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[kol_3] Macht Laune: Reggaeton
1. Gib mir mehr / Dame más - 2. Daddy Yankee in Ekuador

1. Gib mir mehr / Dame más

Kuba, März 2005. Rechts und links hohe Hausfassaden, an denen die hellrosa Farbe abblättert. Aus dem oberen Fenster schallt das Heulen eines Kindes, eine Nachbarin ruft alle paar Minuten "Ruhe!". Zwei ältere Damen unterhalten sich lautstark über die Straße hinweg, von Balkon zu Balkon. Der Motor eines durch die Sonne hellgelb gebleichten Chevys knattert ruhelos. Ein paar Meter weiter, auf der Querstraße, schnaubt ein mit Bananen überladener LKW vorbei, an der Straßenecke ruft ein betagter Mann mit Zigarre "Maní, Maní". Übertönt wird das alles durch einen Musikrefrain. "Dame más Gasolina" hallt es gleichzeitig, wie durch ein Megafon gejagt, in allen Räumen, Straßenecken, Vierteln, in gesamt Havanna und auf der ganzen Insel.



Reggaeton ist eine Mischung zwischen Hip Hop, Rap, R&B, mit dem Rhythmus von House Music. Das Internetportal Reggaetonline.net definiert den Musikstil als "Music that is being played in Spanish with no English translation to accompany it”. Die Musiker heißen Tego Calderon, Don Omar, Luny Tunes oder auch Daddy Yankee mit seinem Album "Barrio fino". Die meisten Künstler sind männlich, die Königin des Reggaeton aber heißt Ivy Queen. Die 1972 geborene Puerto Ricanerin lebte einige Jahre in New York, ehe sie zurück nach Mittelamerika kam. Das erste Album von Martha Ivelisse Pesante, ihr bürgerlicher Name, produzierte sie mit Sony. "En Mi Imperio" verkaufte sich auf anhieb über 100.000 Mal. Auch in ihrem zweiten Album "Original Rude Girl" setzt sie, statt auf grobe Sprache, auf Botschaft: Ihre Songs sprechen von Puerto Rico, vom Leben der Frauen und vom Missbrauch. Ihr drittes Album, "Diva" ist seit 2003 auf dem Markt.

Einfach nur die Straße entlanggehen - unmöglich. Die jungen Kubaner bewegen sich im Takt und singen mit. Man kann sich dem Rhythmus nicht entziehen, muss mittanzen: Die Arme schulterbreit auseinander, nach vorne gestreckt, die Ellenbogen leicht nach außen. Nun geben die flachen Handflächen den Takt an und zucken leicht vor und zurück. Kopf und die Schultern gehen mit. Der Körper hat den Rhythmus verinnerlicht. Der Reggaeton durchzieht die Adern wie die Straßen, macht sich in sämtlichen Städten und kleinen Dörfern Kubas breit, dringt überall durch, selbst in entlegenste Orte.

Die Musikrichtung Reggae, Namensgeber und wichtiger Bestandteil des Reggaeton, wurde in den 70er Jahren in Jamaika geboren. Manche Quellen gehen davon aus, dass der Reggae nach Panama kam, als viele Jamaikaner zum Bau des Panama-Kanals übersiedelten. In den frühen 90er Jahren mischte sich die Musik in Puerto Rico mit dem Rap aus den USA und es entstand eine Latins-Anglo-Mischung, die die Multikulturalität Puerto Ricos widerspiegelt.

Inhaltlich geht es im Reggaeton, der "working-class popular music" meist um Liebe, Leidenschaft und dem Leben auf der Straße - ebenso wie Hip Hop, der ebenfalls vom täglichen Leben und den Problemen handelt, assoziiert der Reggaeton eine Untergrund-Bewegung der Jugendlichen.


Noch ist diese Musik nicht überall in Lateinamerika verbreitet. Und so schreibt Naty aus Uruguay bei Reggaetonline: "Yo soy uruguaya y este tipo de musica no se escucha, cuando vine para USA empece a escucharla y ahora me gusta mucho..."

Zudem spricht der Reggaeton auch eine Zielgruppe an, die bisher nicht viel mit spanischsprachiger Musik zu tun hatte, wie beispielsweise Cee: "I'm African-American and I've jus recently heard about Reggaeton and I`m in love with it… Even though I don`t know what they are saying (lol) it just sounds so nice!”

Reggaeton passt einfach in die heutige Zeit: Der Takt, die Musik, die Künstler. Zu den ersten Sängern zählen El General, Vico C und Tempo, sowie William Omar Landrón, besser bekannt als Don Omar. Spanische Phrasen, eine vulgäre, schroffe Sprache, schallen in immer gleichem Rhythmus ins Ohr, begleiten einen durch den genau so schnellen Alltag. Übersättigt vom englischen Rap oder House ist Reggaeton der Ausweg, und zu jeder neuen Reggaeton-Welle gibt es einen neuen Tanzstil: Zu Liedern der Gruppe "Cubanito 2002" vor etwa zwei Jahren war die Hüftbewegung der Clou, jetzt ist der Oberkörper in Bewegung. Während Europa noch nach den alten Regeln tanzt, entsteht in Kuba vielleicht schon wieder ein ganz neuer Trend.

Hamburg, Juni 2005. Über 8.000 Kilometer entfernt von Kuba auf der Tanzfläche einer Diskothek - es ist erst kurz vor elf. Die ersten Takte eines neuen Liedes sind zu vernehmen. "Ist das nicht `Pobre Diabla´ von Don Omar?" fragt eine Frau, die auf einmal ihre Arme nach oben reißt. Ihr hellrosa T-Shirt trägt schon jetzt unter den Armen zwei dunkle Flecken. Mit der Hand fährt sie sich durch die langen braunen Locken. Es ist heiß - doch immer mehr Frauen und Männer, gerade noch an der Bar, stellen ihre Bierflaschen ab und drängeln sich in die Mitte der Tanzfläche. Das rosa Shirt zuckt im Takt immer hin und her, die Augen sind geschlossen, die Wangen glühen. Das Lied wird schneller, die rechte Hand boxt als Faust gen Himmel, ekstatisch tanzt sie ohne ihr Umfeld wahrzunehmen. "Llorando por un hombre que no vale ni un centavo", grölt neben ihr auch ein braun gebrannter Mann um die 25.



2. Daddy Jankee in Ekuador

Umgehend nach seiner Nominierung für die MTV-Musik-Awards in Miami besuchte Daddy Jankee, der stolzer Besitzer von fünf Platinalben ist, Ekuador. Zwei Konzerte standen auf dem Tourplan. Zum Auftakt spielte er am Freitag, den 2. September in der Hauptstadt Quito.

Um 20 Uhr soll das Konzert im Kolosseum Rumiñahui nahe der amerikanischen Botschaft beginnen. Es ist erst 17 Uhr, doch schon seit Stunden reihen sich junge Ekuadorianer im Alter von 14 bis 20 Jahren vor den Toren ein, um die besten Plätze zu ergattern. Die preiswertesten Karten für das Konzert kosten 18 Dollar, viel Geld für die Einwohner des wirtschaftlich und politisch angeschlagen Ekuadors. Viele der Fans mussten, um sich den Eintritt leisten zu könne, über Monate hinweg sparen.

Polizisten bewachen die geordnete Menschenschlange. Die Jugendlichen verhalten sich nach wie vor ruhig, obwohl sie bereits seit Stunden warten. Nur Reaggeton-Musik, die aus vorbei fahrenden Autos herüber schallt, bringt die Wartenden in Bewegung.



Eine Stunde vor Konzertbeginn. Im Stadion selbst, die oberen Ränge sind bereits vollständig gefüllt, während auf den besseren unteren noch etliche Plätze frei sind, ist es mit der Ruhe und Gelassenheit vorbei. Die Vorfreude versetzt viele Besucher in aufgeregte Partystimmung. Die Masse begleiten jeden einzelnen Takt, der von Daddy Jankees Musik zu Testzwecken eingespielt wird, mit wildem Gekreische.

Was dann passiert, können weder die zahlreichen uniformierten Wächter, noch der Gitterdraht zwischen den oberen und den unteren Reihen verhindern: Zunächst geht ein Raunen, dann ein Schreien durchs Stadion als erst einige wenige, bald aber immer mehr Ekuadorianer versuchen, über den Zaun auf die unteren Sitze zu gelangen.


Die Uniformierten können den Massen nichts entgegensetzen. Nach und nach springen Jungen und Mädchen auf die besseren Plätze und immer mehr strömen nach. Alles was für sie zählt, ist näher bei ihrem Idol sein zu können. Als die unteren Ränge gefüllt sind, beruhigt sich der Aufruhr - für Minuten. Nun meint die Polizei einschreiten zu müssen unter Zuhilfenahme von Tränengas. Zuschauer - Eindringlinge wie auch diejenigen, die in Besitz von teuren, regulären Eintrittskarten sind - flüchten panikartig nach rechts und links zu den Ausgängen. Erst als sich das Gas verflüchtigt hat und sich die Ränge wieder füllen, kann das Konzert beginnen.

18.000 verkaufte Karten für ein Stadion, das 25.000 Menschen fasst – und das in Anbetracht der horrenden Preise. Die Stimmung ist riesig, das Kolosseum kocht, die Ekuadorianer feiern Daddy Jankee. Einem sich kräuselnden Meer mit mittlerem Wellengang gleicht die Bewegung der Menschenmasse, die ohne Unterbrechung zum Takt tanzt und singt.



Denn anders als im europäischen Ausland, wo nur einige, wenige Lieder des Künstlers bekannt sind, wie "Machete", "Lo que pasó, pasó" oder "Gasolina", die der Künstler an diesem Tag erst gegen Ende spielt, kennen die jungen Ekuadorianer jedes Lied und begleiten es lautstark Wort für Wort. Bis 22:30 Uhr begeistert der Künstler, der mehr als 50 CDs in Puerto Rico und im Ausland produziert hat, sein Publikum. Dann ist Schluss.

Am darauf folgenden Abend spielt Daddy Jankee im Estadio Modelo in Ekuadors größter Stadt Guayaquil. Der Erfolg gleicht dem der Hauptstadt – das Publikum tobt. Wie hoch die ekuadorianischen Fans ihren Liebling einschätzen, erkennt man daran, dass nach dem für die WM-Qualifizierung 2006 wichtigen Sieg der ekuadorianischen Fussball-Mannschaft über Bolivien dem Künstler, der ebenso in Merengue und Salsa bewandert ist, ein Trikot in den nationalen Farben gelb, blau und rot überreicht wird.

Text + Fotos: Sarah Lindner