in alte Strukturen zu verfallen und nichts, aber überhaupt nichts zu lernen, dachte er damals bei sich.

Während er spricht, streichelt er dem Esel ganz zart und behutsam über den Kopf. Es ist ein hübsches Tier und es bräche ihm das Herz, wenn sie es gequält hätten. Die Augen sind rot unterlaufen und er schaut traurig an dem alten Herrn empor, aber er ist nicht lethargisch. Die Hand des alten Mannes bedeckt seine Augen und unablässig streichelt er seinen Kopf, bis der Esel schließlich einen leisen, aber scheinbar zufriedenen Laut von sich gibt.

Die Sonne wird stärker und die beiden Jungen wundern sich, was der alte Mann wohl mit dem Esel vorhaben mag. "Wohin müsst Ihr den Esel bringen?" Einer der beiden jungen Männer ergreift das Wort: "Wir müssen rauf nach Cachi, damit wir meine Familie am Pass für die Wintermonate mit den Decken versorgen können.

Die letzten Decken wurden im Sommer an Touristen verkauft, um sich ein wenig nebenher zu verdienen. Es ist nicht so einfach auf dem Berg gute Arbeit zu finden, geschweige denn, dass man viel verkaufen kann. Deshalb lebt meine Mutter auch viele Monate des Jahres alleine. Mein Vater hilft dann bei den verschiedenen Ernten mit, so dass sie sich vielleicht insgesamt vier Monate im Jahr sehen."
"Nun", antwortet der alte Mann, "dann müsst Ihr Euch ja richtig beeilen, denn es wird bald Schnee geben in den Höhen und ihr braucht sicherlich mehrere Tage bis ihr Cachi zu Fuß erreicht.

Es sei denn, ihr findet zufällig jemanden, der Euch mit samt dem Esel hinauf nimmt. Zumindest einen Teil der Strecke. Allerdings kann es euch mit dem störrischen Tier auch passieren, dass ihr zwei Monate für die Strecke braucht!"

Die beiden schauen unbeholfen drein und wissen nicht, was sie antworten sollen. Der Alte aber hat in der Zwischenzeit unablässig den Esel getätschelt und ihn so Richtung Cachi gedreht. Beladen war er schon vorher und nach einem kleinen Klaps auf das Hinterteil, macht sich der Esel auf, die Straße entlang zu laufen. Die beiden Männer bedanken sich bei dem alten Mann, der ihnen noch viel Glück mit auf die Reise gibt und müssen sich beeilen, um mit dem Esel Schritt zu halten.

Text + Fotos: Andreas Dauerer